Menü

Tipp: Studie zum EU-Lobbyismus

Mit seiner aktuellen Veröffentlichung durchdringt das Netzwerk für Lobbytransparenz, ALTER-EU, die düstere Welt des Konzern-Lobbyismus in Brüssel und kennzeichnet notwendige Reformen. Das Buch liegt nur in englischer Sprache, dafür jedoch zum kostenlosen Runterladen vor.

Wie kam es, dass die EU-Chemikalienrichtlinie „REACH“ nicht wie geplant die VerbraucherInnen vor Giften in Alltagsgegenständen schützt, sondern die Chemieindustrie vor neuen Kosten? Wer steckt hinter der handelspolitischen Strategie der EU, die weltweit Schranken für europäische Konzern niederreißt und ihre Eigentumsrechte durchficht? Und wie kommt es, dass die EU auch nach der größten Finanzkrise aller Zeiten weiterhin auf eine laxe Finanzmarkt-Regulierung setzt?

Ein neues Buch des europaweiten Netzwerks ALTER-EU gibt auf diese und ähnliche Fragen eine klare Antwort: Die Lobbyisten waren's.

Aus dem Inhalt

TitelseiteGeschätzte 15.000 Lobbyisten tummeln sich auf den Fluren der Brüsseler EU-Institutionen – 70 Prozent davon im Auftrag von Konzernen, Industrieverbänden und ihnen nahestehenden Lobbyagenturen. Gerade einmal 20 Prozent setzen sich für breitere gesellschaftliche Interessen wie Menschen- und Arbeitsrechte, Umwelt- und Klimaschutz, Anti-Diskriminierung oder wirtschaftliche Entwicklung im globalen Süden ein. Und das mit ungleich weniger Ressourcen als die Gegenseite: Allein der europäische Verband der chemischen Industrie CEFIC beispielsweise verfügte 2009 über ein Budget von 44 Millionen Euro. Organisationen wie Friends of the Earth, dem Bund für Umwelt und Naturschutz auf europäischer Ebene, dürfte das die Tränen in die Augen treiben.

Im Buch „Bursting the Brussels Bubble. The battle to expose lobbying at the heart of the EU“ („Die Brüsseler Blase platzen lassen. Die Schlacht um die Offenlegung von Lobbyismus im Herzen der EU“) zeigen Aktivistinnen und Aktivisten des ALTER-EU Netzwerks, wie sich diese Lobbyisten an Schlüsselstellen der EU-Entscheidungsprozesse einschalten.

Zum Beispiel über so genannte Expertengruppen. Davon gibt es über 1.000, die von der EU-Kommission zu Beginn eines Politikprozesses eingesetzt werden, um die groben Linien vorzugeben. Der Großteil von ihnen setzt sich aus VertreterInnen nationaler Regierungen zusammen. Aber diejenigen mit externen Mitgliedern werden von der Industrie dominiert. Nach Ausbruch der Finanzkrise beispielsweise gab es eine Gruppe, in der fünf von acht Beteiligte aus dem Finanzsektor stammten und sicherstellten, dass Banken und Hedge Fonds auch in Zukunft ja nicht zu streng reguliert werden. Multis wie Vattenfall sitzen momentan in einer Expertengruppe zu „sauberen“ Kohle-Technologien. So können sie selbst EU-Forschungsgelder in ihre umstrittenen „CCS“-Projekte lenken, die durch Kohleverbrennung freigesetztes CO2 abspalten und im Boden speichern sollen. In Brüssel ist das erschreckende Normalität.

Ähnliches gilt für Interessenkonflikte. Ein Spezialberater der Kommissarin für Verbraucherfragen, der auch für Microsoft und den Pharma-Riesen Pfizer arbeitet und ein Beamter der Kommission, den als Lobbyisten getarnte Journalisten als korrupt entlarven, der dafür aber nicht bestraft wird – das ist Alltag in der Hauptstadt der EU. Gerade sind vier hochrangige Politikerinnen aus der letzten EU-Kommission zu Konzernen gegangen, die sie vor Kurzem noch regulieren sollten: ex Industrie-Kommissar Verheugen zur Royal Bank of Scotland, die ehemalige Frau für Außenbeziehungen Ferrero-Waldner zum Versicherungsriesen Münchner Rück, ex-Binnenmarkt-Kommissar McCreevy zu Ryanair und die ehemalige Verbraucherschutz-Kommissarin Kuneva zur französischen Bank BNP Paribas. Bei ähnlichen Aktionen von ex-Kanzler Schröder nach seiner Amtszeit hagelte es in Deutschland Vorwürfe von „Korruption“ (Dirk Niebel) und „lupenreiner Vetternwirtschaft“ (Reinhard Bütikofer). In Brüssel herrscht aber Schweigen im Walde. Und Lobbyfirmen werben ungeniert mit Stundenlöhnen von 500€ um die anderen ex-Mitglieder der Kommission.

Ermöglicht wird das durch laxe Verhaltenskodizes in den EU-Institutionen sowie eine politische Kultur, in der es zur Normalität geworden ist, dass Unternehmen und Wirtschaftsverbände hinter geschlossenen Türen an politischen Entscheidungen mit stricken. Hinzu kommt die fehlende kritische EU-Berichterstattung. Wo weder Zeit noch Geld in investigativen Journalismus investiert werden, bleiben Artikel, die die maßgeschneiderten Zitate der PR-Profis in den EU-Institutionen einfach nur kopieren – so das Urteil eines Journalisten in „Bursting the Brussels Bubble.“

Glücklicherweise stellt das Buch aber nicht nur die düstere Welt des EU-Lobbyismus dar. Es macht auch Mut. Zum Beispiel, weil es deutlich macht, das lobbykritische Aktionen in der EU zumindest Teilerfolge erzielen konnten. Die reichen von der Entlassung von besonders konzernnahen Beratern der Kommission über den Rausschmiss einer Gruppe von Konzernvertretern und EU-Abgeordneten aus dem Europäischen Parlament bis zur Einführung eines Lobbyregisters. Ein ähnliches, allerdings weniger löchriges Register in den USA ermöglicht es dort, nachzuvollziehen, wer mit welchen Ressourcen für oder gegen welches Gesetze mobil macht. Ohne eine solche Transparenz wird es weder eine breite gesellschaftliche Debatte noch ein weitreichendes Zurückdrängen des Einflusses von Kapitalinteressen auf EU-Politiken geben.

Das Buch schließt mit zehn politischen Forderungen, die die nächsten Schritte auf diesem Weg skizzieren. Die Einführung eines verbindlichen Lobbyregisters wird da ebenso genannt wie die Verpflichtung von EU-Entscheidungsträgern, im öffentlichen Interesse zu agieren und diejenigen Gruppen, die dafür eintreten, stärker am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Dazu bedarf es jedoch viel mehr Menschen, die sich für eine andere Art der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene einsetzen. Für alle diejenigen, die das schon tun oder für die Zukunft vorhaben, ist „Bursting the Brussels Bubble“ Pflichtlektüre.