Menü

Erklärung der chilenischen NGO "Chile Mejor Sin TLC" gegen das Abkommen unterzeichnet von über 500 Organisationen, inklusive Attac Deutschland

Veröffentlichung: im Dezember 2022. Hier dokumentieren wir die deutsche Version; die Originalfassung und weitere Übersetzungen sind hier zu finden.

 

Gemeinsame Erklärung des Netzwerks „Chile ohne Freihandelsabkommen“, Abgeordneten und sozialen Organisationen aus Chile und der EU (30/11/2022)

Im Hinblick auf die bevorstehende Unterzeichnung der «Modernisierung» des Assoziierungsabkommens zwischen Chile und der Europäischen Union durch die Regierungen Chiles und der EU halten wir Folgendes fest.

Nach langwierigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen werden die Parlamente erneut ein Abkommen billigen oder ablehnen müssen, über das die Menschen und ihre politischen Vertretungen in Parlamenten und Kongressen nicht informiert wurden. Im chilenischen Fall stammen die Informationen über das Abkommen nur aus der Presse, die mit den großen Interessengruppen verbunden ist, und im europäischen Fall haben sich die Informationen als unzureichend erwiesen. Wir werden erst nach der Unterzeichnung überhaupt wissen, was genau ausgehandelt wurde.

Klar ist jedoch, dass Chile und die EU inmitten einer globalen Umwelt- und Energiekrise, ein Abkommen mit schwachen Klimabestimmungen unterzeichnen wollen, das zu mehr Treibhausgasemissionen führen wird und damit den Verpflichtungen des Pariser Abkommens und den Warnungen der COP 27 widerspricht.

Das Abkommen wird die Ausfuhr von Industrieprodukten und verarbeiteten Gütern aus der EU nach Chile fördern. In Chile wird die Steigerung der Exporte im Agrar- und Bergbausektor die derzeitigen Muster des Handelsungleichgewichts und der Abhängigkeit verstetigen. Die Wasserkrise und andere Probleme, die die Lebensqualität in den betroffenen Gebieten massiv beeinträchtigen, werden sich verschärfen und die Ökosysteme und die Gesundheit der Menschen weiter verschlechtern. Das im Vertrag verankerte Vorsorgeprinzip gilt nicht für Pestizidregulierungen. Damit werden die schädlichen Auswirkungen importierter Pestizide auf die Gesundheit von Frauen und gefährdeten Bevölkerungsgruppen bestehen bleiben. Die Klauseln bzw. Kapitel zu Umweltschutz, Arbeitsstandards und Geschlechtergerechtigkeit sind nicht verbindlich, ebenso wenig wie der Teil zu Menschenrechten. Dass ist nicht überraschend, da ein Großteil der Verhandlungen 2019/20 von der Regierung Sebastián Piñera übernommen wurde, die für systematische Menschenrechtsverletzungen in den Jahren der «revuelta popular» (Volksaufstand) verantwortlich ist.

Das Kapitel über die Regulierungspraktiken gibt europäischen Investoren die Möglichkeit, sich in die politische Entscheidungsfindung in Chile einzumischen, da die Regulierungsbehörden verpflichtet sind, die «Betroffenen» (stakeholders) in Entscheidungen über Maßnahmen einzubeziehen, die sich auf ihre Geschäftstätigkeit auswirken könnten. Wenn die staatlichen Regulierungsmaßnahmen nicht im Sinne der Unternehmen sind, könnten sie laut dem Investitionsschutzkapitel des Abkommens zu Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS) führen.

In Bezug auf öffentliche Ausschreibungen ist es wahrscheinlicher, dass große EU-Unternehmen in den chilenischen Markt für öffentliche Beschaffung eintreten werden, als umgekehrt. Unlauterer Wettbewerb zwischen kleinen Unternehmen oder KMU und internationalen Unternehmen führt dazu, dass der lokale Wettbewerber vom Markt verdrängt wird. Das «modernisierte» Abkommen zielt darauf ab, die Liste der Wirtschaftszweige zu erweitern, die ausländischen Investoren offenstehen (derzeit ist u.a. das chilenische Staatsunternehmen CODELCO nicht eingeschlossen).

Im Bereich des elektronischen Handels wird die Klausel über die Freizügigkeit von Daten hinzugefügt, d.h. die Vertragsparteien dürfen keine Vorschriften über die Speicherung, die Verarbeitung oder den Zugang zu den Daten eines Unternehmens erlassen. Dies kann zu Problemen für die Länder führen, u. a. in Bezug auf Souveränität, Gestaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Das Abkommen sieht vor, dass kein Land kann von einem anderen Land den Zugang zum Quellcode eines Unternehmens und dem dazugehörigen Algorithmus verlangen kann. Dies steht jedoch im Widerspruch zur europäischen Norm über künstliche Intelligenz. Dieser Punkt ist von zentraler und politischer Bedeutung. Denn Algorithmen interagieren mit den Menschen und beeinflussen das gesellschaftliche Leben erheblich. Algorithmen müssen unter anderem zum Schutz vor Diskriminierung und Fake News überprüft werden können.

Das Kapitel zu Investitionen und Investitionsschutz stellt eine Verletzung der staatlichen Souveränität dar. Der reformierte Investor-Staats-Schiedsmechanismus (ICS, Investment Court System) erlaubt nach wie vor die Anwendung derselben Klauseln, die aus dem ISDS-System bekannt sind, einschließlich der fairen und gerechten Behandlung und der indirekten Enteignung. Diese Regeln, die bereits für die 18 bilateralen Investitionsabkommen zwischen Chile und EU-Mitgliedsstaaten gelten, werden mit dem Abkommen auf neun weitere EU-Mitgliedstaaten ausgedehnt. ICS stellt weiterhin eine exklusive Parallelgerichtsbarkeit dar, zu der nur Investoren Zugang haben, nicht aber die Mitgliedstaaten und auch nicht die Gemeinden, die von Wasserverlust oder Artensterben betroffen sind.

Schließlich enthält das Kapitel zu Energie und Rohstoffen Klauseln, die im Falle Chiles besorgniserregend sind. Sie garantieren europäischen Zugang zu Energierohstoffen wie Lithium, Kupfer und erneuerbaren Brennstoffen, wie dem so genannten grünen Wasserstoff. Außerdem führt das Kapitel Mechanismen ein, die die Fähigkeit des Staates einschränken, über die Regulierung seiner natürlichen Gemeingüter zu entscheiden. Das Abkommen ist an den Interessen der EU zur Umsetzung ihrer Energiewende und erhöhter Elektromobilität ausgerichtet, die den Import bestimmter strategisch wichtiger Rohstoffe benötigt. Gleichzeitig werden die Folgen, die dies für Chile hat, ignoriert. Gemäß dem Abkommen gelten für die Handelspartner die Grundsätze der Transparenz und Nichtdiskriminierung sowie internationale Markt- und Preisregeln für Verkäufe in die EU. Wenn Chile höhere Steuern auf bspw. Bergbauprodukte erheben, Subventionen einführen, seine eigenen Preise festsetzen und Vorschriften für ausländische Investitionen erlassen möchte, würden diese Maßnahmen als (technisches) Handelshemmnisse betrachtet werden und könnten Sanktionen nach sich ziehen. Mit diesem Kapitel wird der EU also garantiert, dass Chile ihr u.a. Lithium zum gleichen Preis verkauft wie einem einheimischen Unternehmer oder einem Nachbarland, und zwar ohne Lizenzgebühren oder Zugangsbeschränkungen. Dies gilt auch für den Zugang zu (Energie-) Infrastruktur der ohne jegliche Einschränkungen oder Zusatzzahlungen möglich sein muss.

Europäischer Neokolonialismus

Dieses Abkommen ist Ausdruck eines neokolonialen Handelsverständnisses. Es fördert europäische Interessen, während es die massiven Konsequenzen für Chile unter den Tisch kehrt. Es ist bspw. so, dass für jedes Kilo Wasserstoff 10 Liter entmineralisiertes Süßwasser und Energie in großem Maßstab verbraucht werden. Letztere stammt aus der Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen in Standorte für Photovoltaik- oder Windenergieprojekte, und zwar in Gebieten, die durch den in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden Extraktivismus bereits geschwächt sind. All dies ist exportorientiert. An den Orten, in denen Lithium und andere Mineralien gefördert werden, sind die Auswirkungen der intensiven Ausbeutung der Salinen und der Umwelt bereits sichtbar. Dieses Abkommen, das die Zukunft der Elektromobilität in der EU und die Geschäfte der transnationalen Konzerne sichern soll, fördert ein obsoletes System. Die Umstellung des europäischen Energiesystems darf nicht auf Kosten der Umwelt, Gesellschaft und des Klimas in den Ländern des Globalen Südens gehen. Wir fordern daher die Ablehnung des „modernisierten“ EU-Assoziierungsabkommens mit Chile.

Handel auf Augenhöhe bedeutet, dem Leben, der nachhaltigen Produktion und der Umwelt- und Klimagerechtigkeit Vorrang vor kurzfristigen Profitinteressen einzuräumen. #StopEUChile