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Vorläufige Anwendbarkeit von CETA

Es wird darüber diskutiert und informiert, dass CETA vorläufig angewendet werden soll. Gleichzeitig bestehen offenbar Unklarheiten darüber, wie das möglich ist und welche Probleme damit verbunden sind. Das soll hier kurz in Abgrenzung zum „regulären“ Vertragsschlussverfahren erläutert werden.

CETA (und TTIP) sind völkerrechtliche Verträge. Diese werden zwischen Staaten abgeschlossen und verpflichten die Staaten in der Regel bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder zu unterlassen. Der Vertragsschluss geschieht in mehreren Schritten: Zunächst verhandeln die Parteien, also die vertragsschließenden Staaten, einen Vertragstext. Diese Verhandlungen übernehmen in der Regel Regierungsmitarbeiter, die sich in der Sache auskennen (sollten), also die staatliche Bürokratie. Haben sich die Unterhändler in Rücksprache mit ihrer Regierung auf einen Textentwurf geeinigt, unterzeichnen die Vertreter der Vertragsparteien, in der Regel Mitglieder der Regierung, den Text (1. Unterzeichnung). Die Regierung des jeweiligen Staates signalisiert damit dem Vertragsstaat, ich bin mit dem Vertrag einverstanden und frage nun meinen Gesetzgeber, ob er mit dem Vertrag auch einverstanden ist. In der Bundesrepublik bedeute dies: Der Bundestag und – im Falle von CETA – auch der Bundesrat müssen dem Vertrag zustimmen (2. Parlamentarische Zustimmung). Hat die Regierung die Zustimmung ihres jeweiligen Gesetzgebers eingeholt, kann der Vertrag offiziell abgeschlossen werden, d.h. er wird ratifiziert. In der Bundesrepublik wird ein völkerrechtlicher Vertrag durch den Bundespräsidenten ratifiziert (3. Ratifizierung).

Nun stellt sich bei CETA als erstes das Problem, wer eigentlich Vertragspartner ist. Auf der einen Seite ist das eindeutig: die eine Vertragspartei ist Kanada. Auf der anderen Seite wird es schwieriger: Ist die EU alleine oder ist die EU und sind alle Mitgliedstaaten zusammen Vertragspartner von Kanada? Die EU-Kommission steht auf dem Standpunkt − und das hat sie in der Beschlussvorlage zur vorläufigen Anwendbarkeit von CETA noch einmal betont −, dass CETA in die ausschließliche Kompetenz der Europäischen Union fällt, womit die EU alleiniger Vertragspartner von Kanada wäre. Dagegen gab es aber Protest aus den Mitgliedstaaten, weshalb die Kommission trotz rechtlicher Bedenken eine gemeinsame Zuständigkeit von EU und Mitgliedstaaten zugestanden hat. D.h. die europäischen Institutionen, das Parlament und der EU-Rat, auf der einen Seite und die Gesetzgeber der Nationalstaaten auf der anderen Seite müssen danach dem CETA-Vertrag zustimmen. Juristen sprechen deshalb von einem gemischten Vertrag. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass einerseits politische Bereiche oder Materien geregelt werden, die in die ausschließliche Kompetenz der Europäischen Union fallen und andererseits Materien geregelt werden, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen.

Zwischenbemerkung: Juncker hat ein politisches Theater um die Frage der Zuständigkeit aufgeführt. Er erklärte zunächst, dass die EU alleine zuständig sei und wenige Tage später ruderte er scheinbar zurück und ließ verlautbaren, dass aus politischen Gründen auch die Mitgliedstaaten Vertragspartner werden sollen. Mit dem scheinbaren Zugeständnis an die Mitgliedstaaten gönnte Juncker den nationalen Regierungen einen kleinen Erfolg, den sie zuhause gut verkaufen, sich kraftstrotzend auf die Brust schlagen und dem Wahlvolk erklären konnten, dass sie sich gegen die Kommission durchgesetzt haben. Die Komödie ist leicht durchschaubar.

Die Frage, ob CETA als gemischter Vertrag behandelt wird, ist erstens von großer politischer Bedeutung. Alle nationalen Parlamente müssen nun zustimmen, damit CETA in Kraft treten kann. In der Bundesrepublik müssen der Bundestag und der Bundesrat zustimmen. Das ist deshalb spannend, weil die Mehrheitsverhältnisse sich in beiden Gremien unterscheiden. CETA könnte am Widerstand der Grünen und LINKEN im Bundesrat scheitern, wenn diese konsequent bei ihrer ablehnenden Haltung bleiben.

Die Tatsache, dass CETA ein gemischter Vertrag ist, wird weiter relevant für die Frage der vorläufigen Anwendbarkeit. Die vorläufige Anwendbarkeit ist eine Besonderheit des Europarechts und weicht von dem oben ausgeführten Verfahren beim Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages ab. Vor der Ratifizierung kann nach den Vorschriften des Lissabonner Vertrages der völkerrechtliche Vertrag vom Rat, das heißt ohne das Parlament, für vorläufig anwendbar erklärt werden. In Art. 218 AEUV heißt es:

„(5) Der Rat erlässt auf Vorschlag des Verhandlungsführers einen Beschluss, mit dem die Unterzeichnung der Übereinkunft und gegebenenfalls deren vorläufige Anwendung vor dem Inkrafttreten genehmigt werden.“

Einen solchen Beschluss soll der EU Rat auf Vorschlag der Kommission demnächst fassen. Das Interessante dabei ist, dass der Beschluss über die vorläufige Anwendbarkeit sich auf den gesamten Vertrag beziehen soll und nicht nur auf die Teile, die nach Ansicht der Mitgliedstaaten in die Kompetenz der EU fallen. In der Beschlussvorlage heißt es:

„Artikel 1
1. Das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits wird nach dessen Artikel 30.7 Absatz 3 von der Union vorläufig angewendet, bis die für seinen Abschluss erforderlichen Verfahren abgeschlossen sind.“

Ein solcher Beschluss wäre unter mehreren Aspekten mit demokratischen Anforderungen nicht vereinbar:

Erstens kann es nicht sein, dass der EU-Rat Regelungen für vorläufig anwendbar erklärt, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten wird so verletzt. Dabei ist es unerheblich, dass Juncker erklärt hat, die Mitwirkung der Mitgliedstaaten erfolge nur aus politischen Gründen. Wenn der Vertrag nur rechtlich verbindlich abgeschlossen werden kann, wenn die Mitgliedstaaten zustimmen, ist es inkonsequent, wenn er aufgrund einer solitären Entscheidung des EU Rates vorläufig angewendet werden kann.

Zweitens verpflichtet das Demokratieprinzip dazu, dass wesentliche Entscheidungen, die auch Grundrechte von Bürgern betreffen, vom demokratisch gewählten Gesetzgeber getroffen werden. Mit der vorläufigen Anwendbarkeit werden Fakten geschaffen, und Regeln angewendet, die im Zweifel auch Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Bürger und Bürgerinnen haben und in deren Grundrechte eingreifen. Das geschieht nach Art. 218 Abs. 5 AEUV ohne Parlamentsbeteiligung. Mit dem Demokratieprinzip ist das nicht vereinbar. Das Demokratieprinzip gebietet vielmehr eine enge Auslegung der genannten Vorschrift.

Das könnte in diesem Sinne geschehen: Völkerrechtlicher Verträge können vom Rat für vorläufig anwendbar erklärt werden, wenn sie eilbedürftig sind. Als Beispiel kann man etwa an das Robbensterben in der Nordsee vor einigen Jahren denken. Hier könnte es sinnvoll sein, zwischen den Nordseeanrainerstaaten Gegen- oder Hilfsmaßnahmen zu beschließen, die schnell vollzogen werden müssen. In einem solchen Fall kann es sinnvoll sein, den vereinbarten Vertrag vorläufig anzuwenden. Vorläufige Anwendbarkeit ist bei enger Auslegung auch unter einem zweiten Gesichtspunkt möglich, nämlich wenn es nur um unwesentliche Änderungen an einem bestehenden Vertrag geht, der gleichsam der gesellschaftlichen oder technischen Entwicklung angepasst wird. Bei einer engen Auslegung in diesem Sinne ist Art. 218 Abs. 5 AEUV mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes vereinbar.

Um solche Fälle handelt es sich beim CETA-Vertrag aber nicht. Weder ist eine Eilbedürftigkeit ersichtlich, noch handelt es sich um marginale Regelungen − ganz im Gegenteil es handelt sich um einen umfassenden, viele Bereiche der Lebenswirklichkeit erfassenden Vertrag. So ist es mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar, wenn nur die Spitzen der Exekutive in den Mitgliedstaaten einen Beschluss fassen, nach dem der Vertrag vorläufig angewendet werden kann und die Parlamente erst viel später beteiligt werden.

Drittens werden mit der vorläufigen Anwendbarkeit im Zweifel Fakten geschaffen, die irreversibel sind, oder die demokratische Entscheidung der Gesetzgeber, also der Parlamente, präjudizieren werden. Auch dies ist mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes nicht vereinbar, das die Entscheidungsmöglichkeit und -freiheit des Gesetzgebers beinhaltet und voraussetzt.


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