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Hoffen und Bangen Syrien nach dem Machtwechsel

Anita, du berichtest seit vielen Jahren aus Syrien und warst oft vor Ort. Wie hast du den Sturz Assads erlebt?

Foto: Anita Starosta / medico international

So richtig realisiert habe ich das erst, als sich die Türen der Foltergefängnisse geöffnet haben und man Bilder von Inhaftierten gesehen hat, die befreit wurden. Zehntausende haben jahrelang kein Licht gesehen, systematische Folter und das absolute Grauen überlebt. Gleichzeitig war ich im Kontakt mit Menschen aus den kurdischen Gebieten, wo der Sturz des Regimes ebenfalls gefeiert wurde, aber Angst und Ungewissheit schnell überwogen haben. Besonders vor den Übergriffen der türkisch gestützten SNA (Syrian National Army) Milizen, die über hunderttausend Kurd*innen gewaltvoll vertrieben haben. Erdogan hat unmittelbar nach der Machtübernahme im Dezember durch die Oppositionsmiliz HTS eindeutige Kriegsdrohungen an die kurdische YPG in Syrien gerichtet. 

Wie groß ist die Gefahr eines türkischen Angriffs?

Die Gefahr ist noch nicht gebannt. Die Stadt Manbidsch, westlich des Euphrats, wurde von der SNA eingenommen, Kobane ist weiter unter Beschuss. Die Zerschlagung der kurdisch geprägten Selbstverwaltung in Nordostsyrien ist seit vielen Jahren ein erklärtes Ziel von Erdogan. Zentral für diese Region ist auch, ob das US-Militär vor Ort bleibt und so eine türkische Militärinvasion verhindert werden kann. Die USA war in der Vergangenheit die Schutzmacht für die Kurd*innen. In seiner letzten Amtszeit hat Trump 2019 die US-amerikanischen Panzer von der Grenze Nordsyriens abgezogen; daraufhin ist die Türkei mit ihren Söldnern einmarschiert. Wie sich die erneute Präsidentschaft Trumps auf die Region auswirkt, bleibt abzuwarten. Bereits jetzt führt das Einfrieren der US-Auslandshilfen zu katastrophalen Zuständen bei der Versorgung in Flüchtlingslagern.

Wie schätzt du die Lage für Minderheiten und Frauen ein?

Darauf wird es ankommen: werden Frauen, religiöse und ethnische Minderheiten unter der islamistischen HTS-Regierung ihre Rechte haben? In den ersten Tagen nach dem Sturz kam es zum Beispiel zu Racheaktionen gegen Alawiten, auch andere Minderheiten berichten von willkürlichen Verhaftungen. Das wird vor Ort, auch von Menschenrechtsgruppen, die nun frei arbeiten können, genau beobachtet und dokumentiert. In den kommenden Monaten wird sich zeigen müssen, ob die HTS-Führung Regierung und Parlament nicht nur aus ihren ehemaligen Kämpfern aufstellt. Wir unterstützen in Idlib ein Frauenzentrum, das in den letzten Jahren unter HTS-Herrschaft Frauenrechtsarbeit gemacht hat. Die Aktivistinnen haben Repression und Rückschläge erfahren. Gerade haben sie aber
eher das Gefühl, sie können mehr erreichen, weil die neue Regierung im medialen Fokus steht, und machen selbstbewusst Druck von unten. Sie wissen aber auch, dass sich das schnell ändern kann. Die große Frage ist, wie das Abkommen zwischen den Selbstverteidigungseinheiten der Kurd*innen und der HTS aussehen wird. Die kurdische Bevölkerung wird über die letzten zwölf Jahre erkämpfte Autonomie und Rechte nicht abgeben, das ist sicher. Sie müssen Teil eines neuen, freien Syriens werden.

Die HTS-Regierung hat sich eine Übergangszeit von vier Jahren gesetzt, bis es zu Neuwahlen kommen soll. Wie bewertest du das?

Das ist eine Machtsicherung ihrerseits. Die spannende Frage wird sein, ob sich in dieser Zeit eine demokratische Zivilgesellschaft von unten durchsetzen kann. Diese reorganisiert sich gerade und hat eine Idee davon, wie man demokratische Komitees organisiert, Gleichberechtigung der Minderheiten schafft und Frauenrechte durchsetzt. Diese Menschen sollten nun besonders unterstützt werden, damit sie in der Übergangszeit Einfluss auf eine neue Regierungsbildung haben können. Die Bundesregierung sollte deswegen auch mit diesen Akteur*innen und nicht nur mit der neuen HTS-Regierung verhandeln. Gleiches gilt für die Kurd*innen im Nordosten. Die dortige Selbstverwaltung versucht seit vielen Jahren, als anerkannter Akteur Teil einer Neugestaltung Syriens zu werden. Man sollte jetzt einen Schritt auf sie zugehen, weil sie seit zehn Jahren eine demokratische Alternative in der Region aufbauen, in der es Gleichberechtigung gibt.

Wie hast du die unmittelbar nach Assads Sturz aufgekommene Abschiebedebatte wahrgenommen?

Mich macht sprachlos, wie Politiker*innen überhaupt direkt in die Debatte über Rückführungen einsteigen können, statt gemeinsam mit den Exilsyrer*innen in so einem historischen Moment zu feiern. Das ist inakzeptabel und inhuman. In Syrien besteht ein riesiger Bedarf an Wiederaufbau; die Menschen vor Ort können jetzt zwar wieder in ihre Heimatorte zurück, aber viele finden kein Haus mehr vor. Im Land leben Millionen Binnenvertriebene in Flüchtlingslagern. Man kann von niemandem verlangen, jetzt sofort zurückzugehen, wenn der Wiederaufbau noch Jahre dauern wird und eine politisch extrem instabile Lage herrscht. Und in dieser Situation wurden sogar Asylgesuche für Syrer*innen ausgesetzt – das muss sofort zurückgenommen werden.

Anita Starosta ist Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Attac-Mitgliedsorganisationmedico international. Ihre Schwerpunkte sind die Türkei, Nordsyrien und der Irak. Von Ende Januar bis Anfang Februar war sie in Rojava und Damaskus.

Das Gespräch führte David Siegmund-Schultze, Praktikant im Attac-Bundesbüro.

Alle Texte aus dem Attac-Rundbrief 01/2025