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Zeitenwende: Mehr Gemeinsamkeit, Solidarität und kollektives Wohl anstelle von Überbetonung individuellen Eigeninteresses, sozialer Ungleichheit und von diskriminierender Selektion im Bildungsbereich

Der Soziologe Andreas Reckwitz hat kürzlich in einem Beitrag für „Die Zeit“ eine Zeitenwende vom individuellen Eigeninteresse zur Unterordnung unter kollektives Wohl festgestellt. Individualismus und Ökonomisierung als die zwei Seiten des Liberalismus werden infolge der Corona- und der Klimakrise durch stärkere Orientierung am Gemeinwohl zurückgedrängt.

Dazu passend und ergänzend sind in jüngster Zeit zwei Publikationen erschienen, die ebenfalls das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen. Lea Susemichel und Jens Kastner (2021) haben den Band „Unbedingte Solidarität“ herausgegeben, in welchem internationale Solidarität gefordert wird.

Dem Wunsch nach mehr Gemeinwohl ist auch der von Manfred L. Pirner, Michaela Gläser-Zikuda und Michael Krennerich (2022 herausgegebene Band „Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule“ gewidmet, der die Aufhebung sozialer Diskriminierung im Bildungsbereich fordert.

1. Unterordnung des Eigeninteresses unter kollektives Wohl

Die Corona- und die Klimakrise haben nach Reckwitz (2021) einen Paradigmenwechsel vom Vorrang persönlicher Freiheiten zu stärkerer Berücksichtigung gesellschaftlicher Verpflichtungen geführt. Während in den siebziger Jahren eine Abkehr von traditionellen Werten zu Selbstverwirklichungswerten erfolgt ist und es zu einer Expansion von Wettbewerbsstrukturen kam, hat die Corona-Epidemie Impfen als Verpflichtung für das Gemeinwohl anstelle persönlicher Freiheit in den Vordergrund gestellt.
Während die 68er Bewegung Emanzipation und Selbstbestimmung zu zentralen Werten erklärte, verlangt die Fridays-for-Future Bewegung im Interesse des Schutzes der Erde und der Zukunft der Bevölkerung auf die Ausschöpfung vieler Möglichkeiten zu verzichten.
Sowohl Impfpflicht als auch die Unterordnung unter Nachhaltigkeit bei der Verfolgung von Klimazielen rufen jedoch auch Widerstände bei Libertären hervor, die auf Freiheitsrechte pochen. Deswegen wird die Politik die Durchsetzung von Pflichten zum Beispiel durch die Schaffung von Anreizen ergänzen müssen, um Spaltungstendenzen entgegenzuwirken.

2. Solidarität

Solidarität hat viele Facetten, die hier nur auszugsweise referiert werden können. Ihr Ziel ist die Überwindung von Trennendem. An die Stelle von Konkurrenz aller gegen alle tritt Brüderlichkeit. Statt eines Kampfes jeder gegen jeden wird ein humanistisches Menschenbild entwickelt, das Kooperation in den Mittelpunkt stellt. Zu diesem Menschenbild gehören auch universelle Werte wie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung (Lea Susemichel & Jens Kastner 2021,24).
Solidarität ist auch im Zusammenhang mit Identitätspolitik möglich, sofern sozial Schwächere dadurch nicht ausgeschlossen werden. Neben linken Solidaritätskonzepten, die in der Regel internationalistisch sind und Menschen mit anderem sozialen und kulturellen Hintergrund nicht ausschließen, sind rechte Solidaritätskonzepte exklusiv und zielen auf Abschottung. Sie stellen auch Machtverhältnisse nicht infrage und richten sich in der Tendenz immer gegen Schwächere (a. a. O., 46).
Mitleid und Mitgefühl unterscheiden sich von Solidarität, weil sie nicht auf einer symmetrischen Beziehung beruhen, die andere trotz Unterschieden auf gleicher Augenhöhe sieht. Andere als hilflose Opfer zu betrachten, kann auch dazu führen, dass ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird.
Für die Bewältigung von sozialen und Umweltproblem ist heute eine kosmopolitische Einstellung wegen globaler Abhängigkeit dringender denn je. Die Koppelung sozialer Rechte an die nationale Staatsbürgerschaft ist mit dem Anspruch von auf Menschenrechten basierender Solidarität nicht vereinbar.
Als Minimalprogramm für eine globale Solidaritätsbewegung stellt Torsten Bewernitz (2021, 233 f.) folgende Forderungen: „Die Thematisierung und Reduzierung des körperlichen Arbeitsleids, die wir in vielen spontanen Streiks während der > Corona-Krise< beobachtet und erlebt haben, die dringend notwendige Forderung nach einer vollständigen Sozialisierung des gesamten Gesundheitswesens sowie einer allgemeinen, gleichen und öffentlichen Krankenversicherung für alle, gleiche und vollkommene Mobilität für alle Menschen, die Priorität des Menschen und seiner Umwelt vor der Mehrwertakkumulation…“.
Ein solches Solidaritätsprogramm steht im krassen Gegensatz zu nationalistischen Parolen wie „America first“ und fordert von allen Beteiligten erhebliche Anstrengungen.
Als ein wesentliches Merkmal von Solidarität wird auch Inklusion gesehen (Rahel Jaeggi, 2021, 55), weil so die eigene Situation mit der Situation anderer in Beziehung gesetzt werden kann. Inklusion kann als guter Übergang zu Solidarität im Bildungswesen betrachtet werden, die im nächsten Abschnitt behandelt wird.

3. Aufhebung sozialer Diskriminierung im Bildungsbereich: Solidarität im Bildungswesen

In ihrem Fazit zum Thema Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule stellen Michael Krennerich und Michaela Gläser-Zikuda (2022, 323) fest: „Jörg Maywald mahnt an, das vielgliedrige Schulsystem in Deutschland (und die damit verbundene Tendenz zu früher Selektion) daraufhin zu prüfen, ob es den Anforderungen an ein – auch sozial – inklusives Bildungssystem entspricht“.
Nur wenn es diesen Anforderungen entspreche, würden die in der UN-Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention formulierten Rechte erfüllt. Faktisch ist dies nicht der Fall, wie unter anderem die unzureichende Beschulung von geflüchteten Kindern zeigt. In mehreren Bundesländern werden diese dauerhaft in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften unterrichtet ohne Kontakt zu Gleichaltrigen in Regelschulen zu haben. 
Zentrales Thema ist neben der nicht ausreichenden Inklusion von Flüchtlingskindern und Kindern mit Behinderung die Diskriminierung sozial benachteiligter Kinder, die in zahlreichen Studien nachgewiesen wurde. Seit der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 hat sich daran nicht viel geändert.
Neben unzureichender Förderung und abwertender Benotung durch das differenzielle Notensystem sind hierfür auch die zunehmende Wohnsegregation und die Gründung von privaten Grundschulen verantwortlich. Kinder aus armen Familien werden dadurch nicht nur Bildungschancen vorenthalten, sondern sie tragen auch gesundheitliche Schäden davon, weil ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird. Sie zeigen eine erhöhte Anfälligkeit für psychische und psychosomatische Beschwerden (Ramona Obermeier und Michaela Gläser-Zikuda 2022, 82).
Neben der Abschaffung der klassistischen Segregation durch Förderschulen, Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien ist eine Orientierung an dem zuerst von Amartya Sen entwickelten „capability approach“ erforderlich, durch welchen die Gesellschaft Voraussetzungen dafür schaffen muss, dass Menschen ihr volles Potenzial entfalten können (Jutta Croll 2022, 283). Für die in der UN-KRK (Kinderrechtskonvention) geforderte Umsetzung des Kindeswohls kann dieser Ansatz einen guten Beitrag leisten.

4. Fazit

Die von Reckwitz festgestellte verstärkte Orientierung am Gemeinwohl bietet die Chance, die Kritik an neoliberalen Ideologien wie Wettbewerb und Förderung von Ungleichheit politisch umzusetzen. Diese Umsetzung ist jedoch kein Automatismus. Die notwendige internationale Solidarität zur Bekämpfung der Pandemie zum Beispiel durch Bereitstellung von Impfstoff für andere Länder und deren Unterstützung bei der Bekämpfung von Folgen der Klimaveränderung lässt sich nur erreichen, wenn nationalistische Abschottungen, die in den letzten Jahren ebenfalls zugenommen haben, erfolgreich bekämpft werden. Hierzu sind weiterhin große Anstrengungen aller internationalistisch orientierten politischen Kräfte erforderlich.
Berücksichtigung von Gemeinwohl bedeutet nicht die Aufgabe individueller Freiheiten, sondern nur, dass im Sinne von Kants kategorischem Imperativ die Freiheit dort Grenzen hat, wodurch das individuelle Handeln – wie bei der Impfverweigerung – anderen Schaden zugefügt wird.

Literatur
Beweritz, Thorsten (2021): Solidarität und Gewerkschaftlichkeit. Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. In: Susemichel, Lea &   Kastner, Jens (HG): Unbedingte Solidarität. Münster 2021, 13-48.
Croll, Jutta (2022): Zwischen Schutz, Befähigung und Teilhabe. Kinderrechte im Kontext der Digitalisierung – Konsequenzen für die Bildungsarbeit. In: Pirner, Manfred L., Gläser-Zikuda, Michaela & Krennerich, Michael (HG): Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule. Frankfurt/M. 2022, 321-324.
Jaeggi, Rahel (2021): Solidarität und Gleichgültigkeit. In: Susemichel, Lea & Kastner, Jens (HG): Unbedingte Solidarität. Münster 2021, 49-66.
Krennerich, Michael und Gläser-Zikuda, Michaela (2022): Fazit: Kinderrechte in Schulen – Problemanzeige und Impulse. In: Pirner, Manfred L., Gläser-Zikuda, Michaela & Krennerich, Michael (HG): Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule. Frankfurt/M. 2022, 321-324.
Obermeier, Ramona & Gläser-Zikuda, Michaela (2022): Das Kinderrecht auf Gesundheit und Wohlbefinden. In: Susemichel, Lea &   Kastner, Jens (HG): Unbedingte Solidarität. Münster 2021, 81-97.
Reckwitz, Andreas (2021): Die Pflicht ruft. Die Zeit, 14.12.2020 21, 6.
Susemichel, Lea & Kastner, Jens (2021): Unbedingte Solidarität. In: Susemichel, Lea &   Kastner, Jens (HG): Unbedingte Solidarität. Münster 2021, 13-48.


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