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Sonderklagerechte für Konzerne Februar 2021

Ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) gelten neben Exporten als wichtigster Faktor kapitalistischer Globalisierung und Verflechtung.1 Zwischen 1990 und 2018 weltweit um das Vierzehnfache angestiegen, machten FDI im Jahr 2018 bereits 36,7 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus.2 Ein Großteil der Investitionen wird immer noch durch multinationale  Konzerne aus Industriestaaten getätigt, die in anderen Ländern neue Tochterfirmen gründen, sich in Unternehmen einkaufen, Produktionsstätten dorthin auslagern oder Dienstleistungs-, Agrar- und Immobilienwirtschaft betreiben. Motive können das Ausnutzen von Standortvorteilen, das Erschließen neuer Märkte oder auch Steuervermeidung sein. 

Neben wirtschaftlicher und sozialer Macht haben ausländische Investoren auch erheblichen Einfluss auf die Politikgestaltung der Gaststaaten. Denn als ausländischen Investoren kommt ihnen  weltweit das Privileg zu, Staaten unter Umgehung von nationalem Recht vor internationalen Sondergerichten verklagen, wenn sie ihre Gewinnerwartungen durch stärkere umwelt-, klima- oder sozialpolitische Regulierungen gefährdet sehen. Betroffen sind auch Staaten mit entwickelten Rechtssystemen, die ausländischen wie inländischen Investoren rechtsstaatliche Verfahren zum Investitionsschutz gewähren.

Bekanntestes Beispiel für derartige Investorenklagen ist das Vorgehen des schwedischen Energie-konzern Vattenfall, der Deutschland im Jahr 2012 gleich zweimal wegen des Atomausstiegs ver-klagte. Nach einer erfolgreichen Entschädigungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht nutzte Vattenfall noch sein Klageprivileg und reichte vor einem internationalen Schiedsgericht eine Schadensersatzklage für entgangene Gewinne in Höhe von insgesamt 6,1 Milliarden Euro ein.3 Die Möglichkeit, nationales Recht zu umgehen, nutzte auch der US-amerikanische Energiekonzern Chevron, als er 2009 Ecuador verklagte, um eine Zahlungsforderung wegen Umweltverschmutzung abzuwehren. Das ecuadorianische Verfassungsgericht hatte Chevron wegen des Einleitens giftiger Abwässer in die Natur zu einer Wiedergutmachung von 9,5 Mrd. US-Dollar verurteilt. Chevron entzog sich dieser Forderung durch eine Klage vor einem internationalen Schiedsgericht, das den Streitfall zu Gunsten des Konzerns entschied. 
Mit Zunahme der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen sind Investitionsschutzklagen sind in den in letzten 15 Jahren stark angestiegen. Einen großen Teil machen Klagen in den klima- und umweltsensiblen Bereichen Bergbau, Wasser, Elektrizität, Land- und Forstwirtschaft aus.4 
So wurde Italien 2017 vom britischen Ölkonzern Rockhopper verklagt, weil das Land Ölbohrungen in Küstennähe verboten hat. Rockhopper fordert 350 Millionen Euro Schadensersatz für Investitionen und entgangene Gewinne. Dabei hatte der Konzern in seine Probebohrungen nur rund 50 Millionen Euro investiert. Der internationale Öl- und Erdgaskonzern Vermilion mit Hauptsitz in Kanada brachte 2017 alleine durch Androhen einer Investitionsschutzklage vor einem internationalen Schiedsgericht ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz des französischen Umweltministers Hulot zu Fall: Hatte der erste Entwurf den stufenweisen Ausstieg aus der Öl- und Erdgasförderung ab 2021 vorgesehen, wurde nach der Klagedrohung ein entschärftes Gesetz verabschiedet, das die Förderung bis 2040 und darüber hinaus zulässt. 

Die Grundlage solcher Investorenklagen außerhalb des nationalen Rechtswegs sind Investitions-schutzabkommen, die seit den 1960er Jahren als völkerrechtliche Verträge zwischen Staaten geschlossen werden. Sie bilden gegenwärtig das wichtigste Element des internationalen Investi-tionsschutzes (Krajewski 2017) und sind häufig, z.B. in Deutschland, Voraussetzung für die Vergabe von staatlichen Investitionsgarantien.5 Da Versuche, ein umfassendes Investitionsabkommen auf WTO-Ebene zu installieren, Anfang der 2000er Jahre am Widerstand der Entwicklungsländer gescheitert sind, existieren die Abkommen überwiegend als bilaterale Verträge (BITs) oder als regionale Verträge zwischen mehreren Staaten wie z.B. der Energiecharta-Vertrag. Nach Angaben der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD 2020) 6 gibt es derzeit weltweit um die 3.300 BITs. Hinzu kommen etwa 300 internationale Verträge mit Investitionsschutz-regeln, darunter eine zunehmende Zahl von Freihandelsabkommen.7 Die Zahl der bekannten Verfahren wuchs bis Ende 2019 auf 1.023 Fälle an (UNCTAD 2020). 

Die meisten Verträge schreiben einen Investor-Staats-Klagemechanismus (Investor-State-Dispute Settlement, ISDS) fest, der ausländischen Investoren exklusive und einseitige Klagerechte gegen Staaten vor internationalen Schiedstribunalen einräumt. Die Urteile dieser Schiedstribunale sind ohne Wenn und Aber international vollstreckbar und können von nationalen Gerichten nicht angefochten werden. Möglich ist das aufgrund internationaler Übereinkommen zur Anerkennung solcher Urteile, so dem von 154 UN-Mitgliedern unterzeichneten New Yorker Übereinkommen der UN über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche von 1959 sowie dem ISCID-Übereinkommen von 1965, dem bis dato 159 Länder beigetreten sind. 

Ausländische Investoren können somit tief in die staatlichen Regulierungsrechte der Gaststaaten eingreifen und parlamentarische Entscheidungen untergraben. Zwar vermag ein solches Schieds-gericht nicht, die Rücknahme von Gesetzen zu verfügen. Doch kann – wie das Beispiel Vermilion gegen Frankreich zeigt  – schon das Androhen einer solchen Klage zum Unterlassen oder Ver-wässern von Gesetzesvorhaben führen. Gegner*innen solcher Investorenklagerechte sprechen von Regulatory-Chill (Regulierungsbremse).

Investorenfreundliche Paralleljustiz 

Besagte Schiedstribunale operieren in der Regel unter dem Dach von internationalen Organisationen:
    • Die Mehrzahl der bekannten Verfahren werden beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) ausgetragen, einer Unterorganisation der Weltbank mit Hauptsitz in Washington. Das ICSID spricht selbst nicht Recht, stellt aber ein Richterpanel sowie einen Verwaltungsapparat zur Verfügung und definiert die rechtliche Durchsetzung der Schiessprüche auf der Basis des Übereinkommens zur Beilegung von Investitionsstreitig-keiten von 1965.  
    • Sehr häufig werden auch die Regeln der Kommission der Vereinten Nationen für Internationales Handelsrecht (UNCITRAL) mit Sitz in Wien angewandt. Die UNICITRAL-Schiedsordnung von 1976 (zuletzt geändert 2010) bietet variierbare Verfahrensregeln für frei wählbare Schiedsgerichte. Ein Fortschritt gegenüber ICSID sind die 2013 veröffentlichten UNICITRAL-Transparenzregeln. Sie legen fest, dass sowohl die Verhandlung als auch die verfahrensrelevanten Dokumente von ISDS-Verfahren grundsätzlich öffentlich zugänglich 
sind.8 Bislang sind die Transparenzregeln von 22 der 193 UN-Staaten unterschrieben, von der EU und Kanada wurden sie im Verlauf der Auseinandersetzungen um die Investitionsschutzbestimmungen des CETA-Abkommens anerkannt.
    • Weitere relevante internationale Schiedsgerichte sind u.a. die Internationale Handelskammer (ICC), der London Court of International Arbitration (LCIA) oder die Stockholmer Handelskammer (SCC).

Obwohl die Schiedstribunale über Fragen von sehr weitreichender gesellschaftlicher Bedeutung – etwa den Ausstieg aus fossilen Energien – entscheiden, gibt keine dieser Institutionen Verfahrens-regeln vor, die denen eines ordentlichen Gerichts vergleichbar sind: Für jeden Streitfall wird ein gesondertes Tribunal gebildet, das in der Regel aus drei Anwält*innen besteht. Die Streitparteien bestimmen selbst die Mitglieder der Schiedsgerichte. Die Verfahren sind darauf ausgerichtet, schnell und ohne öffentliches Aufsehen zur Urteilsfindung zu gelangen und finden überwiegend im Geheimen statt. Eine ordentliche Berufungsinstanz zur rechtlichen oder sachlichen Überprüfung der Urteilsfindung gibt es nicht. Nur bei sehr groben Verfahrensfehlern und Rechtsverstößen wie Bestechlichkeit räumen die ICSID-Regeln ein Annulierungsverfahren durch ein anderes Schiedsge-richt ein. 9 Möglichkeiten von Staaten oder Bürger*innen, ausländische Konzerne wegen Umwelt-raubau oder Menschenrechtsverletzungen zu verklagen, sieht das System nicht vor.

Mit dem ISDS-System wurde ein gesonderter Rechtsraum etabliert, der ausschließlich ausländischen Investoren zugutekommt. Während nationale Gerichte auf der Grundlage gesellschaftlich ausge-handelter und parlamentarisch beschlossener Gesetzessysteme Recht sprechen, die – wie z.B. die deutsche Verfassung – eine Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums beinhalten, urteilen Schieds-tribunale lediglich auf der Basis von Investitionsschutzverträgen und einer darauf beruhenden Urteilspraxis. Zentriert auf die Frage, ob ausländische Investoren durch staatliches Handeln Gewinneinbußen erleiden, sehen diese Verträge meist unbestimmte Rechtbegriffe wie "gerechte und billige" Behandlung, "indirekte Enteignung" oder "legitime Erwartungen" von Investoren vor, die große Spielräume für investorenfreundliche Entscheidungen bieten. 

Liberalisierungsverpflichtungen wie Inländerbehandlung, Meistbegünstigung und Marktzugang, die bei den WTO-Übereinkommen getroffen und in den Verträgen implementiert sind, geben den Gastländern ein enges Korsett staatlichen Handelns vor und sind häufig genutzte Einfalltore für Investitionsschutzklagen.

Viele Verträge enthalten einen auslegbaren Investitionsbegriff, der alle Arten von Vermögens-übertragung inklusive des Erwerbs von Wertpapieren, Konzessionen und Lizenzen umfasst. Auch geistiges Eigentum und patentierte technische Verfahren fallen unter den Schutz der meisten Abkommen. Wollen Staaten beispielsweise ein Medikament resp. einen Impfstoff im Inland herstellen lassen, ist das solange durch Investitionsschutzklagen anfechtbar, wie das Patent eines auswärtigen Investors läuft, der darauf ein Monopol hat. Preisobergrenzen für Medikamente und Lockerungen des Patentschutzes auf medizinische Geräte, wie sie u.a. Deutschland wegen der Corona-Pandemie erlassen hat, können als Enteignung angegriffen werden.10 

ISDS als Geschäftsmodell

Seit den 1990er Jahren ist aus der ISDS-Praxis ein lukrativer und einflussreicher Geschäftsbereich erwachsen: Schiedsrichter*innen werden pro Tag und Fall bezahlt.  Ihr Tageshonorar kann bis zu 3.000 US-Dollar betragen.11 

Einer Studie von Corporate Europe Observatory (CEO) und Transnational Institute (TNI) zufolge wird die internationale Schlichtungsbranche von einer kleinen Elite von Fachanwält*innen und hoch-rangigen Schiedsrichtern*innen dominiert, die oft mit großen Industrieverbänden verflochten sind und den wissenschaftlichen Diskurs zum Investitionsrecht majorisiert. Vor dem Hintergrund eigener wirtschaftlicher Interessen ist dieser Branche daran gelegen, Investoren auch zu Klagen gegen Regierungen motivieren. Zum Beispiel gab es Überlegungen internationaler Anwaltskanzleien, mit Investorenklagen auf staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der gesundheitlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise zu reagieren.12

Vom postkolonialen zum neoliberalen Instrument

Historisch erweisen sich Investitionsschutzabkommen als Relikte des Postkolonialismus, die Instrumente neoliberaler Globalisierung geworden sind. Entstanden in den 1950er und 1960er Jahren zur Zeit der Dekolonialisierung, wurden solche Verträge zunächst nur zwischen westlichen Industriestaaten und Entwicklungsländern geschlossen, um Investoren vor Enteignungen in den neuen Staaten zu schützen. Das erste BIT vereinbarte die deutsche Adenauer-Regierung 1959 mit Pakistan. Das erste Abkommen, das nicht nur einen zwischenstaatlichen Schiedsmechanismen enthielt, sondern auch ein Investor-Staat-Streitbeilegungverfahren, schlossen 1969 die Niederlande mit Indonesien. Die den ICSID-Schiedsregeln zugrunde liegende Übereinkunft zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehöriger anderer Staaten war 1965 bei der Weltbank verabschiedet worden. Die Weltbank, zu deren satzungsmäßigen Aufgaben die "Anregung und Förderung von privaten ausländischen Investitionen" gehört, 13 etablierte Kapitaltransfer- und Konzernklagerechte gewissermaßen als Gegenprogramm zur damaligen Forderung der blockfreien Staaten, eine "neue internationale Wirtschaftsordnung" unter dem Dach der UN zu errichten.14 Die Staaten des globalen Südens, die sich bis in die 1980er Jahre bei der Unterzeichnung von BITs zurückhielten, wurden  in den 1990er Jahren zuerst durch die Schuldenkrise und dann durch Strukturanpassungsauflagen von Weltbank und IWF zur Unterzeichnung gedrängt.15 

Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion 1989 schoss die Zahl der bilateralen Investitionsabkom-men von 358 im Jahr 1989 auf 2.946 im Jahr 2015 in die Höhe.16 Klagerechte für Investoren, von denen zuvor ausschließlich die Entwicklungsländer betroffen waren, wurden nun auch zunehmend zwischen Industriestaaten eingeführt. Zu den bekanntesten Beispielen aus den 1990er Jahren zählen der Energie-Charta-Vertrag von 1994,17 das NAFTA-Abkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko von 1995, sowie das – 1998 am zivilgesellschaftlichen Protest gescheiterte – Multilate-rale Abkommen über Investitionen (MAI) der OECD. 

Die Europäische Union, die im Vertrag von Lissabon (2009) mit der alleinigen Kompetenz zum Abschluss von Handels- und Investitionsabkommen ausgestattet wurde, griff bei Aufnahme der Verhandlungen des CETA-Abkommens mit Kanada (2009) und des TTIP-Abkommens mit den USA (2013) den ISDS-Mechanismus nicht nur auf. Sie erweiterte auch den Begriff schützenswerter Investitionen und den Kreis der klageberechtigten Investoren. So sind bei CETA (Art. 8.1) neben faktischen Direkt- und Portfolioinvestitionen auch hypothetische Zielvorstellungen von Investoren geschützt, etwa die "Erwartung von Wertzuwachs und Gewinnen" oder das "Interesse", das sich aus "Konzessionen zur Nutzung natürlicher Ressourcen" ergibt. Der Begriff des Investors ist so weit gefasst, dass alle globalen Unternehmen, die mehr als eine Briefkastenfirma in einem EU-Land oder Kanada unterhalten, den CETA-Vertrag für ISDS-Klagen nutzen können.

Verstetigung der Konzernklagerechte durch ICS und MIC            

Aufgrund anhaltender Proteste gegen die geplanten Investitionsschutzregeln bei TTIP und CETA sah sich die EU veranlasst, einen Reformprozess anzustoßen: Im Herbst 2015 legte die EU-Kommission das Konzept eines "Investitionsgerichtshof-Systems" (ICS) als einer prozessrechtlich verbesserten Klageinstanz vor. 2015 erstmals im Investitionskapitel des CETA-Abkommens implementiert, ist ICS auch als Streitbeilegungsmechanismus für die Begleitabkommen der Freihandelsverträge mit Vietnam und Singapur sowie dem neuen Vertrag mit Mexico vorgesehen.

Langfristig plant die EU, dieses System zu einem Multilateralen Investitionsgerichtshof "Multilateral Investment Court" (MIC) weiterzuentwickeln, was sie auf globaler Ebene durch Beteiligung an den UNICITRAL-Verhandlungen zur Errichtung eines MIC verfolgt. In beiden Konstruktionen – ICS und MIC – bleiben jedoch zentrale Probleme des ISDS-Systems ungelöst:

Das im CETA-Vertrag niedergelegte Konzept eines Investitionsgerichts-Systems (ICS) beinhaltet gegenüber den herkömmlichen ISDS-Verfahren geringfügige formale Verbesserungen, die das Kon-strukt einer investorenfreundlichen Sonderjustiz allerdings unangetastet lassen und verfahrensr-echtliche Probleme nicht grundlegend reformieren:

Als wichtige formale Reformen im Investitionskapitel des CETA-Vertrags (Art. 8.24) preist die EU-Kommission die Einführung einer dauerhaften Schiedsinstanz, bestehend aus 15 nebenamtlich täti-gen Jurist*innen, die in der Regel für fünf Jahre in das ICS berufen werden und „zur Gewährleistung ihrer Verfügbarkeit“ eine Grundvergütung erhalten sollen. Im Streitfall sind aus deren Kreis drei Schiedsrichter*innen für ein Schiedstribunal auszulosen. Als weitere prozessrechtliche Verbesse-rungen sind die Einrichtung einer Rechtsbehelfsinstanz und mehr Transparenz der Verfahren genannt.

Bedenkt man, dass auch das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) ein Richterpanel vorhält, fällt als einzig echte formale Verbesserung gegenüber den her-kömmlichen Schiedstribunalen auf, dass die drei Schiedsrichter*innen beim ICS nicht mehr durch die Streitparteien selbst gewählt, sondern per Los ermittelt werden. Die Unabhängigkeit der Schiedsrichter*innen ist auch im ICS nicht gewahrt, da diese im Streitfall fallbezogen nach den Regeln des ICSID-Übereinkommens bezahlt werden. Dass bei den ICS-Verfahren die Transparenz-regeln von UNICITRAL zu beachten sind, ist löblich, aber keine Neuerung des ICS. Die von der EU-Kommission als große Reform gerühmte Rechtsbehelfsinstanz bei CETA (Art 8.28) unterscheidet sich allenfalls graduell von der Annulierungsregel des ICSID. Auch im ICS ist diese Instanz ein aus drei Mitgliedern bestehendes Schiedstribunal, das wegen Verfahrensfehlern bzw. "Fehlern bei der Würdigung des Sachverhalts" angerufen werden kann und letztinstanzlich rechtskräftige Urteile fällt. Das Hauptproblem einer Paralleljustiz, die ausländischen Investoren einseitige Klagerechte zubilligt und ihnen erlaubt, auf der schmalen Basis von Investitionsschutzverträgen in die Regu-lierungsrechte von Staaten einzugreifen, bleibt unangetastet. Eine Verpflichtung zur Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs ist – analog dem traditionellen ISDS- Mechanismus – auch beim ICS nicht vorgesehen. 

Auch der angestrebte Multilaterale Gerichtshof (MIC) löst das Problem einer investorenfreund-lichen Paralleljustiz nicht. Zwar sieht das Konzept eines MIC, das die EU-Kommission mit Mandat des Europäischen Rats in den UNICITRAL-Reformprozess einbringt, weitere formale Verbesserungen wie hauptamtliche Schiedsrichter*innen und eine echte Berufungsinstanz vor. Die einseitigen Konzernklagerechte auf der zweifelhaften Rechtsgrundlage von Investitionsschutzabkommen würden jedoch auch auf dieser Ebene verstetigt.

Ein Multilateraler Gerichtshof in der von der EU vorgeschlagenen Form würde die strukturellen Ungleichheiten des ISDS-Systems nicht beseitigen. Kaschiert durch einen großen Namen, der ein ordentliches internationales Gericht vortäuscht, obwohl die Urteilsfindung auf vage formulierten investorenfreundlichen Verträgen basiert, würde ein solcher Gerichtshof die Sonderklagerechte transnationaler Konzerne gegen Staaten vielmehr zementieren. 

Der Deutsche Richterbund sieht in seiner Stellungnahme vom November 2017 sogar die "materielle Rechtlosigkeit … im Investitionsschutz durch die Einrichtung eines MIC“ verstärkt.

„Das von der Kommission angestrebte Mandat zielt auf die Einrichtung eines Gerichts, dem auch weiterhin demokratisch gesetztes Recht als Entscheidungsbasis fehlt. Die Kommission erkennt dies an, wenn sie feststellt, dass Fragen des anwendbaren Rechts, Standards der Auslegung sowie die Vereinbarkeit der mit anderen internationalen Verpflichtungen wie die UN-Konventionen nicht im Mandat, sondern in den einzelnen Verträgen festgelegt werden sollen (...) Dabei zeigt ein Blick in die einschlägigen Vorschriften von CETA, dass die jahrelangen Verhandlungen zwischen Kommission und Canada wenig Konkretes erbracht und nur zu Stellungnahme den in Investitionsschutzabkommen üblichen Vorgaben geführt haben. (…) Tiefergehende materiell-rechtliche Vorgaben existieren nicht. Die geplante Überprüfung der Entscheidungen der Kammer der ersten Instanz durch eine Berufungskammer des MIC auf Rechtsfehler („errors of law“, Mandat Attachment Nr. 8) kann sich daher nur auf eigene Rechtsprechung beziehen. Materielles Recht für eine Überprüfung der Rechtsfehler fehlt. 18

Das Problem materieller Rechtslosigkeit, das der Deutsche Richterbund im Fall einer Institutio-nalisierung der Konzernklagerechte durch ICS und MIC attestiert, hat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei Prüfung der Vereinbarkeit des CETA-Gerichts (ICS) mit Unionsrecht nicht interessiert.19 Vielmehr zieht der EuGH im Gutachten vom 30.04.2019 20 ausgerechnet den Umstand, dass Investorenklagen ausschließlich auf Basis des CETA-Vertrags und ohne Rücksicht auf Unionsrecht verhandelt werden, zur Begründung heran, warum die Autonomie des Unionsrechts durch das CETA-Gericht (ICS) gewahrt sei. Wohl erkennt der EuGH angesichts des weiten Anwendungsbereichs des Investitionsschutzes bei CETA die Gefahr eines unionsrechtswidrigen regulatory chill, da ja das ICS sowohl EU-Mitgliedsstaaten als auch die EU selbst wegen gesetzlicher Regulierungen zu hohem Schadensersatz verurteilen könnte. Indessen sieht er staatliche und unionsrechtliche Regulierungs-rechte durch verschiedene Zusatzerklärungen geschützt (ebd.) Letzteres dürfte allerdings ein frommer Wunsch bleiben, da die bei CETA nachträglich eingefügten Zusatzerklärungen lediglich als vage formulierte Interpretationshilfen dienen, die – so der Rechtswissenschaftler Markus Krajewski (2021)21 - „keine eigene normative Bedeutung“ entfalten. 

CETA ist seit 2017 vorläufig und zu großen Teilen in Kraft. Ausgenommen sind noch Teile, die auch der Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten bedürfen, darunter die Kapitel zu den Investitionsbestim-mungen und Portfolioinvestitionen. Würde CETA tatsächlich endgültig von allen EU-Staaten ratifiziert, träten die Konzernklagerechte in Kraft . Damit erhielten alle internationalen Konzerne, die in einem EU-Land oder in Kanada niedergelassen sind, das Privileg, die EU, Kanada oder einen EU-Mitgliedsstaat vor einem Sondergericht wegen staatlicher Regulierungen auf Schadensersatz zu verklagen. Multinationale Energiekonzerne erhielten die Möglichkeit, die den Ausstieg aus fossilen Energien durch Konzernklagen behindern, verzögern - oder sich teuer bezahlen lassen -  könnten. Alleine das wäre für das Weltklima verheerend. Denn der Kündigungsschutz für die Investitions-schutzbestimmungen hält – wie bei allen bilateralen und regionalen Investitionsschutzabkommen  - 20 Jahre an.

Angesichts der Klimakatastrophe, des Artensterbens, der gehäuften Entwicklung von Pandemien, Hungersnöten und anderen sozialen Verwerfungen ist es höchste Zeit, staatliche Rechte zur Regu-lierung der Wirtschaft weltweit zu stärken und von einem anachronistischen Investitionsschutz-regime aus der Zeit des Postkolonialismus Abstand zu nehmen. Einseitige Klageprivilegien für globale Konzerne, die außerhalb parlamentarisch beschlossener Rechtssysteme funktionieren, stehen einer dringend notwendigen sozial-ökologischen Wende im Wege. Sie sind weder als bila-terale oder regionale Verträge noch als Teil von Freihandelsverträgen noch als Institutionalisierun-gen in Form eines Multilateralen Gerichtshofs zu akzeptieren. 

August 2021