Gemeinsame Erklärung von 100+ Organisationen gegen das EU-Chile-Abkommen angestoßen von der Raw Materials Coalition and European Trade Justice Coalition
Voraussichtlich im Februar 2024 müssen die Mitglieder des Europäischen Parlaments über das EU-Chile-Abkommen abstimmen. Deshalb haben Attac Deutschland und 100 weitere Organisationen einen offenen Brief an die Europaabgeordneten geschickt, in dem sie sie auffordern, ihre Unterstützung für das Abkommen zu überdenken und dagegen zu stimmen. Im Folgenden die deutsche Version; auf englisch, französisch, spanisch ist die Erklärung hier zu finden.
Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments,
als besorgte Mitglieder europäischer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften möchten wir Sie dringend auf die bevorstehende Abstimmung über das fortgeschrittene Rahmenabkommen (AFA) zwischen der EU und Chile aufmerksam machen, die für den 24. Januar im EU-Handelsausschuss (INTA) und anschließend Ende Februar im Europäischen Parlament vorgesehen ist.
Auch, wenn wir die Bedeutung einer vertieften Beziehung zwischen der EU und Chile anerkennen, müssen wir doch unsere tiefe Besorgnis über die Auswirkungen dieses Abkommens zum Ausdruck bringen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechte und Umwelt sowie auf die Fähigkeit Chiles, seinen Rohstoffen einen Mehrwert zu verleihen. Tatsächlich wird das AFA die Ausbeutung von Rohstoffen erhöhen und gleichzeitig den politischen Spielraum Chiles für die Nutzung seiner natürlichen Ressourcen und Rohstofflieferketten verringern. Dieses Abkommen fördert nicht-nachhaltige und ungerechte Produktions- und Austauschmethoden, die darauf ausgerichtet sind, neokoloniale Handelsbedingungen zu stärken, denn:
Das AFA wird den unverantwortlichen Bergbau und seine sozialen und ökologischen Folgen verstärken, ohne dass ausreichend Schutzmechanismen zur Verfügung stehen.
Chile verfügt über mehrere Rohstoffe, die von der EU als strategisch und kritisch eingestuft werden, wie z. B. Lithium und Kupfer. Das AFA, genauer gesagt das Interims-Freihandelsabkommen (iFTA), wird den Handel mit Rohstoffen erheblich steigern, da durch das Abkommen alle Zölle und Ausfuhrabgaben sowie die technischen Handelshemmnisse auf chilenischer Seite wegfallen werden. Es ist daher zu erwarten, dass die Bergbauaktivitäten in Chile deutlich zunehmen werden. Der Bergbau ist ein konfliktträchtiger Wirtschaftszweig. Die Lateinamerikanische Beobachtungsstelle für Bergbaukonflikte hat bisher 49 Konflikte im Zusammenhang mit Bergbauprojekten in Chile gezählt. Zusammen mit den Umweltauswirkungen des Bergbaus (u. a. Verschärfung der Wasserkrise, Verlust der biologischen Vielfalt, Verschmutzung) werden diese Konflikte verschärft, wovon insbesondere die lokalen und indigenen Gemeinschaften betroffen sind, die oft in der Nähe der Bergbaustandorte leben und von Subsistenzlandwirtschaft und Weidewirtschaft abhängig sind. In der Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung der EU, die zu dem Schluss kommt, dass der Lithiumabbau erhebliche nichtwirtschaftliche Auswirkungen hat, wird dies ausdrücklich benannt: "In Anbetracht des erwarteten Anstiegs der Nachfrage nach Lithium und der Investitionen der EU in diesem Sektor könnten sich die oben beschriebenen Auswirkungen noch verstärken". Entsprechend war die größte Sorge der zu den erwarteten Auswirkungen des Abkommens zwischen der EU und Chile auf die SIA befragten Interessengruppen auch die Ausweitung der sogenannten (Umwelt-)Opferzonen in Chile.
Dennoch sieht das AFA keine wirksamen und durchsetzbaren Schutzmechanismen vor; es gibt keine Verpflichtungen zur Einhaltung der ILO169 und des Rechts indigener Gemeinschaften auf freie, vorherige und informierte Zustimmung, wie sie in der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker (UNDRIP) aufgeführt sind und vom UN-Berichterstatter bei seinem jüngsten Besuch in Chile empfohlen wurden. Das Gleiche gilt für wichtige internationale Menschenrechts- oder multilaterale Umweltabkommen. Das Kapitel Handel und nachhaltige Entwicklung (TSD) ist nichts weiter als eine Absichtserklärung und guter Wille. Die vorgeschlagene Revisionsklausel des TSD-Kapitels ist ebenso wie die gemeinsame Erklärung zur nachhaltigen Entwicklung allgemein und vage formuliert, so dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass in Zukunft durchsetzbare Schutzklauseln aufgenommen werden. Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass das AFA anstelle einer obligatorischen Sorgfaltsprüfung für Bergbauunternehmen einen Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus enthält, der ausländischen Unternehmen das Privileg gibt, Chile (aber auch die 27 EU-Mitgliedstaaten) vor einem internationalen Schiedsgericht zu verklagen, zu dem nur Investoren Zugang haben. Dieses Kapitel umfasst auch den Schutz für "Investitionen in fossile Brennstoffe oder andere Aktivitäten, die der Umwelt und den Menschenrechten erheblichen Schaden zufügen", und für die das EP im INI-Bericht vom Juni 2022 einen Ausschluss empfahl.
Das AFA wird die Absicht Chiles, seinen Rohstoffen einen Mehrwert zu verleihen, NICHT unterstützen, sondern vielmehr seine industrielle Entwicklung untergraben.
Das iFTA zwischen der EU und Chile enthält in seinem Kapitel über Energie und Rohstoffe (ERM) Bestimmungen zur Sicherung des EU-Zugangs zu Lithium, Kupfer und anderen Rohstoffen, die Chiles Kapazitäten zum Aufstieg in der Rohstoffwertschöpfungskette stark beeinträchtigen werden. Obwohl die Kommission die Klauseln als vorteilhaft für Chile dargestellt hat, erzählt das ERM-Kapitel eine andere Geschichte. Denn:
- Es verbietet Ausfuhr- und Einfuhrmonopole für Rohstoffe, schränkt die derzeitige Doppelpreispolitik in Chile ein - derzeit behält Chile 25% der Produktion für lokal ansässige Unternehmen zu Vorzugspreisen vor - und verpflichtet Chile, keinerlei Ausfuhrbeschränkungen gegenüber EU-Unternehmen anzuwenden.
- Die in dem Abkommen vorgesehenen Ausnahmen, die es Chile ermöglichen, "Maßnahmen zur Förderung der Wertschöpfung durch die Versorgung der Industrie mit Rohstoffen zu Vorzugspreisen (...) einzuführen oder beizubehalten", werden durch die in Anhang II festgelegten Bedingungen stark eingeschränkt. Sie legen nämlich einen sehr konkreten Schwellenwert für die doppelte Preisgestaltung fest. So darf der Präferenzpreis "nicht unter dem niedrigsten Preis liegen, der in den vorangegangenen zwölf Monaten für Ausfuhren derselben Ware erzielt wurde". Anstatt also die industrielle Entwicklung Chiles zu fördern, wird mit diesen Klauseln die weitere Wertschöpfung im Lande eingeschränkt.
- Mit dem Abkommen werden alle Arten von Zöllen und anderen Ausfuhrabgaben, die Chile derzeit erhebt, abgeschafft. Auf Kupfer beispielsweise erhebt Chile einen Ausfuhrzoll von bis zu 8%, der eine wichtige Einnahmequelle für den Steuerhaushalt des Landes darstellt. Die Abschaffung all dieser Zölle und Abgaben schafft weitere Anreize für die Rohstoffgewinnung und ist ein Anreiz für die Unternehmen in diesem Bereich, während dem Land praktisch keine Einnahmen verbleiben.
Durch diese Bestimmungen wird die Chiles Fähigkeit, in der Wertschöpfungskette der grünen/sauberen Technologien aufzusteigen, ernsthaft behindert. Tatsächlich sieht die SIA einen Rückgang der Beschäftigung im Maschinenbau um fast 3% vor - ein Sektor mit traditionell guten Arbeitsbedingungen, der für Chiles Bemühungen um eine gerechte grüne Transformation von entscheidender Bedeutung ist. Dies ist eine Fortsetzung der bestehenden ungleichen Handelsstrukturen und erinnert an die Handelsbedingungen aus der Kolonialzeit. Dies steht auch im Widerspruch zu den Verpflichtungen Europas und Chiles im Hinblick auf eine gerechte und nachhaltige Entwicklung für alle (SDG 2030 Agenda).
Das Abkommen zwischen der EU und Chile untergräbt die sozial-ökologische Transformation in Chile und widerspricht dem Europäischen Green Deal.
Das AFA zwischen der EU und Chile wird als wichtiges Instrument zur Umsetzung der grünen Transformation in der EU beworben. Gleichzeitig werden die sozialen und ökologischen Kosten für diese Transformation externalisiert. Während europäische Konzerne Zugang zu Energieressourcen erhalten, um so genannten grünen Wasserstoff zu produzieren und zu exportieren und Rohstoffe auszubeuten, haben lokale Gemeinschaften mit den negativen Folgen dieser Geschäfte zu kämpfen. Investoren können nämlich nicht zum Technologietransfer, zur Beschäftigung von lokalem Personal oder zu lokal produzierten Gütern verpflichtet werden, da dies im Kapitel über die Liberalisierung von Investitionen verboten ist. Gleichzeitig wird die Fähigkeit des Staates, zu entscheiden, wie er seine natürlichen Ressourcen reguliert, stark eingeschränkt. Wenn Chile seine Wirtschaft weiterentwickeln will und deshalb höhere Steuern z.B. auf Bergbauprodukte erhebt, Subventionen einführt, eigene Preise festsetzt und ausländischen Investoren Vorschriften oder Leistungsanforderungen auferlegt, würden diese Maßnahmen als (technische) Handelshemmnisse gelten und einen Verstoß gegen das Abkommen darstellen. Dies wiederum könnte Vergeltungsmaßnahmen der EU oder sogar kostspielige Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren nach sich ziehen.
Die Entwicklung einer sozial-ökologischen Transformation in Europa auf Kosten des ökologischen und sozialen Wohlergehens in Chile widerspricht dem übergeordneten Ziel des europäischen Green Deal, keinen Menschen und keinen Ort zurückzulassen, sowie den Bemühungen der EU zur Bekämpfung des Klimawandels. Wir können eine Klimakatastrophe nur verhindern, wenn wir den Klima- und Umweltschutz weltweit respektieren und so eine sozial-ökologische Transformation nicht nur in Europa, sondern auch in Chile und weltweit sicherstellen.
Die AFA fördert vor allem landwirtschaftliche Großbetriebe in beiden Regionen.
Dies wird sich negativ auf die Rechte der Bauern, wie sie in der UNDROP (Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Bauern und anderer in ländlichen Gebieten arbeitender Menschen) anerkannt sind, und auf das Klima auswirken, da mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse in die ganze Welt verschifft werden. Das Abkommen ist besonders für die Weidewirtschaft in beiden Regionen, die für den Erhalt der biologischen Vielfalt von zentraler Bedeutung ist, folgenreich. Darüber hinaus wird das Abkommen Kleinbauern aus dem Markt drängen und damit die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft fördern. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Gleichstellung der Geschlechter, da viele kleine landwirtschaftliche Betriebe in Chile von Frauen geführt werden. Erfahrungen aus der Praxis zeigen auch, dass das Abkommen die derzeitigen Bemühungen der lokalen Landwirte, sich durch agrarökologische Produktionsmodelle gegen Klimarisiken zu wappnen, zunichte machen wird.
Das AFA zwischen der EU und Chile ist Teil eines überholten Handelsmodells, das überwunden werden muss, wenn wir wollen, dass Europas grüner Übergang wirklich gerecht ist. Neokoloniale Handelsabkommen gehören der Vergangenheit an. Mehr als 485 Organisationen und Einzelpersonen aus Chile und Lateinamerika sind der gleichen Meinung und haben daher eine starke Erklärung unterzeichnet, in der sie dazu aufrufen, dieses Abkommen zu stoppen.
In Anbetracht der oben genannten Gründe bitten wir Sie, Ihre Unterstützung für dieses Abkommen zu überdenken und dem AFA zwischen der EU und Chile NICHT zuzustimmen.
Mit freundlichen Grüßen,
Liste der unterzeichnenden Organisationen:
1. European Trade Justice Coalition (ETJC)
2. Raw Materials Coalition
3. Attac Germany
4. Fair Trade Advocacy Office, Belgium
5. Netzwerk gerechter Welthandel
6. Umweltinstitut München e.V.
7. WIDE+, European feminist network
8. Fundación Terram
9. PowerShift e.V.
10. Attac Austria
11. Anders Handeln Austria
12. Both ENDS, The Netherlands
13. Platform Aarde Boer Consument, the Netherlands
14. Working group Food Justice, the Netherlands
15. FDCL-Center for Research and Documentation Chile-Latin America
16. Informationsstelle Lateinamerika ila e.V.
17. WIDE Austria - Entwicklungspolitisches Netzwerk für Frauenrechte und feministische Perspektiven
18. Österreichisches Lateinamerika-Institut
19. Observatori del Deute en la Globalització (Barcelona, Spain)
20. Asociación Entrepueblos/Entrepobles/Entrepobos/Herriarte (Spain)
21. Ecologistas en Acción (Spain)
22. Coordinación Baladre (Spain)
23. Confederación General del Trabajo (CGT) (Spain)
24. Observatorio de Multinacionales en América Latina (OMAL) - Paz con Dignidad (Spain)
25. Asociación para la Convivencia Intercultural Amazonas, Cádiz (Spain)
26. Amigos de la Tierra (Spain)
27. SETEM (Spain)
28. Coordinadora de Organizaciones de Agricultores y Ganaderos (COAG) (Spain)
29. Associació Cultural i Medi Ambiental Arrels (Spain)
30. Ongd AFRICANDO (Spain)
31. Ateneo Libertario Altozano (Spain)
32. Alternativa Antimilitarista MOC/Adnv Canarias (Spain)
33. Enginyeria Sense Fronteres (Spain)
34. Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucía (APDHA) (Spain)
35. Zambra (Spain)
36. ATTAC España
37. Alternativa Republicana Castilla y León (Spain)
38. Lafede.cat - Organitzacions per a la Justícia Global - Catalunya (Estat espanyol)
39. Fridays for Future España - Juventud por el Clima (Spain)
40. punto&coma (Spain)
41. Asociación Cultural Brasileña Maloka (Spain)
42. AK EUROPA
43. Centre national de coopération au développement (CNCD-11.11.11), Belgium
44. 11.11.11 - Koepel van internationale solidariteit, Belgium
45. Arbeitskreis Indianer Nordamerikas
46. European Coordination Via Campesina
47. European Alliance for the Self-Determination of Indigenous PeopleS
48. TROCA - Plataforma por um Comércio Internacional Justo (Portugal)
49. GADIP, Gender and Development in Practice, Sweden
50. NatureFriends Greece, Greece
51. Palombar - Associação de Conservação da Natureza e do Património Rural (Portugal)
52. ZERO - Associação Sistema Terrestre Sustentável (Portugal)
53. Friends of the Earth Europe
54. Attac France
55. Mouvement d’Action Paysanne (Belgium)
56. Society of Threatened Peoples (Switzerland)
57. SOMO (The Netherlands)
58. Collectif national Stop CETA-Mercosur (France)
59. ActionAid France
60. Aitec (France)
61. Bloom
62. CGT (France)
63. Les Amis de la Terre (France)
64. France Nature Environnement
65. Fédération Artisans du Monde (France)
66. Les Amis du Monde diplomatique (France)
67. France Amérique Latine - FAL (France)
68. Alofa Tuvalu (France)
69. Générations Futures (France)
70. Confédération paysanne (France)
71. FSU (France)
72. Notre Affaire À Tous (France)
73. LDH (Ligue des droits de l’Homme) (France)
74. Alternatiba (France)
75. Action non-violente COP21 (France)
76. Sherpa (France)
77. CADTM France
78. Extinction Rebellion (France)
79. L’Offensive (France)
80. Canopée (France)
81. Association d’ex-prisonniers politiques Chiliens en France
82. Handel Anders! coalitie (The Netherlands)
83. Batani Foundation (Russia/USA)
84. Fundación Tantí (Chile)
85. Welthaus Graz
86. Fondation pour la Nature et l’Homme (France)
87. Sustentarse (Chile)
88. Fundación Relaves
89. NOAH - Friends of the Earth Denmark
90. ÖBV-Via Campesina Austria
91. Veblen Institute (France)
92. Reds - Red de Solidaridad para la transformación social (Catalunya / Estado español)
93. Securing Indigenous Rights in the Green Economy Coalition (SIRGE)
94. Espacio de la Coordinación de Apoyo al Pueblo Mapuche - TRAWUNCHE (Spain)
95. Asamblea Plaza de los Pueblos (Spain)
96. Chile Mejor sin TLC (Chile)
97. Enerxya Cooperativa (Spain)
98. Transnational Institute
99. Entraide et Fraternité (Belgium)
100. Global Witness
101. Coordination gegen BAYER-Gefahren, Germany