Zur Situation in Spanien und Podemos
Die ökonomische und politische Ausgangslage ist in den beiden Ländern zwar nur bedingt vergleichbar, mit Podemos (wir können) ist in Spanien im vergangenen Jahr jedoch ein politischer Akteur entstanden, von dem viele erwarten, dass er im Kampf gegen die Austeritätspolitik demnächst eine ähnliche Rolle spielen könnte, wie Syriza derzeit in Griechenland. Der folgende Beitrag will zeigen, wie Podemos sich als Folge der sozialen Kämpfe gegen das europäische Krisenregime in seiner spanischen Ausprägung entwickeln konnte und wofür diese junge Organisation steht.
Krise, Austeritätspolitik und die Folgen
Nach dem Ende der Franco Diktatur und den ersten demokratischen Wahlen 1977, entstand in Spanien ein stabiles Zweiparteiensystem. Es setzte sich zusammen aus der konservativen Volkspartei (PP) und der sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE). Die Zeit nach Franco bis zum Beginn der Krise 2007/2008 wurde von der großen Mehrheit der Spanier als eine Zeit anhaltender wirtschaftlicher und sozialer Verbesserungen erfahren. Diese Erfahrung ist mit der Krise in mehrfacher Hinsicht zerbrochen und hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.
Vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise waren die Wirtschaftsdaten Spaniens noch vergleichsweise positiv. Der Staatshaushalt wies einen Überschuss auf und die öffentliche Verschuldung war im europäischen Vergleich niedrig. Die Grundlage dafür war ein Boom der Bau- und Immobilienwirtschaft, der mit billigen, überwiegend ausländischen Krediten finanziert wurde. Dass dieses Modell nicht nachhaltig sein konnte war allerdings absehbar und so fand es auch mit der Bankenkrise sehr schnell sein Ende.
Ähnlich wie andere Staaten reagierte die spanische Regierung auf die Krise ebenfalls mit Konjunkturprogrammen, die den Zusammenbruch von Produktion und Beschäftigung jedoch nicht bremsen konnten. Sie bewirkten letztlich nur die Zunahme der öffentlichen Verschuldung.
Auf direkten Druck durch die EZB und den IWF wechselte die damals noch sozialistische Regierung 2010 ihren Kurs und beschloss ein Programm sozialer Kürzungen, in bis dahin unbekanntem Ausmaß. Dieses setzte sie gemeinsam mit der noch oppositionellen PP durch. Infolge des insbesondere von der deutsche Regierung über die europäischen Institutionen vermittelten Drucks, änderten beide Parteien außerdem die Verfassung (Artikel 135) und führten dort eine Schuldenbremse ein. Der Eingriff in die Verfassung, die als Instrument zur Überwindung der Franco Diktatur in Spanien eine besonderes Ansehen hat, wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als von außen aufgezwungen empfunden und als Verlust nationaler Souveränität gewertet.
Wie zu erwarten war gelang es nicht mittels der Austeritätspolitik das Haushaltsdefizit zu kontrollieren, da die wirtschaftliche Nachfrage insgesamt drastisch zurück ging. Dies war die Folge von Kürzungen bei den Staatsausgaben, verringerten Ausgaben bei den Unternehmen aufgrund der rückläufigen Wirtschaft, sowie bei den privaten Konsumenten infolge von Arbeitsplatzverlusten und gekürzten Sozialleistungen. Dadurch reduzierte sich das Steueraufkommen kontinuierlich und damit die staatlichen Einnahmen, so dass zur Kompensierung der erneuten Defizite weitere Ausgabekürzungen vorgenommen wurden.
Diese Abwärtsspirale wirkt sich für die ohnehin benachteiligten Bevölkerungsschichten besonders gravierend aus. Die Arbeitslosenquote bewegt sich insgesamt bei 25%, für die Altersgruppe von 15 bis 25 Jahren beträgt sie 53 %. Ohne die verstärkte Emigration, vor allem jüngerer Menschen, wären diese Zahlen noch deutlich höher.
Parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit hat sich auch die Einkommensverteilung verschlechtert, d.h. die Konzentration des Reichtums hat zugenommen und damit die Ungleichheit. Während das obere Zehntel in der Einkommensskala durch die Krise lediglich ein Prozent seines Einkommens verlor, betrug der Verlust für das untere Zehntel 30 Prozent. Spanien wurde auf diese Weise innerhalb der EU zum Land mit der größten Einkommensungleichheit, nach Litauen.
Die Löhne sind so stark gesunken, dass mittlerweile ein Drittel der Beschäftigten nur noch über ein Einkommen unter der Armutsgrenze verfügt. Von den Arbeitslosen erhält nur noch gut die Hälfte überhaupt Arbeitslosengeld. In ca. 750.000 der spanischen Haushalte gibt es niemanden mehr, der überhaupt noch irgendein Einkommen erzielt, weder Arbeits- noch Transfereinkommen. Diese Haushalte sind tatsächlich auf Almosen angewiesen.
Besonders betroffen von den Kürzungen ist das spanische Gesundheitswesen, im Jahr 2014 betrug der Rückgang erneut 35 %. Die Folge davon sind neben extrem langen Wartezeiten bei der ärztlichen Versorgung, die Verringerung und Verzögerung von notwendigen Behandlungen. In jüngster Zeit machen vermehrt Todesfälle durch Hepatitis C Schlagzeilen, weil den Betroffenen die zur Heilung erforderlichen Medikamente nicht oder nur unzureichend zur Verfügung stehen. Die Zahl der Menschen ohne jeglichen Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen hat zugenommen, auch weil durch Gesetzesänderung 2012 die Gesundheitskarten für Migranten ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis eingezogen und abgeschafft wurden.
Die zunehmende Verarmung führt zudem zu immer mehr Zwangsräumungen von Wohnungen, weil die Bewohner ihre monatlichen Raten nicht mehr bezahlen können. Seit Beginn der Krise wurden bereits über eine halbe Million Räumungsverfahren eingeleitet und ein großer Teil davon auch vollstreckt. Außerdem wohnen 7 von 10 Menschen unter 30 Jahren noch bei ihren Eltern, weil sie sich keine eigene Wohnung leisten können.
Die Zahl der Selbstmorde, die sich nachweislich auf die wirtschaftliche Situation zurückführen lassen, nahm um 400 Fälle zu.
Protest und sozialer Widerstand
Wie gezeigt, führte das Krisenmanagement der spanischen Regierung unter dem Druck der Troika zu drastischen Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Mehrheit der Bevölkerung. Für die heute junge Generation bedeutet dies, dass ihre Lebensverhältnisse dauerhaft deutlich schlechter sein werden, als die ihrer Eltern. Dies wird von den Betroffenen auch weitgehend so empfunden.
Während die Auswirkungen der sozialen Einschnitte landesweit zunahmen, wurden gleichzeitig zahlreiche Korruptionsskandale und Fälle krimineller Bereicherung seitens der Eliten in nahezu sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen bekannt. Beides führte zu einer völligen Diskreditierung des gesamten politischen Systems des Landes. Persönlichkeiten und Institutionen (einschließlich der Monarchie), die lange als die Säulen der Gesellschaft galten und öffentliches Ansehen genossen , wurden zum Ausdruck der Systemkrise und verloren weitgehend ihre Glaubwürdigkeit.
Nach zunächst lokalen und dezentralen Protesten und Widerstandsaktionen gegen diese Entwicklung, kam es am 15. Mai 2011 zu koordinierten Aktionen in zahlreichen spanischen Städten, die schließlich in lang anhaltende Besetzungen öffentlicher Plätze mündeten. Dies war der Beginn der Bewegung, die als M15 oder indignados (Empörte) bekannt wurde. Sie entwickelte neue, basisdemokratische Formen des sozialen Protests und trug diesen in die Öffentlichkeit. Vor allem in Madrid und Barcelona, aber auch in vielen anderen Städten des Landes wurden Camps errichtet und auf den Plätzen wurden ausgedehnte, sogenannte asambleas (Bürgerversammlungen) durchgeführt, bei denen nicht nur die Selbstorganisation des Protests stattfand, sondern auch ein breites Spektrum an gesellschaftspolitischen Fragen diskutiert wurde.
Die Themen reichten vom Banken- und Finanzsystem, über das Wohnrecht, die öffentliche Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem, Fragen des Umweltschutzes und des Konsums, bis hin zur Situation von Flüchtlingen und den Rassismus im Umgang mit ihnen. Bei den Debatten entwickelte sich ein tieferes Verständnis der Funktionsweise des herrschenden Systems, insbesondere bezüglich des Zusammenhangs von Finanzsektor und Politik, verbunden mit der Erkenntnis, dass die zahlreichen Korruptionsfälle nicht als isolierte Vorgänge gesehen werden können, sondern es sich dabei um ein System von regelmäßigen Gefälligkeiten und Gegenleistungen handelt.
Die von der Bewegung entwickelten Konzepte und Aktionen griffen diese Defizite der spanischen Demokratie auf und forderten eine andere politische Machtverteilung, wirkliche Demokratie und soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung des Reichtums, bis hin zu einem neuen Gesellschaftsvertrag. Innerhalb kurzer Zeit stimmten 90% der spanischen Bevölkerung den Forderungen der M15 zu, auch daran wurde der massive Glaubwürdigkeitsverlust des politischen Gesamtsystems deutlich.
Infrage gestellt wurde damit nicht weniger als das Paradigma der transicion – des Übergangs von der Franco-Diktatur zur Demokratie und die damals ausgehandelte und 1978 verabschiedeten Verfassung. Die Kritik daran betraf neben der Monarchie und dem Verhältnis des spanischen Zentralstaats zu den autonomen Regionen des Landes, das existierende Konzept der repräsentativen Demokratie insgesamt. De facto hat die Protestbewegung einen verfassungsgebenden Prozess angestoßen, mit dem Ziel, das bestehende Zweiparteiensystem zu überwinden und die in der Übergangsphase nach der Franco Diktatur ausgehandelte Verfassung zu erneuern.
Infolge der Platzbesetzungen der Bewegung M15 und der von ihr verbreiteten Vielfalt des Protests, mit Vollversammlungen, Arbeitsgruppen, aber auch deutlichen Elementen zivilen Ungehorsams, wurde diese zum Ausgangspunkt für die Gründung bzw. die Reaktivierung zahlreicher landesweiter Gruppierungen im Kampf gegen die Folgen der Austeritätspolitik von Troika und spanischer Regierung. Die wichtigsten davon sind, die marea verde, übersetzbar mit grüne Flut zur Verteidigung des öffentlichen Bildungssektors, die marea blanca, weiße Flut zur Verteidigung der Rechte und Leistungen im Gesundheitsbereich, die Bewegung gegen Zwangsräumungen und die bereits 2007 gegründete Plattform der Hypothekenbetroffenen (Plataforma de los Afectados por la Hipoteca – PAH).
In diesen gesellschaftlichen Bereichen konnten auch deutliche materielle Erfolge erzielt werden, insbesondere im Wohnungssektor, durch die Verhinderung vieler Räumungen, die Besetzung leerstehender Häuser, durch Unterstützung und juristische Hilfe bei Verhandlungen mit Banken zur Umschuldung oder dem Erlass von Hypothekenschulden, aber auch bei der Verhinderung von Privatisierungen im Gesundheitswesen oder bei Kürzungen im Bildungsbereich.
Zweifellos hat die Dynamik der Protestbewegung der spanischen Zivilgesellschaft neues Leben eingehaucht, dies lässt sich auch an der Verdoppelung der Zahl jährlicher Demonstrationen seit 2012 ablesen, im Vergleich zu der Zeit davor. Es wird jedoch kaum bestritten, dass die Bewegung seit einem guten Jahr weitgehend stagniert. Dies bedeutet nicht, dass sie sich aufzulösen beginnt, sie ist weiterhin sehr präsent und hat ihre beachtliche Fähigkeit zur Mobilisierung bei den landesweiten Marchas de la Dignidad (Marsch der Würde) im vergangenen Jahr erneut eindrucksvoll bewiesen, an denen weit über eine Million Menschen teilnahmen.
Allerdings zeigte sich, dass es dem durch M15 ausgelösten Protestzyklus nicht gelang, die von ihm offen gelegte Systemkrise für eine nachhaltige Erschütterung des gegenwärtigen Regimes auch auf institutioneller Ebene zu nutzen. Die politischen und administrativen Institutionen begegneten dem Protest einerseits mit den üblichen repressiven Mitteln, zeigten sich gleichzeitig aber eher stoisch gegenüber dessen inhaltlichen Forderungen.
Die Protestbewegung ihrerseits fand keinen Weg, um diese Blockierung zu überwinden, so dass sich Teile der Bewegung daran machten, den Angriff auf die institutionellen Strukturen zu diskutieren und schließlich auch zu organisieren. Der folgerichtige Schritt sich gezielt auf die parlamentarische Ebene und damit auf Wahlen einzulassen, führte zur Entstehung von Podemos und entwickelte in kurzer Zeit eine unerwartet große Dynamik.
Entstehung von Podemos
Ausgangspunkt für die Gründung von Podemos war das Manifest Mover Ficha (Steine bewegen) der überwiegend trotzkistisch orientierten Gruppierung Izquierda Anticapitalista (antikapitalistische Linke), welches im Januar 2014 erschien und von ca. 30 überwiegend Intellektuellen, aus den Bereichen Kultur, Journalismus, Politik- und Sozialwissenschaften unterschrieben wurde. Das Dokument bezeichnet es als notwendig, sich an den Europawahlen im Mai zu beteiligen, mit dem Ziel, sich mit linken Konzepten gegen die europäische Krisenpolitik zu stellen. Als entscheidenden Faktor für den Erfolg wird darin die Mitwirkung von Persönlichkeiten mit medialer Ausstrahlung bezeichnet.
Dem entsprach, dass als Kopf und Gesicht dieser Initiative der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Complutense in Madrid (UCM), Pablo Iglesias, präsentiert wurde, er ist in Spanien hauptsächlich durch seine Auftritte in zahlreichen Talkshows in Radio und Fernsehen bekannt. Zum engeren Führungskreis gehörten von Beginn an weitere linke Intellektuelle die ebenfalls an der UCM unterrichten, wie der aus der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) stammende und als rechte Hand von Iglesias geltende Juan Carlos Monedero, die ebenfalls in der medialen Öffentlichkeit sehr präsente Carolina Bescansa oder Iñigo Errejón. Auffallend ist, dass nicht nur die Führungsgruppe von Podemos sondern die AktivistInnen in den Basisgruppen insgesamt verhältnismäßig jung sind, Pablo Iglesias ist mit 36 Jahren altersmäßig keine Ausnahme.
Um landesweit vertreten zu sein und die Arbeit von Podemos zu entwickeln, wurden lokale aber auch thematische Basisgruppen gegründet, sogenannte Circulos Podemos (Zirkel). Mit dieser Organisationsstruktur beteiligte sich die Bewegung bereits fünf Monate nach ihrer Gründung an den Wahlen zum europäischen Parlament im Mai 2014, die KandidatInnen waren zuvor in Vorwahlen durch die Basisgruppen bestimmt worden. Zur Überraschung der spanischen und der internationalen Öffentlichkeit erreichte Podemos auf Anhieb 8% der Stimmen und damit 5 Sitze. Überproportional stimmten für Podemos jüngere WählerInnen, Arbeitslose, frühere WählerInnen der Sozialisten und Personen, die ansonsten nicht gewählt hätten.
Die Konstituierung von Podemos als Partei war für den Herbst 2014 festgelegt worden. Im Juni wurde in einer zweitägigen Internetabstimmung eine 25 köpfige Gruppe zur Vorbereitung des Gründungstreffens gewählt, wobei das Verfahren und die Fristen durchaus umstritten waren. An der Abstimmung über zwei konkurrierende Listen beteiligten sich ca. 55 000 Personen, die von Pablo Iglesias angeführte Liste erhielt 87% der Stimmen.
Zwischen September und November fanden Asambleas unter dem Motto Si se puede (Ja man kann) statt, die in ihrer Gesamtheit als konstituierende Versammlung angelegt waren. Dabei wurden von Einzelpersonen, vor allem aber von dem Kreis Claro que podemos (klar, wir können), zu dem auch die Gruppe um Pablo Iglesias gehörte, Papiere zu ethischen, politischen und organisatorischen Grundpositionen vorgelegt, die in den Basisgruppen und danach überarbeitet und in fünf themenbezogenen Entschließungen, sogenannte resoluciónes, zusammengefasst wurden. Über diese wurde in einem Online-verfahren abgestimmt und daraus entstand das Programa Colaborativo, eine Art gemeinschaftlich erstelltes Parteiprogramm.
Zur Organisationsfrage gab es zwei konkurrierende Entschließungsanträge, wobei der von VertreterInnen der Izquierda Anticapitalista (u.a. Pablo Echenique und Teresa Rodriguez) verfasste Antrag horizontalere und demokratischere Strukturen vorschlug, jedoch nur 12 % der Stimmen erhielt, gegenüber 81 % die für das Papier von Claro que podemos stimmten, welches mit der erforderlichen Handlungsfähigkeit der Partei argumentierte und eher auf Effizienz und die Belange der Parteiführung ausgerichtet war.
Am 8./9. November fand die Debatte zwischen den Kandidaten für die Wahl zu den Parteiämtern auf nationaler Ebene statt und am 15. November, dem Schlusstag der Serie von asambleas, wurde das Wahlergebnis bekannt gegeben. Als Generalsekretär wurde mit 89 % der 107 000 abgegebenen Stimmen Pablo Iglesias gewählt, wahlberechtigt waren 250 000 Personen.
Die Abstimmungsergebnisse sind symptomatisch für den gesamten Entstehungsprozess von Podemos, bei dem zwar basisdemokratische Grundsätze der M15 Bewegung beibehalten und auch angewendet wurden, sich letztlich aber jeweils der Führungsanspruch der Gruppe um Iglesias durchsetzte. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte der gekonnte Umgang mit den Medien sein und dabei vor allem die Fernsehauftritte von Pablo Iglesias, welche Podemos in Spanien sozusagen zu einer Marke machten.
Dass daraus Widersprüche und Schwierigkeiten mit Teilen der Basis entstehen ist der Führung durchaus bewusst, wie auch eine Aussage von Juan Carlos Monedero zeigt: „Das Problem ist, wenn du die Beteiligung stärkst schwächst du die Ausführung und wenn du die Ausführung stärkst schwächst du die Demokratie.“ Und weiter: “Wir müssen das richtige Verhältnis zwischen den beiden Elementen herausfinden und das richtige Verhältnis zwischen Ausführung und Partizipation lässt sich nur auf dialektische Weise finden, mit sehr viel Überlegung“.
Im Rahmen der Asambleas wurde auch entschieden, dass sich Podemos bei den im Mai 2015 stattfindenden Kommunalwahlen und den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zu den meisten Regionalparlamenten (noch) nicht unter seinem Namen beteiligen wird, stattdessen werden sich die lokalen Zirkel in Bürgerplattformen, Wählervereinigungen und ähnlichen Bündnissen einbringen. Die Hauptanstrengungen der Partei sind darauf gerichtet, bei den Parlamentswahlen Ende 2015 stärkste Partei zu werden, um einen Regierungs- und Politikwechsel einzuleiten.
Selbstverständnis und politische Ziele von Podemos
Was aber wären die Inhalte eines solchen Politikwechsels, welches sind die Ziele von Podemos? Es gibt kein Parteiprogramm im klassischen Sinne. Neben dem erwähnten Programa Colaborativo erhielt das im Auftrag von Podemos von den beiden Ökonomen Vincenç Navarro und Juan Torres verfasste Diskussionspapier Un Proyecto Económico para la Gente (ein wirtschaftspolitisches Projekt für die Leute) größere öffentliche Aufmerksamkeit. Außerdem haben sich Pablo Iglesias und anderen Führungspersonen wiederholt zu den Zielen von Podemos geäußert. Aus all dem lassen sich Botschaften entnehmen, welche die politischen Absichten der Partei erkennen lassen, einige Punkte sollen hier kurz skizziert werden.
- Schulden: Die Aussagen hierzu sind recht vage. Als unverzichtbar gilt die Neuverhandlung und Umstrukturierung der Schuldenvereinbarung mit der EU, dafür wird angestrebt mit anderen “peripheren“ Ländern zu kooperieren, mit welchen und wie bleibt offen. Einen Teil der Schulden nicht zu bezahlen ist eine Option, bevor es dazu kommt soll ein Schulden-Audit stattfinden, durchgeführt von unabhängigen Experten und unter effektiver sozialer Kontrolle. Neben öffentlichen Schulden sollen auch Unternehmens- und die Hypothekenschulden in das Audit einbezogen werden. Bei letzteren wird ein Moratorium bzw. Streichung für Familien mit geringem Einkommen gefordert. Die Zurücknahme des geänderten Artikels 135 der Verfassung (Schuldenbremse) ist Teil des Programms, wurde zuletzt aber nicht mehr erwähnt.
- Mindestlohn: Angestrebt wird eine signifikante Erhöhung auf ein Niveau, das ein würdevolles Leben ermöglicht. Dazu Pablo Iglesias: „Momentan beträgt der Mindestlohn 645 Euro und wird 14 mal gezahlt. Es ist offensichtlich, dass eine Person die Strom und Wasser bezahlen muss, die Kinder in die Schule zu bringen hat, eine Familie zu versorgen und eine Wohnung zu bezahlen hat, nicht in Würde von 645 Euro monatlich leben kann.“
- Grundeinkommen: Es soll ein bedingungsloses Grundeinkommen für jede und jeden geschaffen werden, dessen Höhe vor extremer Armut schützen soll, angestrebt werden 600 Euro. Allerdings ist nicht klar, welcher Personenkreis anspruchsberechtigt sein soll.
- Arbeitszeit und Rentenalter: Im Wahlprogramm zur Europawahl wird die 35 Stundenwoche und das Renteneintrittsalter mit 60 Jahren gefordert. Diese Forderung taucht zwar im Programm der Bürgerversammlung nicht mehr auf, wurde jedoch seitdem von Iglesias und anderen Führungspersonen mehrfach wiederholt.
- Korruption: In einem der Programmdokumente (resoluciónes) ist ein Bündel von Maßnahmen und Gesetzesverschärfungen zur Bekämpfung der Korruption zusammengefasst. Erleichtert werden soll die Klagemöglichkeit der Bevölkerung durch die Verringerung der dabei entstehenden Kosten.
- Abschaffung sogenannter Drehtüren, die den seit Jahrzehnten praktizierten direkten Übergang von der Politik in die Wirtschaft ermöglichen.
- Einführung einer Reichensteuer, Begrenzung von Höchstgehältern. Konkrete Zielvorgaben sind noch zu entwickeln.
- Natoaustritt: Ein solcher ist im Parteiprogramm zwar nicht vorgesehen, die Ablehnung der NATO und vor allem die Präsenz von ausländischem Militär (USA) auf den Nato Basen wird jedoch stark betont.
- Wohnrecht: Beendigung der Zwangsräumungen; Straffreiheit für die Besetzung leeren Wohnraums, wenn die Besetzer keine andere Wohnung haben; Einführung weiterer Schutzrechte sowie sozialer Kriterien bei der Wohnungsvergabe.
- Gesundheitswesen: Beendigung der Privatisierungen und Rückführung privatisierter Bereiche ins öffentliche Gesundheitssystem.
Viele Programmpunkte von Podemos wirken unfertig, mehrdeutig und teilweise sogar widersprüchlich. Zwar geht es ausdrücklich um die Demokratisierung der Gesellschaft, um die Beteiligung der Bevölkerung, um den Bruch mit der Austeritätspolitk der Troika und um die Verteidigung der sozialen Errungenschaften, allerdings gibt es kein eindeutiges ökonomisches und soziales Konzept, welches die Grundlage dafür sein soll.
Die Mehrdeutigkeit und programmatischen Lücken werden jedoch nicht als Problem gesehen, sondern als notwendige Offenheit, die es erlaubt die Demokratisierung und den Umbau der Institutionen auf den unterschiedlichen Ebenen als gesellschaftlichen Prozess zu organisieren, an dem möglichst viele teilnehmen sollen. Dies kann jedoch nur dann geschehen, wenn nicht schon alles vorbestimmt ist. Dazu nochmals Monedero: „Podemos ändert sich mit den Leuten. Es fing als Manifest an, „Steine bewegen“, danach entstanden eine Methodologie, die circulos, die Vorwahlen, schließlich die Programmdiskussion der Basis und jetzt sind es 1.250.00 Stimmen (bei der Europawahl, HM). Zu jedem Zeitpunkt mussten wir Antworten geben auf das, was in Podemos unverrückbar ist, das Vertrauen in die Leute.“
Aufgrund der Bereitschaft sich in Sprache, Sichtweisen und Forderungen an die Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung anzupassen, wird Podemos häufig Populismus vorgeworfen. Als Beispiel wird stets auch auf den Begriff der Kaste verwiesen, mit dem Podemos das traditionelle Zweiparteiensystem und die damit verbundenen Strukturen in Staat und Wirtschaft pauschal bezeichnet, die es abzulösen gilt. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass sich die unter Druck geratenen Altparteien, vor allem die sozialistische PSOE bemühen, den deutlich lockereren Ton und das engagiertere Auftreten von Podemos zu imitieren.
Als weiteren Beleg für den Populismusvorwurf wird die angebliche Orientierung an politischen Prozessen angeführt, die fortschrittliche Regierungen in Venezuela und Bolivien an die Macht gebracht haben, auch der Vergleich mit dem argentinischen Peronismus wird herangezogen. Dies ist naheliegend, da einige Personen aus der Führungsriege von Podemos zeitweise Regierungsinstitutionen in Venezuela und Bolivien beraten haben und richtig ist, dass in einigen Ländern Lateinamerikas politische Transformationsprozesse durch Wahlsiege in Gang gesetzt wurden, die aus Revolten gegen die sozialen Folgen neoliberaler Politik hervorgingen. Diesbezüglich gibt es durchaus Parallelen zum rasanten Aufstieg von Podemos, der ohne die Bewegung M15 nicht denkbar gewesen wäre und ähnlich wie beim Chavismus in Venezuela, stark von einer charismatischen Führungsfigur geprägt ist.
Allerdings unterscheidet sich die ökonomische und gesellschaftliche Ausgangslage in Spanien von der in den genannten Ländern erheblich. Dies gilt auch für die politischen Formen der sozialen Bewegungen, die in starkem Maße von Selbstorganisation und Alltagssolidarität geprägt sind. Bei der von Podemos angestrebten Aushandlung einer neuen Verfassung zur Demokratisierung der Gesellschaft wird es darauf ankommen, diese politischen Grundwerte und Formen durch aktive Beteiligungsrechte der Bevölkerung an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen dauerhaft zu verankern.
Die im November 2014 beschlossene Parteistruktur versucht diesem Anspruch zunächst für die eigene Organisation gerecht zu werden. Deren detaillierte Darstellung würde an dieser Stelle zu weit führen, sie ist jedoch auch im Hinblick auf Erfahrungen interessant, die bei uns mit basisdemokratischen Ansätzen, z.B. im Zusammenhang mit den Grünen, gemacht wurden und wäre einen eigenen Beitrag wert. Die Grundstruktur soll dennoch kurz skizziert werden.
Die Basisgruppen (circulos) bilden erklärtermaßen das Fundament der Partei, dadurch sollen die Bürgerbeteiligung, die wirtschaftliche Transparenz und die demokratische Kontrolle garantiert werden. Die demokratische Willensbildung von unten nach oben soll durch Bürgerversammlungen (Asambleas Ciudadanas) auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene geschehen. Zwischen den Bürgerversammlungen werden die koordinierenden Aufgaben von gewählten Räten (consejos) wahrgenommen. Darüber hinaus sind verschiedene Kontrollgremien vorgesehen, wie beispielsweise die Kommission für Demokratische Garantien (Comisión de Garantías Democráticas).
Die Repräsentation der Partei nach außen ist Aufgabe des Parteisekretariats (Secretaría General) deren Mitglieder ebenfalls von der Parteibasis gewählt werden. Schließlich sind eine Reihe von Verfahren und Methoden vorgesehen, welche die Initiativen und Beteiligungen der Basis anregen und erleichtern sollen. Bei all diesen Verfahren sollen sowohl repräsentative als auch telematische (Internet, Apps, etc.) Informations- und Abstimmungsmöglichkeiten verwendet werden, um eine möglichst breite Beteiligung der Mitglieder zu erreichen .
Das Gelingen des von Podemos beabsichtigten Umwälzungsprozesses zur Wiedererlangung der Souveränität der Bevölkerung und der (Re) Demokratisierung dürfte auch davon abhängen, wie weit sich die erwähnten organisatorischen Zielvorstellungen in der Praxis werden verwirklichen lassen und wie sich das Verhältnis zwischen den hunderttausenden AktivistInnen die in der Partei und den sozialen Bewegungen engagiert sind und der relativ kleinen Führungsgruppe von Podemos, auf Dauer entwickeln wird.
Weitere Informationen und Diskussion u.a. in:
Friedrich Ebert Stiftung, Austeritätspolitik in Europa: Spanien http://library.fes.de/pdf-files/id-moe/09290.pdf
¿Que si nos representan? Sechs Thesen zur spanischen Partei Podemos http://nhuke.blogsport.de/2014/12/03/que-si-nos-representan-sieben-thesen-zur-spanischen-partei-podemos/
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