Wirtschaft demokratisch gestalten lernen Zur Konzeption der Attac-Bildungsmaterialien
Dabei wird der Befund von Hertelt/May (2016, 127) geteilt, dass die konzeptionellen Überlegungen der kritischen politischen Bildung „keineswegs herkömmliche[n] didaktische[n] Konzeptionen widersprechen“, sondern sich hauptsächlich „gegen einen unpolitisch und relativistisch wahrgenommenen Problem- und Kontroversenformalismus“ wenden. Eine längere Fassung des Artikel mit Beispielen aus den Bildungsmaterialien erscheint demnächst in folgendem Buch: Andreas Eis und Claire Moulin-Doos (Hrsg.): Kritische politische Europabildung. Die multiple Krise Europas als kollektive Lerngelegenheit? Reihe: Erfahrungsorientierter Politikunterricht. Band 10, Immenhausen bei Kassel.
1 Spezifische Problemorientierung: Die Agenda der sozialen Bewegungen
Ein erstes Prinzip fachdidaktischen Diskussion ist die Problemorientierung. In diesem Zusammenhang wird betont, dass bereits die Definition eines politischen Problems und die Auswahl entsprechender Probleme für den Unterricht einen politischen Charakter haben und insofern begründungspflichtig sind (vgl. Goll 2014, 258ff). Diesbezüglich schlägt die Frankfurter Erklärung, die Positionen einer explizit kritischen politischen Bildung zur Diskussion stellt, eine spezifische Orientierung an aktuellen gesellschaftlichen Krisenprozessen vor: „Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit“, denn eine reine „Kompetenzorientierung wird didaktisch substanzlos, wenn politisches Wissen und Fähigkeiten nicht auf die politische Gestaltung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsfragen bezogen werden“ (Frankfurter Erklärung 2015).
Die Bildungsmaterialien von Attac können sich an dieser Stelle auf das Selbstverständnis der Organisation als Teil der globalisierungskritischen Bewegung beziehen. Es ist Kennzeichen sozialer Bewegungen, bislang vernachlässigte gesellschaftliche Probleme und alternative Entwicklungspfade in die Debatte zu bringen. Dazu werden neben Informations- und Diskussionsveranstaltungen zahlreiche Partizipationsformen von der Initiierung von Unterschriftenlisten, über verschiedene Aktionsformen, bis hin zum zivilen Ungehorsam realisiert. Insofern haben soziale Bewegungen eine spezifische kritische Funktion bezüglich der Definition politischer Probleme.
Dementsprechend greifen die bisher veröffentlichten Materialien von Attac zwei Themen auf, die in den letzten Jahren europaweit Anlass für die größten Proteste der jüngsten Zeit waren, nämlich die Frage nach der politischen Bearbeitung der Eurokrise und die Auseinandersetzung um EU-Handelsabkommen wie TTIP und CETA. Im Zuge der Krisenproteste, die in Griechenland und Spanien die stärkste Wirkung in der Gesellschaft und im politischen System entfalteten, kamen auch in Deutschland über drei Jahre mehrere zehntausend Menschen zu Demonstrationen und Blockaden gegen die EZB – als Teil der sogenannten Troika – nach Frankfurt. An den ebenfalls europaweiten Protesten gegen die Handelsabkommen beteiligten sich in Deutschland wiederholt mehrere hunderttausend Bürger*innen. Beide Themen sind also offensichtlich von aktueller politischer Relevanz. Zugleich treten sie thematisch in vielerlei Hinsicht das Erbe des globalisierungskritischen Protestzyklus seit Ende der 1990er Jahre an, in dessen Zuge Attac gegründet wurde.
2 Wissenschaftsorientierung im Spannungsfeld politischer Konflikte
Die globalisierungskritische Bewegung entstand als Gegenbewegung zur politischen Vorherrschaft des sogenannten Neoliberalismus. Der angeblich alternativlosen Privatisierung öffentlich kontrollierter Sektoren und der Deregulierung der (Finanz-, Handels-, oder Arbeits-) Märkte hielt sie Slogans wie „Die Welt ist keine Ware“ oder „Mensch und Umwelt vor Profit“ entgegen. Dies impliziert die Kritik am neoklassischen Paradigma, das nicht nur die Wirtschaftswissenschaften weithin dominiert, sondern dessen Modelle zudem auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche übergreifen und sie Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen. Die weltanschaulichen und wissenschaftlichen Grundlagen dieser Kritik sowie die daraus erwachsenden Kampagnen und Projekte von Attac folgen dabei keinem bestimmten theoretischen Paradigma, sondern sind vielfältig. So finden sich zum Beispiel im Wissenschaftlichen Beirat Vertreter*innen verschiedener Disziplinen und Paradigmen. In den Debatten finden sich Argumente aus unterschiedlich (etwa keynesianisch, marxistisch, feministisch oder ökologisch) ausgerichteten Theorien, deren genaue Zuordnung kaum sinnvoll wäre. Vor diesem Hintergrund ist auch das Bildungsmaterial von Attac nicht ‚neutral’. Es geht ausdrücklich darum, (vielfältige) Gegenexpertisen zu den dominierenden neoklassischen Sichtweisen auf wirtschaftliche Prozesse einzubringen. Damit wird zwar eine spezifische Position eingenommen, die aber dennoch am „aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnistand[.] ausgerichtet“ (Juchler 2014, 285) ist, ohne bestimmte Theorien zu verabsolutieren. Dennoch werfen die mit dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung verbundenen Vorstellungen von Kontroversität Fragen auf, wenn einerseits unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen und andererseits kritisches Denken qua Wissenschaft betont werden (vgl. ebd., 288f).
So schreibt Juchler, dass „insbesondere auch das ideologiekritische Hinterfragen von Meinungen, Interessen und Machtverhältnissen […] im wissenschaftsorientierten Politikunterricht geübt werden kann“ (ebd., 290). Dies könnte so verstanden werden, als sei die Wissenschaft per se das Gegenteil von Ideologie. Dies ist aber, wie unter anderem die Arbeiten von Foucault gezeigt haben, nicht der Fall. Wissenschaftliche Theorien stehen – trotz ihrer immanenten Rationalitätskriterien – in einem komplexen Wechselspiel mit sozialen Interessen und politischen Kräfteverhältnissen. Dies verdeutlicht auch eine vergleichende Untersuchung von Bildungsmaterialien zur Eurokrise in Deutschland und Frankreich (Kortendiek/ van Treeck 2015). Sie zeigt zum einen, dass die Bildungsmaterialien staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure durch deren spezifische Sichtweisen auf die Krise geprägt sind. Zum anderen kam sie zu dem Ergebnis, dass die Materialien in Frankreich weitgehend einer keynesianischen Sicht auf die Eurokrise folgen, während in Deutschland eine neoklassische Perspektive dominiert. Divergierende wissenschaftliche Theorien sind also immanenter Teil der politischen Auseinandersetzungen und der darauf bezogenen Bildungsprozesse.
Wenn ideologiekritisches Denken gelernt werden soll, muss gerade auch dieser Zusammenhang von Macht und Wissen reflektiert werden. Mit anderen Worten muss die These der Frankfurter Erklärung – wonach „Lernende und Politische Bildner_innen […] in soziale und politische Diskurse eingebunden“ sind und „dazu eine kritisch-reflexive Position“ einnehmen sollen – auch auf wissenschaftliche Diskurse bezogen werden. Es geht um die Abschätzung der Wirkung unterschiedlicher Theorien sowie darauf basierender Politiken in ökonomischer wie sozialer und ökologischer Hinsicht. Damit verbunden ist die Thematisierung von sozialen Ungleichheiten, Interessengegensätzen, Machtasymmetrien und systemischen Zwängen. Methodisch bietet sich dabei an, verschiedene politische Vorschläge (die mindestens implizit auf entsprechende Theorien verweisen) aus der Sicht unterschiedlicher Interessengruppen zu beleuchtet (s.u.). Eine andere Möglichkeit ist die kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich objektiven Aussagen. So bietet zum Beispiel ein Arbeitsblatt zwei konträre Definitionen zum Thema Privatisierung an – nämlich aus dem ‚Duden Wirtschaft von A bis Z’ und von der ‚Attac AG-Privatisierung’ –, auf deren Grundlage sich die Lernenden mit dem strategischen Charakter von Definitionen auseinandersetzen und dann eine eigene Definition erarbeiten können.
3 Kontroversität durch Kritik
Die Verknüpfung wissenschaftlicher Theorien mit politischen Konflikten und divergierenden Interessen zeigt sich auch in der Polarisierung entsprechender wissenschaftlicher Felder. Ein Beispiel ist eben die weitgehende Dominanz der Neoklassik im wirtschaftswissenschaftlichen Feld bei entsprechender Marginalisierung keynesianischer, geschweige denn anderer heterodoxer Ansätze. Auf politischer und medialer Ebene entspricht dies dem Einfluss der sogenannten Wirtschaftsweisen, mit dem regelmäßigen Minderheitenvotum des Gewerkschaftsvertreters, der vergleichsweise geringen Bedeutung des ‚Gegengutachtens‘ der Memorandum-Gruppe und der Marginalisierung der Debatten um Alternativen zum derzeitigen Wirtschaftssystem (vgl. Brand u.a. 2012).
Die Attac-Materialien stellen diese weniger präsenten Ansätze ins Zentrum. Zur Kontroversität trägt das Material gerade dadurch bei, dass es hegemoniale Deutungen mit Alternativen konfrontiert und diese Agenda offenlegt. Dabei geht es um Lernangebote, die bestimmte Perspektiven eröffnen und zur Diskussion einladen und nicht darum, die Lernenden zu manipulieren oder gar zu indoktrinieren. Was den Einsatz in der Schule angeht, ist ohnehin davon auszugehen, dass die Lehrkräfte Materialien von Attac gezielt als kritische Alternative zu anderen Positionen einsetzen, wie entsprechende Anfragen von Schulen zeigen. Die Frankfurter Erklärung bringt das entsprechende Verständnis von Kontroversität auf den Punkt:
„Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet, Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu streiten. […] Kontroversität als didaktisches Prinzip geht hierbei nicht in einer Dokumentation unterschiedlicher Positionen und mitunter ähnlicher (oder bereits einflussreicher) Perspektiven auf. [...] Aufgabe einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit ist es, ausgeschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar zu machen. Welche gesellschaftlichen Grundprobleme werden öffentlich thematisiert, welche Stimmen werden gehört und welche Akteur*innen setzen ihre Vorstellungen des Gemeinwohls durch?“ Grammes (2014b, 271) betont, dass das Kontroversitätsprinzip „methodisch vor allem durch Mehrperspektivität oder Multiperspektivität umgesetzt“ wird. Zugleich konstatiert er jedoch, dass in „der Praxis demokratischer Öffentlichkeit und medialer Selbstdarstellung [...] strukturelle Kontroversen oft dethematisiert“ und durch postdemokratische „Scheinkontroversen“ (ebd., 268) ersetzt werden. Gerade dann gilt es Multiperspektivität zu schaffen, indem gesellschaftlich schwelender Dissens ins Zentrum gestellt wird. So bietet Attac Materialien und Methoden an, mit denen die jeweiligen Themen aus der Perspektive unterschiedlicher ökonomischer Theorien und Interessengruppen in verschiedenen (europäischen) Ländern betrachtet werden können.
4 Exemplarisches Lernen
Auch wenn die Themenauswahl an aktuellen sozialen Bewegungen orientiert ist, zielen die Materialien im Sinne des exemplarischen Lernens (vgl. Grammes 2014a) auf die Erarbeitung von Grundverständnissen, die über den einzelnen Fall hinausweisen. Zu den allgemeinen Fragen, die am je konkreten Beispiel behandelt werden, gehören insbesondere die Rolle sozialer Bewegungen, das Spanungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie sowie die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Theorien, sozialen Ungleichheiten, Interessengegensätzen und Machtasymmetrien. Stärker auf die aktuelle Situation bezogen ließe sich auch sagen, es geht um die kritische Auseinandersetzung mit der Dominanz des Neoliberalismus und den damit einhergehenden Tendenzen zur Postdemokratie. Diese können als zeitgenössische Schlüsselprobleme aufgefasst werden, die anhand aktueller Konflikte in verschiedenen Politikfeldern bearbeitet werden können.
5 Orientierung an den Lernenden
Dies Themensetzung steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zur „Adressatenorientierung“ (vgl. Petrik 2014), beziehungsweise zur Orientierung an den Interessen und Voraussetzungen der Lernenden. Denn die Attac-Materialien rücken Konflikte ins Zentrum, die in der Regel nicht den Prioritäten von Schüler*innen entsprechen und die auf den ersten Blick relativ weit von ihrem Alltag entfernt scheinen. Genauer betrachtet haben Fragen der politischen Ökonomie freilich eine ganze Menge mit Alltagserfahrungen zu tun, aber genau dies zu verdeutlichen ist oft nicht ohne „pädagogische Fremdheitszumutungen“ (Ziehe, zitiert nach Petrik 2014, 245) möglich. Im besten Falle gelingt es, die politischen Konflikte so einzuführen, dass die Frage ‚was hab ich damit zu tun’ von Anfang an im Blick ist.
Zudem können auch abstrakte Themen methodisch so aufbereitet werden, dass sie an den Vorverständnissen der Teilnehmenden ansetzen und sie von Beginn an aktiv einbeziehen. So ermöglicht etwa das auf Augusto Boal zurückgehende Statuen-Theater einen weitgehend körperlichen Einstieg in abstrakte Themen, der an den Erfahrungen der Teilnehmenden ansetzt und Veränderungsperspektiven eröffnen kann. Mit solchen Zugängen, die an den Vorverständnissen ansetzen und der „leiblich-emotionale(n) Komponente“ (Frankfurter Erklärung) politischer Urteilsbildung Rechnung tragen, kann es gelingen, dass die Lernenden auch zunächst fernliegende Themen ‚zu ihrem Thema machen’ und nicht zuletzt bei der Entwicklung politischer Alternativen mit Eifer dabei sind.
6 Handlungsorientierung: Das Repertoire der sozialen Bewegungen
Ein Ziel des Materials ist es schließlich, das Handlungsrepertoire sozialer Bewegungen zu thematisieren. Damit wird einerseits die Frage des „Lernens in Bewegungen“ aufgenommen, von der die Entwicklung des didaktischen Prinzips der Handlungsorientierung einmal ausging, ohne andererseits die berechtigten Einwände insbesondere im Hinblick auf den schulischen Kontext zu übergehen (vgl. Reinhardt 2014, 276ff; Trumann 2013). So ist das Material nicht in dem Sinne handlungsorientiert, dass die Lernenden unmittelbar (zu den behandelten Themen) politisch aktiv werden sollen. Sondern es geht darum, Kampagnen oder einzelne Aktionen von Bewegungsgruppen rückblickend zu thematisieren und im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und damit die realen Einflussmöglichkeiten von Bewegungen und NGOs zu diskutieren.
Selbstverständlich sollen die Materialien die Lernenden insgesamt anregen politisch aktiv zu werden und ihnen entsprechende Werkzeuge an die Hand geben. „Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern“, heißt es zu Recht in der Frankfurter Erklärung. Im Rahmen der staatlichen Zwangsveranstaltung Schule unmittelbar auf politisches Handeln zu zielen wäre aber – anders als im Rahmen freiwilliger Bildungsprozesse in Gewerkschaften, NGOs und Bewegungsgruppen – in der Tat fragwürdig. Proteste und Revolutionen finden gegebenenfalls auf der Straße statt und nicht im Klassenzimmer unter der Aufsicht von Beamt*innen.
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