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Von der Wachstumskritik zur geschlechtergerechten Analyse und Strategie

Die zur Wachstumskritik notwendigen Analysen und Perspektiven werden von Attac seit Anbeginn umfassend geleistet und weiterentwickelt. Eine geschlechterblinde Kritik am bestehenden ökonomischen Herrschaftssystem stößt allerdings deutlich an die Grenzen der Erklärungsmöglichkeit. Nur wenn wachstumskritische und feministische Analysen gemeinsam gedacht werden, kann ein notwendiger Perspektivwechsel gelingen.

Ansätze hierzu sind nicht neu. So forderte Claire Démar, eine Saint-Simonistin[1], bereits 1833 in ihrer Schrift „Mein Zukunftsgesetz“ eine im doppelten Sinn gleichberechtigte zwischenmenschliche Begegnung. Sie thematisiert sowohl die materielle Abhängigkeit als dafür hinderliches Moment als auch die freie und gleichberechtigte sexuelle Begegnung der Geschlechter als notwendige Voraussetzung.

Auch Flora Tristan, eine französische Schriftstellerin, beschrieb in ihrem Buch „Spaziergänge durch London“, 1840 die Situation der Obdachlosen, der Jungen und Mädchen, deren einzige kurzfriste Überlebenschance in der Prostitution bestand und brachte diese Elendssituation direkt mit dem Kapitalismus in Zusammenhang, Sie benennt konkret die „scheußlichsten Wunden, die von einer ungleichen Verteilung der Güter in dieser Welt verursacht werden.“

Ebenso wies Harriet Taylor Mill 1869 mit ihrem Buch „Die Hörigkeit der Frau“ auf die durch die vorherrschende Wirtschaftsweise des Kapitalismus und die Gesetzgebung hergestellte Abhängigkeit von Frauen hin. Abhängigkeit durch gesetzliche Vorherrschaft von Vater, Ehemann oder andere männliche Verwandte, aber auch materielle Abhängigkeit durch schlechtere Löhne, durch geringe Arbeitsmöglichkeiten und durch die Sorgeverantwortung für andere.

Wohlstand, das Thema ihrer männlichen zeitgenössischen Kollegen wie Adam Smith und David Ricardo, war schon immer ein Wohlstand, der nur für Teile der Bevölkerung gedacht war. Für alle anderen arbeitenden Menschen wurde er von ihnen als Absicherung über Lohneinkommen gedacht, um das Bevölkerungswachstum dergestalt zu steuern, dass es der Steigerung der Produktion dienlich war, also höchstens am Existenzminimum orientiert.[2]

Es gab zu jeder Zeit Frauen*, die sich für die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern eingesetzt haben, die für Gerechtigkeit unter allen Menschen gekämpft haben und die die Schattenseiten des kapitalistischen Wirtschaftsdiktats deutlich benannt haben. Leider ist die überwiegende Mehrheit dieser Frauen und ihre schriftlichen Erzeugnisse der Vergessenheit anheimgefallen. Mit der vorstehenden kleinen Auswahl sollte nur gezeigt werden, dass die nachfolgenden Überlegungen von ihrer Anlage nicht neu sind. Sie stellen vielmehr eine Fortschreibung der feministischen Traditionslinie mit dem Blick auf die heutige Krisensituation dar.

Der Gegenstand feministischer Analysen ist allerdings bis heute unverändert. Weltweit gesehen leben Frauen und Männer nach wie vor in ungleichen Lebensverhältnissen, sterben Kinder an Krankheiten und Hunger, weil ihre Eltern sie nicht ausreichend versorgen können, und Prostitution ist einer der ertragreichsten „Wirtschaftszweige“ unseres Globus. Nur acht Prozent der Weltbevölkerung, in westlichen Industrienationen, leben unter Bedingungen, wie wir sie in Deutschland kennen. Und auch bei uns leben Menschen in Armut und damit verbundenen unwürdigen Verhältnissen. Das ist kein Zufall, sondern hat System.

Die Trennstruktur verläuft zwischen Profiteur*innen des kapitalistischen Systems und denen, die ausgebeutet werden oder gleich ganz draußen bleiben. Ausschlüsse finden nach wie vor auch entlang Geschlechterkategorien statt. Winterfeld, Biesecker und Wichterich sprechen von „Externalisierung als Prinzip“. Gemeint ist damit nicht nur die Externalisierung von Kosten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern die systematische Ausgrenzungen von sozialen Tätigkeiten und Produktivitäten aus ökonomischen Denkmodellen und politischer Beratung.

Im Blickfeld herrschender ökonomischer Theorien, ist es der Markt, der Preise für Arbeit, Waren und Dienstleistungen generiert. Alle für dieses Marktgeschehen notwendigen Vorausaussetzungen wie die Nutzung natürlicher Ressourcen und die Versorgung von Menschen im privaten/nichtöffentlichen Bereich bleiben außen vor und werden damit dem Marktgeschehen untergeordnet bzw. unterworfen. Die jüngsten Zeitbudgetanalysen des Statistischen Bundesamtes machen deutlich, dass sich an der Geschlechterverteilung in der Wahrnehmung von Sorge- und Versorgungsarbeiten auch in Deutschland bis heute nicht viel geändert hat. In der neusten Pressemitteilung heißt es: „Erwachsene verbrachten 2012/2013 durchschnittlich rund 24,5 Stunden je Woche mit unbezahlter Arbeit und rund 20,5 Stunden mit Erwerbsarbeit. Nach ersten Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes aus der Zeitverwendungserhebung 2012/2013 arbeiteten Frauen mit rund 44,5 Stunden insgesamt 1 Stunde mehr als Männer. Dabei leisteten Frauen zwei Drittel ihrer Arbeit unbezahlt, Männer weniger als die Hälfte.“ Die Last der Sorgearbeit im Haushalt, für Kinder und pflegebedürftige Angehörige wird nach wie vor von Frauen geschultert, dafür sind Frauen weniger erwerbstätig. Deutlich wird dabei auch, dass sie von vorne herein weniger Geldmittel zur Verfügung haben. Die Arbeitsmarktsegregation zementiert diese Geschlechterhierarchie über schlechter bezahlte Löhne für gleiche Arbeit und Frauenarbeitsplätze in Niedriglohnsektoren zusätzlich.

Grundgedanken

Das Primat des utilitaristischen, eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolutierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums attestieren dem Kapitalismus qua Wissenschaft seine Funktionsweise. Die Messung des Wachstums über das Bruttoinlandsprodukt bringt diesen Glauben zum Ausdruck. Die Addierung des Kaufes aller materiellen Güter war ursprünglich als Instrument zur Umsteuerung einer Volkswirtschaft in Friedenszeiten auf die Bedürfnisse einer Kriegsproduktion bei gleichzeitiger formaler Erhaltung des Lebensstandards entwickelt worden. Auch die Zerstörung und Wiederbeschaffung wird als Wachstum berechnet, wesentliche Bereiche des Lebens werden dagegen nicht erfasst. Die kapitalistische Wirtschaftsweise nutzt dabei die qua Rollenzuweisung verteilte Arbeitslast zwischen unbezahlter und bezahlter Arbeit, ebenso wie sie natürliche Ressourcen ausbeutet. Deshalb müssen alternative Wohlstandskonzepte die Leistungen der Sorge-Arbeit und die Natur integrieren. Dazu ist ein Perspektivwechsel notwendig. In einer gesellschaftlichen Betrachtung der Wirtschaft muss zuerst benannt werden, in welcher Welt wir leben wollen. Wie soll Sorge organisiert und Naturerhaltung gewährleistet werden? Welche Arbeitsverteilung wünschen wir uns? Und wie soll dann der Rest, die Verteilung von Gütern für materielle Bedürfnisse organisiert werden?

Perspektivwechsel

Als Gegenbild des homo oeconomicus, ein rein männliches Wesen, dass nur rationale Entscheidungen trifft, erwerbsfähig ist und keine weiteren Verpflichtungen des Lebens kennt, gilt es den Begriff Konvivialismus (con-vivere, lat.: zusammenleben) Buchstäblich mit Leben zu füllen. „Es gehe zuallererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Beziehung zur Natur zu achten.“ Jedes menschliche Wesen braucht im Lebensverlauf von anderen Menschen erbrachte Pflege und Fürsorge. Diese kann nur im solidarischen Miteinander in der vertrauten emotionalen Struktur mit professioneller Unterstützung innerhalb einer solidarischen Gesellschaft gelöst werden. Anstelle des homo oeconimicus tritt dann der oder die homo cooperans. „Wir sind überzeugt, dass eine klare Vorstellung über die quantitativen Grenzen unseres Lebensraums und die tragischen Konsequenzen eines Überschießens seiner Belastbarkeit dafür wesentlich ist, neue Denkgewohnheiten zu entwickeln, die zu einer grundsätzlichen Änderung menschlichen Verhaltens und damit auch der Gesamtstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft führen,“ heißt es schon 1972 im Dokument des Club of Rome.

Feministische Analyse

Antikapitalistische feministische Positionen sind und waren von je her wachstumskritisch. Denn die Grundlage der auf Wachstum basierenden kapitalistischen Produktionsweise beinhaltet die Gratis-Indienstnahme von Frauen und Natur. Rosa Luxemburg hat hierfür den Betriff Landnahme entwickelt. Die ehemals weibliche Sphäre der Subsistenz und des vorsorgenden Wirtschaftens wurde durch die den Kapitalismus vorbereitende Privatisierung von gemeinschaftlichem Eigentum (Allmende) verdrängt und in die Einzelhaushalte delegiert.

Grundsätzlich unterscheidet sich der Sorge/Carebereich auch in seiner außerhäuslichen Form von der kapitalistischen Warenproduktion. Die Versorgung eines Menschen in der Medizin, in der Pflege, die Erziehung und Ausbildung von Heranwachsenden lässt sich nicht rationalisieren. Ohne emphatische Anteilnahme oder unter Kostendruck sinkt die Qualität der Versorgung bis hin zu Inhumanität. Die Privatisierung von staatlichen Dienstleistungen hat diesen Aspekt massiv verstärkt.

Im Gegensatz zur weltweiten Knüpfung von Warenketten werden in der Sorgearbeit Menschen, in der Regel Frauen, in andere reichere Länder und Kulturen verpflanzt, wo sie häufig als rechtlose Billigarbeitskräfte ausgebeutet werden und in ihren Heimatländern Sorgelücken hinterlassen.

Wachstumskritische feministische Perspektive

Derzeit vorherrschende feministische Perspektiven werden auf zwei Ebenen diskutiert. Auf der einen Seite die kleinteilige gedacht, regional verankerte Form des solidarischen Wirtschaftens in neuen Lebensformen im Sinne einer neuen Subsistenzwirtschaft, die an den Lebensnotwendigkeiten orientiert ist und Arbeit nicht in bezahlte und unbezahlte Arbeit trennt. Auf der anderen Seite existieren Vorschläge, die Auswüchse des Kapitalismus im Finanzbereich und in der Umweltzerstörung mit makroökonomischen Mittel zu bekämpfen. Was fehlt ist die makroökonomische Betrachtung solidarischen Wirtschaftens oder anders herum, die Einbeziehung der Sorgearbeit und des Naturverbrauchs in makroökonomische Berechnungen.

Die Verknüpfung dieser beiden Ebenen kann aus feministischer Sicht nicht durch die getrennte Bearbeitung gelingen, gefragt sind neue Analysen und Steuerungselemente auf makroökonomischer Ebene. Mit Instrumenten, die Lebensqualität einer Gesellschaft an menschlichen Bedürfnissen misst und nicht an Warenströmen. Zeitanalysen sind hierfür wesentlich bessere Indikatoren als Geld- oder Kapitalanalysen.

Wie viel Zeit können und wollen Menschen in die Erziehung ihrer Kinder, in die Versorgung ihrer älteren Angehörigen und Freunde investieren, wie finanzieren sie dabei ihren Lebensunterhalt? Solche Fragen können die Lebensqualität einer Gesellschaft wesentlich besser erfassen als die Zählung, wie viele Autos an einem Tag vom Band laufen. Dabei geht es nicht nur um ökonomische Konzepte, gefragt ist auch, wie gesellschaftspolitische Entscheidungen vorbereitet und gefällt werden. Auch die Frage, welche Infrastruktur dafür notwendige ist und wieviel staatliche Daseinsvorsorge wir gewährleistet sehen wollen, muss beantwortet werden.

Inzwischen existieren vielfältige systemkritische Bewegungen, welche über Netzwerke miteinander verknüpft sind. Dennoch sind wir weit davon entfernt, tatsächliche Veränderungen, die über persönliche Lebensentscheidungen hinausreichen, zu erwirken.

Neben analytischen Werkzeugen wäre es notwendig, gemachte Erfahrungen zu sammeln. Beispielsweise dokumentiert Pavlina R. Tcherneva eindrücklich ein Programm der argentinischen Regierung, Arbeitslosen, die nicht ohne weiteres in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden konnten, Mittel und Möglichkeiten einer sinnstiftenden, gemeinnützigen Beschäftigung direkt in die Hand zu geben. Dabei wandern die Mittel nicht in die Hände von einzelnen Personen, sondern werden über die Bezirks- bzw. lokale Ebene verteilt. Sie beschreibt eindrücklich, welche fundamental andere Effekte bezüglich Lebenszufriedenheit, Zielfindung der Beschäftigung und Frauenerwerbstätigkeit erzielt werden konnten. Dies mag nur ein Beispiel sein, wie auf Makroebene eine andere Steuerung möglich ist, um lokale Initiativen geschlechtergerecht zu forcieren.

Sicherlich gibt es auch in anderen Teilen der Welt Ideen, Pläne und Projekte wie Leben gerechter, menschenfreundlicher und wohlständiger organisiert werden kann. Es gilt voneinander zu lernen und das erfahrene in ökonomische Theoriebildung umzusetzen.

[1] Henri de Saint-Simon begründete die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Denkschule der Saint-Simoniens, die in den 1830er und 1840er Jahren in Frankreich sehr bedeutsam wurde, er wirkte auch stark auf die sozialpolitischen Vorstellungen vieler Autor*innen der Romantik und vor allem vieler politischer Akteure*innen.. Er zählt zu den Vertreter*innen des Frühsozialismus.
[2] Nachzulesen vor allem bei Thomas R. Malthus: Princiles of Political Economy. London 1820.


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