Vielfalt macht uns stark! Ein emanzipatorischer Blick auf „Identitätspolitik“
In letzter Zeit werden politische Bewegungen, die sich nicht um soziale Anliegen im engen Sinne drehen, häufig kritisiert bzw. verunglimpft. Das betrifft sowohl antirassistische als auch (queer)feministische Kämpfe und damit ureigenste Anliegen einer Emanzipation von unten. Niemand kann angesichts der folgenden Tatsachen die strukturelle Unterdrückung und Diskriminierung von weiblich gelesenen Personen leugnen: Als solche
• erleben wir schlimmste Ausbeutung in globalen Wertschöpfungsketten;
• bekommen wir weniger Geld für gleiche Arbeit,
• können oft nur in Niedriglohnjobs bzw. in Teilzeit arbeiten, weil in patriarchal organisierten Gesellschaften weitgehend unbezahlte Aufgaben wie Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen anders nicht zu bewältigen sind.
• Hinzu kommt die zunehmende Gewalt gegen FLINTA* (Frauen, Lesben, intersexuelle Menschen, nicht-binäre Menschen, trans Menschen, agender Menschen), besonders natürlich in den Kriegen, in denen wir zu Opfern von sexueller Gewalt und Vertreibung gemacht werden.
• Auch im Alltag begegnen uns in sozialen Medien und rechten Diskursen Hass und Hetze gegen diejenigen, die dem patriarchalen und heterosexistischen Bild von Zweigeschlechtlichkeit nicht entsprechen.
In dieser patriarchal geprägten politischen Realität werden wir kaum gehört und haben nur dann eine Chance, wenn wir gemeinsam für unsere Rechte und ein selbstbestimmtes Leben kämpfen. Dieser notwendige Kampf im Rahmen einer progressiven Identitätspolitik wird natürlich von Rechts, aber immer häufiger auch von Links diffamiert.
Üble Diskurse: Vom „Gedöns“ bis zum „elitären Lifestyle“
Ob unsere Anliegen als „Gendergaga“ beschimpft werden oder in der Ecke des „postmaterialistischen“ Nebenwiderspruchs landen: Gemeinsam mit Didier Eribon müssen wir bitterlich feststellen: „Identitätspolitik wird ... vor allem von ihren Gegnern als Kampfbegriff verwendet. [Das] Reden über Identität [wird] zu einem immer beliebteren Mittel, um gewisse progressive Bewegungen als spalterisch und separatistisch zu dämonisieren.“ „Identitätspolitik“ spiele den Rechten in die Hände, sei verantwortlich für „Sprechverbote“, gehe an der Realität der Erwerbstätigen vorbei und verschwistere sich mit dem Neoliberalismus.
Dagegen ist fest zu halten: Progressive Identitätspolitik ist immer auch Antidiskriminierungspolitik. Und in jedem Kampf gegen Diskriminierung geht es darum, Unterschiede kleiner zu machen und abzuschaffen. Dass jetzt den Diskriminierten selbst unterstellt wird, durch ihr Eintreten für gleiche Rechte die Gesellschaft zu spalten, wendet ein verbreitetes Muster der Schuldumkehr an. Tatsächlich geht es ja nicht um mehr, sondern um weniger Spaltung, es geht um die gleichberechtigte Teilhabe und Partizipation aller.
Untersuchungen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Diskriminierung und Ausschluss von Minderheiten ist. Das schließt allerdings bei vielen nicht aus, in einer Identitätspolitik auch eine Verunsicherung und eine Bedrohung ihrer erlernten Gewissheiten zu sehen. Dafür gibt es keine einfache Lösung, denn: ohne die Kämpfe marginalisierter Gruppen für Rechte und Anerkennung gibt es – wie die Erfahrung zeigt – keinen emanzipatorischen Fortschritt. Auf der Suche nach und im Einsatz für gerechtere Gesellschaftsmodelle und tatsächlich demokratische Mitbestimmungsformen müssen FLINTA* –mit ihren spezifischen Erfahrungen und Perspektiven –einbezogen werden. Nicht um Differenzen zu „feiern“ und dadurch eine kollektive Organisierung gegen solche Ungerechtigkeiten zu verhindern, sondern um tatsächliche, von Respekt getragene Gleichberechtigung zu schaffen.
Schadet „Identitätspolitik“ dem sozialen Kampf?
Als Attac-Aktivist*innen geht es uns nicht darum, vermeintlich verschiedene Kämpfe – wie neuerdings „Klassenpolitik“ und „Identitätspolitik“ – gegen-einander auszuspielen. Wir fordern ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben für alle.
Dafür bedarf es der Formierung von (handlungsfähigen) Identitäten. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ – so formulierten es Marx und Engels. Um eine Bewegung gegenüber den Interessen des Kapitals überhaupt erst ins Leben rufen zu können, bedurfte es der Adressierung einer Identität: Arbeiter*innen mussten als solche in ihrer gemeinsam geteilten Identität angesprochen werden, um im Rahmen eines anhaltenden Kampfs gegen die Macht des Kapitals gemeinsam für humane Arbeitsbedingun-gen, Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen und eine menschenwürdige Gesellschaft zu kämpfen. Es liegt dabei gleichzeitig im Interesse jeder emanzipatorischen Bewegung, sich für die Gleichberechtigung aller Menschen einzusetzen, unabhängig von deren Herkunft, Hautfarbe, Alter, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Identität oder Orientierung.
Im Übrigen geht es bei „Identitätsfragen“ durchaus um soziale Fragen:
- Struktureller Sexismus führt zur Benachteiligung im Beruf, auf dem Arbeitsmarkt und in Partnerschaften.
- Auch viele Arbeiter*innen sind sexueller Belästigung ausgesetzt und leiden unter Erwartungen an ihr Verhalten, die vom (ihnen manchmal nur von anderen zugeschriebenen) Geschlecht abgeleitet werden.
- Und auch unter ihnen gibt es Schwule, Lesben und Transmenschen.
Die Einbeziehung einer (queer-)feministischen Perspektive dient dazu, die bis heute wirksame Dominanz männlich geprägter Akteure und Strukturen zu überwinden. Ohne die aktive Beteiligung von FLINTA* laufen emanzipatorische Bewegungen Gefahr, Unterdrückungsmuster in Bezug auf sexuelle Identität oder Orientierung zu reproduzieren.
Unser Ziel: eine neue Produktions- und Lebensweise
Es geht uns darum, nicht nur die bezahlte (Lohn)Arbeit, sondern alle Aspekte der Lebensweise der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen in den Blick zu nehmen. Es geht um eine neue Produktions- und Lebensweise. Dazu ist es notwendig, sich auf die verschiedenen Emanzipationsperspektiven einzulassen.
Wir streben eine Care-Ökonomie an, die nicht Profitmaximierung, sondern die Bedürfnisse der Menschen und den Erhalt von Lebensgrundlagen ins Zentrum stellt. Sorgearbeit und Care-Ressourcen dürfen nicht länger entlang rassistischer, sexistischer oder klassenbezogener Kriterien verteilt werden.
Wir setzen uns ein für die Überwindung kapitalistischer und patriarchaler Verhältnisse hin zu einer Gesellschaft, in der nicht die Sicherung von Profiten, sondern gegenseitige Fürsorge im Mittelpunkt steht.