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Verluste und ihre Bewältigung

In den beiden letzten Jahren sind zwei umfangreiche Publikationen erschienen, die sich mit Verlusten unterschiedlicher Art und Strategien zu ihrer Bewältigung befassen: Sascha Lobo: Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass und Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne.

Wichtige Aspekte dieser Publikationen werden in den folgenden Absätzen zusammengefasst und insbesondere ihre Bedeutung für die Entstehung des Rechtspopulismus diskutiert.

Sascha Lobo: Die große Vertrauenskrise

Nach Recherchen des Publizisten Sascha Lobo haben Menschen das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren. Er untersucht die Gründe für diese Krise und zeigt, wie neues Vertrauen entstehen kann.

Der höchste Wert des Zukunftsvertrauens wurde nach der Wende mit der Wiedervereinigung erreicht: 68 Prozent erwarteten damals eine gute Zukunft. Vor der Pandemie waren es immer noch 54 %. Zwei Jahre nach den Coronaviren und dem russischen Angriff auf die Ukraine stürzten diese Werte auf 19 % ab.

Als wichtigste Ursachen für Glauben an Verschwörungstheorien sieht Lobo Einsamkeit und den Absturz in sozial belastende Situationen. Die Verschwörungstheorien dienen dann dazu, dem Leben einen neuen Sinn zu geben und bieten zugleich die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Soziale Medien eignen sich für die schnelle Schaffung von Gemeinschaften. Durch Verschwörungstheorien können auch Schamgefühle in positive Gefühle verwandelt werden, weil man meint, damit die wahre Ursache für die eigene schlechte Situation erkannt zu haben. Primäre Ursache für die Revolte gegen die Vernunft ist die durch Einsamkeit, Überforderung und Enttäuschung ausgelöste Vertrauenspanik.

Diese negativen Emotionen haben jedoch gesellschaftliche Ursachen. Als zentrale Elemente nennt Lobo das auf der der Austeritätsideologie beruhende Spardiktat. Damit habe Deutschland das Vertrauen seiner Bürger*innen kaputtgespart. Das Spardiktat habe die Leistungsfähigkeit des Staates massiv beeinträchtigt und damit zum Vertrauensverlust geführt. Als Beispiele nennt er Berlin, wo man kaum noch Bürgeramtstermine bekommen könne und damit zum Beispiel auch keinen neuen Reisepass mehr erhalten könne sowie die mangelhafte Sanierung der Autobahnen in Nordrhein-Westfalen. Schon seit 2011 habe man gewusst, dass die stark befahrene Rahmedetalbrücke bei Lüdenscheid umfassend saniert werden musste, aber nicht gehandelt. Deswegen habe man sie abreißen müssen.

In einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau von 2000 wird die Höhe der Sanierungskosten für die öffentliche Infrastruktur wie Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude mit 150 Milliarden € beziffert. Allein für Schulen wird eine Summe von 40 Milliarden € angegeben.

Als weitere Ursache für den Vertrauensverlust führt Lobo in den „Verrat an der Jugend“ an, der durch die bevorstehende Klimakatastrophe ausgelöst werde und das Vertrauen in die vorherige Generation schädige. Die Weltbank rechnet damit, dass es bis 2050 140 Millionen Klimaflüchtlinge geben wird.

Eine Befragung von 10.000 jungen Leuten zwischen 16 und 25 Jahren aus 10 Ländern hat ergeben, dass über die Hälfte unter Trauer, Angst, Macht- und Hilflosigkeit leiden und 56 Prozent der Aussage zustimmen „Die Menschheit ist verloren“ (251).

Abschließend macht Lobo einige Vorschläge für ein neues Gesellschaftsvertrauen. Für notwendig hält er unter anderem größere Transparenz, hier am Beispiel des schwedischen Steuersystems erläutert, bei dem das Steueraufkommen und damit der Jahresverdienst jeder Person im Netz stehen (294). Ein neuer Generationenvertrag des Vertrauens könnte zustande kommen, wenn die „Sustainable Development Goals“ (SDG)  der Vereinten Nationen umgesetzt werden und deren Ziele einer nachhaltigen Entwicklung des Planeten von „Armut beenden“ bis „Leben unter Wasser schützen“ Realität werden.

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne

Einleitend stellt der Soziologe Reckwitz fest, dass 84 % der Deutschen pessimistisch in die Zukunft schauen. Nach einer Studie der Universität Bonn ist der Anteil derjenigen, die erwarten, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird, in den letzten Jahren gewaltig gestiegen.

In einer Gesellschaft, die durch den Fortschrittsglauben geprägt ist, erhöhen Verlusterfahrungen die Entfremdung. Markt und Wettbewerbsstrukturen steigern die Verlusterfahrung, weil sie nicht nur Gewinner*innen, sondern auch Verlierer*innen produzieren. Dies gilt insbesondere für Statusverluste.
Verlustgefühle sind auch Ursache für den Rechtspopulismus. Die Wählerbasis für den Populismus sind Menschen, die Status- oder Machtverlust erfahren haben oder befürchten und einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang vermuten. „Das populistische Versprechen lautet, vermeintlich ideale, jedenfalls bessere Verhältnisse, wie die früher geherrscht hätten, zwischenzeitlich aber verloren wurden, wiederherzustellen“ (12). 

Hintergrund für die Schwere der Verlusterfahrungen ist der Fortschrittsglaube, der sich zwischen 1750 und 1850 in großer Radikalität entwickelt hat und das Bürgertum zur dominanten Klasse der Gesellschaft gemacht hat. Seinen Höhepunkt erreichte der Fortschritt in den Jahren 1945-1975, die von Jean Fourestié als die „Trente Glorieuses“ bezeichnet wurden. Die Industrialisierung erreichte in dieser Zeit ihren Höhepunkt: stetiges Wirtschaftswachstum, Ausbau des Sozialstaates und Aufstieg der Mittelklasse sind zentrale Merkmale der 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die beiden großen Ideologien der modernen Politik, der Liberalismus und der Sozialismus, stehen für das Versprechen einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen. Der Fortschritt gilt für alle Klassen der Gesellschaft und ihre institutionellen Ordnungen und Lebensformen.

Durch die nach dem Trente Glorieuses einsetzende neoliberale Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft wird in der modernen Gesellschaft das formale Gleichheitsideal durch Menschenklassen mit unterschiedlichen Werten, (höherwertigen und niederwertigen) ersetzt (217). Zur Logik der neoliberalen Ideologie zählt auch, den Verlust als individuelles Scheitern zu interpretieren, für das die Individuen selbst verantwortlich sind. Verluste müssen deshalb nicht mehr vermieden oder ausgeglichen werden.

Besonders problematisch ist die Politisierung der Verluste durch konservative Tendenzen, wenn sie über die Bewahrung von Kulturgütern hinausgehen. Dies ist bei einer reaktionären Haltung der Fall, die zum Beispiel in Deutschland nach dem Versailler Vertrag und in Russland nach dem Verlust des Status als Supermacht zu Beginn des 21. Jahrhunderts mithilfe nationalistischer Ideologien die alten staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen wiederherstellen wollen. Der Ukrainekrieg kann hierfür als Beispiel dienen.

In der Spätmoderne, die nach Reckwitz in den 1970er Jahren begonnen hat, kommt es aus unterschiedlichen Tendenzen zu einer Verlusteskalation, die unter anderen durch die Finanzkrise und die Covit-19-Pandemie zu beträchtlichen Schäden geführt hat.

Zentral für die Spätmoderne ist jedoch eine Veränderung des Modernisierungsprozesses mit erheblichem Strukturwandel. Unter anderem durch den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten ist es zu Globalisierung mit Schwächung nationalstaatlicher Regelungen gekommen. An die Stelle der verhältnismäßig egalitären Mittelstandsgesellschaft sind größere soziale Ungleichheiten mit einer hoch vermögenden Oberklasse, einer hoch qualifizierten Mittelklasse und einer prekären Unterschicht getreten. Drohende Katastrophen wie Unfälle in Atomkraftwerken, Naturzerstörung und Klimawandel haben ebenfalls zum Verlust des Fortschrittsglaubens beigetragen.

In der Postmoderne hat es mehrere Verlustschübe gegeben:

Die Deindustrialisierung nach 1975 hat insbesondere die service class unterhalb der Mittelschicht betroffen, deren Einkommen und Arbeitsbedingungen sich im Vergleich zur Mittelschicht erheblich verschlechtert haben.

Einen weiteren Verlustschub hat auch der Klimawandel durch Gesundheitsschäden, Dürren mit Hungersnöten und Verlust des angestammten Lebensraums mit dem Zwang zur Migration herbeigeführt. Die Kosten für die Beseitigung von Klimaschäden und den Bau von Deichen und Feuerwällen sind sehr hoch.

Auch auf politischer Ebene haben wichtige Veränderung stattgefunden. Bevölkerungsgruppen mit höherem ökonomischem und kulturellem Kapital werden stärker berücksichtigt, was auch durch die Repräsentation in Parlamenten zum Ausdruck kommt. Hinzu kommt die Verlagerung von Entscheidungen in supranationale Instanzen wie die Europäische Kommission und Zentralbanken.

Auf individueller Ebene hat sich in der Spätmoderne eine Selbstverwirklichungskultur entwickelt, die jedoch nicht nur zu persönlichen Gewinnen geführt hat, sondern die Sensibilität für ein Scheitern des angestrebten persönlichen Wachstums gesteigert und damit das Verlusterlebnis erhöht hat.

Zentrales Element der postmodernen Verluste ist die Erkenntnis, dass es keinen unbegrenzten Fortschrittsglauben mehr geben kann, weil unter anderem der Klimawandel dem entgegensteht. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass der Zuwachs des Massenkonsums auf globaler Ebene nicht nur zu einer Steigerung des Lebensstandards geführt hat, sondern auch das Weltklima beeinträchtigt hat. Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von >>Erschöpfungsverlusten<<.

Eine mögliche Strategie gegen Verluste ist die „Cultural-Heritage-Bewegung“, die den Erhalt des als kulturell wertvoll Wahrgenommenen anstrebt. Hierzu zählen nicht nur Denkmäler, sondern auch immaterielles Erbe wie Sprache und kulturelles Brauchtum. Die Bewegung wendet sich auch gegen homogenisierende Tendenzen der Globalisierung und möchte stattdessen das Erbe indigener Gruppen bewahren. Der Erhalt indigener Kultur ist sicher erstrebenswert. Problematisch wird dies jedoch, wenn es mit der rechtspopulistischen Ausgrenzung anderer Kulturen verbunden wird.

Den Populismus sieht Reckwitz als politische Konsequenz von Verlusten. Seine rückwärtsgewandte Strategie verbindet er mit einer Selbstinszenierung als Opfer. Den vermeintlichen Gewinner*innen des Modernisierungsprozesses möchte er als Strafe Verluste zufügen. Die rückwärtsgewandte Gesinnung wird durch Sprüche wie „Make America great again“ zum Ausdruck gebracht.

“Die populistische Erzählung basiert somit im Kern auf der Inszenierung der eigenen Gruppe als Opfer einer unfairen, gezielt herbeigeführten Benachteiligung, zum Beispiel als Geschädigte einer Politik der Deindustrialisierung, des >>Bevölkerungsaustausches<<, der klimafreundlichen Transformation, der Bevorzugung von Zugezogenen gegenüber Einheimischen, von Frauen gegenüber Männern“ (393). Im Populismus wird aus der passiven Figur des Verlierers ein Opfer, das sich mit Empörung gegen seine Rolle rächt.

Abschließend befasst sich Reckwitz mit der Frage wie die Moderne „repariert“ werden kann, um Schäden und Verluste in Grenzen zu halten. Er unterscheidet dabei drei mögliche Zukunftsvisionen: die Weiterführung der Moderne, den Zusammenbruch der Moderne und die Reparatur der Moderne. Die „Weiterführung“ könnte darin bestehen, eine „höher entwickelte“ Stufe der gegenwärtigen Moderne zu schaffen, zum Beispiel mit neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz, eines „ecological engineering“ oder neuer Formen der sozialen Kooperation.

Was den „Zusammenbruch der Moderne“ betrifft, sind zwei Varianten denkbar: ein katastrophales Ereignis wie ein Atomkrieg oder eine Pandemie, der weite Teile der Menschheit zum Opfer fallen oder eine Legitimationskrise, die entsteht, wenn die Fortschrittserwartungen dauerhaft enttäuscht werden. In beiden Fällen könnte es zu einer reduzierten Form menschlichen Lebens kommen, in der es in erster Linie ums Überleben geht. Dies könnte durch kleinteilige lokale Selbstversorgungsgemeinschaften geschehen, 
Die „Reparatur der Moderne“ würde die gegebenen Institutionen und Lebensformen so ausbessern, dass auf allen Ebenen der Resilienz gearbeitet wird, zum Beispiel Klimawandel und Klimapolitik, Demokratie, Infrastruktur und soziale Netzwerke. „Die Spätmoderne reparieren bedeutet zudem, ein weiteres Problem der Verlusteskalation in Angriff zu nehmen: die Tendenz dieser Gesellschaft, sich in >>Gewinner<< und >>Verlierer>> aufzuspalten“ (422).

Diskussion

Vertrauensverluste und auch andere Verluste lassen sich nicht nur mit Geld (höhere Steuern für Reiche und höhere Löhne) vermeiden, obwohl diese eine zentrale Funktion erfüllen. Sie müssen auch durch eine Veränderung von Strukturen und Ideologien angegangen werden, um mehr Gleichheit zu erreichen, zum Beispiel das Schulsystem, die Hierarchie an Arbeitsplätzen und die Bekämpfung von Ideologien wie neoliberalen Wettbewerb. Die von Reckwitz geforderte Abschaffung von Gewinner*innen und Verlierer*innen ist hierzu ein wichtiger Beitrag. Durch ein demokratisches Wirtschafts-und Gesellschaftssystem wird mehr Gleichheit und Vertrauen geschaffen.

Literatur
Lobo, Sascha: Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
Reckwitz, Andreas: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp Verlag AG,  Berlin 2024.


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