Umverteilen – nicht nur wegen der Finanzkrise!
Die Diskussion über die ungleiche Vermögensverteilung als Ursache der Finanzkrise führt konsequent und berechtigt zu der Forderung, Vermögende stärker an der Finanzierung der Kosten zu beteiligen. Über diesen wichtigen Diskurs sollte aber der Blick für die grundsätzliche Bedeutung der Einkommensverteilung für ein funktionierendes und lebenswertes Gemeinwesen nicht verloren gehen. Es gilt die sozialen und gesundheitlichen Folgekosten großer Vermögensungleichheit herauszustellen und die gesamtgesellschaftlichen Vorteile einer gleichmäßigeren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu betonen.
1. Unterschiedliche Dimensionen von Ungleichheit
„Alle sind gleich -alle sind verschieden” oder „Jeder ist anders – doch alle sind gleich”-mit diesen oder ähnlichen Überschriften werden z.B. Schulklassen beschrieben, in denen Kinder mit und ohne Behinderungen, unterschiedlicher Nationalität oder religiöser Zugehörigkeit leben und lernen. Aufgabe der LehrerInnen ist es, den Unterschieden durch einen individualisierten Unterricht gerecht zu werden und ihnen dadurch gleiche Chancen zu gewähren. Vielfalt durch Ungleichheit wird heute nicht mehr als Nachteil, sondern als Bereicherung gesehen.
Hintergrund ist insbesondere der nach dem 2. Weltkrieg in allen reichen westlichen Industriestaaten einsetzende Individualisierungsprozess (Beck 1986,116 ff.), der die traditionelle Eingebundenheit in Religionsgemeinschaften, Klassen, Stände und Schichten weitgehend aufgelöst und damit individuelle Lebensentwürfe ermöglicht hat. Ebenso wie Menschen mit Behinderungen profitieren auch ethnische oder sexuelle Minderheiten von diesen neugewonnenen Freiheiten.
Wird aus dieser „horizontalen” Ungleichheit jedoch eine „vertikale“, die Unterschiede in Begabung oder ethnischer Zugehörigkeit mit größerem oder geringerem Einkommen, mit größeren oder geringeren Bildungschancen oder gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten ausstattet, entstehen individuelle und soziale Probleme, die letztlich zu einer Spaltung der Gesellschaft führen.
Parallelen zu horizontalen und vertikalen Formen sozialer Ungleichheit finden sich in unterschiedlichen Varianten des Liberalismus. Der egalitäre Liberalismus (u. a. Rawls und Dworkin, zit. n. Wikipedia 2012) fühlt sich der Leitlinie der Gleichheit verpflichtet. Zu große Ungleichheit schränke die Freiheit derjenigen ein, die weniger haben. Er kann als Basis eines diskriminierungsfreien Auslebens selbstbestimmter Lebensentwürfe dienen.
Dem steht der libertäre Liberalismus gegenüber, dessen Menschenbild durch den homo oeconomicus bestimmt wird. Er verlangt nicht nur politische, sondern auch ökonomische Freiheit. Ungleichheit wird in den persönlichen Merkmalen wie zum Beispiel geistige oder körperliche Leistungsfähigkeit als ebenso notwendig erachtet wie in der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Nur durch Ungleichheit werden nach dieser Variante des Liberalismus Anreize für eine Leistungssteigerung und Verbesserung geschaffen. „Die neue Ungleichheit belohnt Bildung und bestraft Unbildung” (Hank 2000, 61).
Zu welchen Konsequenzen das libertäre Dogma der Notwendigkeit von Ungleichheit – seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts Leitlinie für die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft – geführt hat, soll im folgenden Absatz dargestellt werden.
2. (Einkommens-)Ungleichheit und ihre sozialen Folgen
Richard Wilkinson und Kate Pickett (2009) haben in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen, dass einkommensungleichere Gesellschaften größere soziale Probleme aufweisen als gleichere. Die folgende Grafik zeigt, welche Länder geringere und höhere Ungleichheit aufweisen[1].
Deutschland liegt hier noch im Mittelfeld. Die Ungleichverteilung der Einkommen in Deutschland hat aber nach Aussage der OECD – gemessen mit dem sog. Gini-Koeffizenten als Maß dieser Ungleichheit – seit Mitte der 1980er Jahre in Deutschland so stark zugenommen wie in kaum einem anderen entwickelten Land ( Bertelsmannstiftung, 2011). Hauptursache ist das Sinken der Lohnquote. Wenn diese Entwicklung anhält, nähern wir uns den durch die neoliberale Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft besonders betroffenen angelsächsischen Ländern.
Kosten der Ungleichheit – ausgewählte Beispiele
Wilkinson & Pickett (2010, 33ff.) haben die Folgen der Ungleichheit an zahlreichen Dimensionen untersucht:
- Niveau des Vertrauens
- Psychische Erkrankungen sowie Alkohol- und Drogensucht
- Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit
- Fettleibigkeit
- Schulische Leistungen der Kinder
- Teenager-Schwangerschaften
- Selbstmorde
- Zahl der Gefängnisstrafen
- Soziale Mobilität
Den Zusammenhang zeigt die Darstellung der folgenden Grafik, die sich auf einen Index der genannten Variablen bezieht:
Bezogen auf jeden einzelnen gesundheits- und sozialrelevanten Parameter zeigt sich nahezu das gleiche Bild: In fast allen Dimensionen schneiden ungleichere Gesellschaften schlechter ab (geringeres Vertrauensniveau, mehr psychische Erkrankungen, geringere Lebenserwartung…). Eine Ausnahme stellen nur die Selbstmorde dar, weil sie als eine nach innen, auf die eigene Person gerichtete Aggression im Unterschied zur nach außen gerichteten Aggression (Mord, Körperverletzung) auch in egalitären Gesellschaften häufiger vorkommen.
Die Erklärung für diese Unterschiede kann in dem größeren sozialen Druck, der in ungleicheren Gesellschaften herrscht, gesehen werden. Einkommensungleichere Gesellschaften zeichnen sich durch größere Statusunterschiede aus (mehr Dominanz, Unterwerfung, Konkurrenz und Verlust an sozialen Kontakten). Der höhere Statusdruck, der Stress, mithalten zu müssen, sowie die Angst vor sozialer Ausgrenzung, die dadurch entsteht, können sich dann in den beschriebenen Symptomen äußern, die sich negativ auf Psyche und Gesundheit sowie soziale Faktoren auswirken.
Rechtsradikalismus
Mit größerer Ungleichheit wachsen auch die Vorurteile gegenüber sozial Schwächeren, die auf diese Weise in eine ausweglose Situation gedrängt werden. Hierfür können die Jugendunruhen 2011 in London als Beleg herangezogen werden: Der Kolumnist des rechten Daily Mail, Richard Littlejohn, gibt nur die Mehrheitsmeinung der britischen Mittel- und Oberschicht wieder, wenn er die Aufständischen als „Wolfsrudel von verwilderten Innenstadtstreunern“ bezeichnet, die wie Robben gekeult werden sollten (Jones, 2011, 4).
Von der Diskriminierung sozial Schwächerer ist der Weg zu rechtsradikalen Tendenzen nicht mehr weit. Es ist deswegen kein Zufall, dass im von der Wirtschafts- und Finanzkrise besonders betroffenen Griechenland rechtradikale Einstellungen und Aktionen Auftriebe erhalten haben. Flüchtlinge und andere MigrantInnen werden dort zu Sündenböcken für die schlechte Wirtschaftslage gemacht. Bei den letzten Wahlen hat die neonazistische Partei Chrissy Avgi (Goldene Morgenröte) jeweils knapp 7% der Stimmen erhalten (Papadopoulos 2012).
3. Handlungsmöglichkeiten
3. 1 Ökonomische Handlungsmöglichkeiten
Spaltungstendenzen lassen sich dadurch am wirksamsten bekämpfen, dass der jahrzehntelange Prozess der Umverteilung von unten nach oben umkehrt wird. Deswegen ist es notwendig, Gegenstrategien zu entwickeln, die für eine gerechtere und gleichere Verteilung von Einkommen und Vermögen sorgen.
Die Möglichkeiten hierzu werden in der folgenden Übersicht zusammengefasst. Drei Wege führen zur Erreichung größerer Einkommensgleichheit:
- Umverteilung durch höhere Besteuerung hoher Einkommen
- Aufbau einer solidarischen Ökonomie (Wirtschaftsdemokratie), die große Einkommensunterschiede gar nicht erst aufkommen lässt und
- Verbesserung der sozialen Infrastruktur z.B. durch kostenlosen Zugang zu Bildung, Gesundheitsdienstleistungen oder Öffentlichem Personennahverkehr.
3.2 Aufklärung durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit
Wilkinson und Pickett haben sich nicht damit begnügt, die negativen Folgen großer Einkommensungleichheit zu analysieren, sondern mit der Stiftung „Equality Trust“ auch Handlungsansätze für ein größeres Maß an Gleichheit in Großbritannien geschaffen. Sie wurde im März 2009 gegründet und hat das Ziel, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Aufklärungs- und Bildungsarbeit sollte sich jedoch nicht darauf beschränken, die negativen Folgen von Ungleichheit und politische Handlungsmöglichkeiten dagegen darzustellen. Sie muss auch die Grundannahmen des Neoliberalismus in Frage stellen, der trotz der Krise ideologische Leitlinie der Wirtschafts- und Sozialpolitik geblieben ist. Hier gilt es vor allem, den beiden oben genannten Grundannahmen
- Ungleichheit als Voraussetzung für wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationen und
- Wettbewerb als notwendigem Motor für Veränderungen
durch Aufklärungsarbeit entgegenzutreten.
Der ständig und in allen Lebensbereichen nur jeweils rational den eigenen Nutzen maximierende homo oeconomicus entspricht weder den Erkenntnissen der Humanwissenschaften noch wird er in den Wirtschaftswissenschaften selbst als angemessenes Modell zur Beschreibung und Erklärung menschlichen (auch wirtschaftlichen) Verhaltens angesehen.
Die beiden Harvard-Ökonomen Paul Lawrence und Nitin Nohria haben in ihrem Bestseller „Driven. Was Menschen und Organisationen umtreibt” eine gründliche Recherche neuer natur- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse vorgenommen. Sie haben sich dabei vor allem an neuen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie orientiert, die sie zur Konzipierung von vier grundlegenden Trieben[2] veranlasst haben, die die Grundmatrix oder das Was des menschlichen Verhaltens liefern, während andere Elemente unseres geistigen Apparates wie die Fähigkeitsmodule und das Gedächtnis das Wie zur Verfügung stellen (2003,71). Diese vier Triebe sind: Erwerbstrieb, Bindungstrieb, Lerntrieb und Verteidigungstrieb.
Mit der Annahme von Trieben möchten Lawrence und Nohria nicht die Bedeutung des Lernens leugnen, sondern zum Verständnis dafür beitragen, wie es funktioniert. Sie verstehen die vier Triebe als „eingebaute mentale Module im menschlichen Gehirn”, die sich im Verlaufe der Evolution als nützlich für das Überleben erwiesen haben. Sie werden als unabhängig voneinander angesehen, sodass die Befriedigung eines Triebes nicht zu Befriedigung der anderen drei führt. Wenn nicht alle vier befriedigt werden, kommt es zu Mangelerscheinungen. Im Erwerbstrieb könnte noch am ehesten die genetische Grundlage für den homo oeconomicus gesehen werden. Er muss jedoch weder notwendigerweise mit Ungleichheit und Wettbewerb verbunden werden, noch ist es möglich, eine funktionierende Wirtschaft ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse nach Bindung und Sicherheit aufzubauen. Wenn z. B. eine Betriebsführung ausschließlich auf Wettbewerb der Mitarbeiter untereinander setzt, missachtet sie das Bindungs- und Sicherheitsbedürfnis der Betroffenen und zerstört so einen wesentlichen Teil ihrer Leistungsmotivation und Kooperationsfähigkeit.
Auch der Wettbewerb als Motor von Innovation und Entwicklung ist aus motivationspsychologischen Gründen äußerst fragwürdig. Äußere (extrinsische) Anreize wie Geld und Status können zwar vorübergehend Leistungen hervorbringen, sind jedoch wenig geeignet, ein dauerhaftes und langfristiges Interesse an einer Arbeit oder einem Lerngegenstand zu erzeugen. Lehrer versuchen deshalb, bei ihren Schülern Begeisterung für das Thema zu wecken. Diese werden dadurch zusätzlich in ihrer Selbstständigkeitsentwicklung gefördert, weil sie unabhängig von ständiger Aufsicht und Kontrolle an selbst gesteckten Zielen arbeiten können. Auch in der Arbeitswelt hat Csikszentmihalyi festgestellt, dass sich „intrinsische“ (in der Tätigkeit selbst liegende) Belohnungen positiv auf Leistungsmotivation und Arbeitszufriedenheit auswirken. Insbesondere stark individualisierte Berufe mit freier Wahl der Ziele regen die Produktivität an und lassen Arbeit nicht als Last, sondern als Bereicherung empfinden (1999, 83). Auch Berufe mit geringerem Entscheidungsspielraum lassen sich durch selbst gesteckte Ziele der Beschäftigten attraktiver gestalten. So berichtet Csikszentmihalyi z. B. von einem Fließbandarbeiter, der seine Handgriffe so perfektioniert hat, dass er völlig in dieser Tätigkeit aufgehen konnte.
Neuere Untersuchungen bestätigen diese Erkenntnis: Die Schweiz sucht seit langem ein Endlager für radioaktive Abfälle. Einer der in Frage kommenden Orte ist Wolfenschiessen in der Zentralschweiz. Nach einer Gemeindeversammlung erzielten Wissenschaftler von der Universität Zürich in einer Befragung eine zustimmungsrate von 50,8 Prozent. Gründe für die Zustimmung waren nationaler Stolz, Fairness, soziale Verpflichtung und die Aussicht auf Arbeitsplätze. Als die Forscher die Umfrage einige Zeit später wiederholten und jedem Bürger eine Kompensation in Hohe von 5000 Franken anboten, sank die Zustimmungsrate auf 24,6 Prozent, weil Bürgersinn und die Bereitschaft, etwas für das Gemeinwohl zu tun, nun keine Rolle mehr spielten (Dobelli, 2012).
Literatur
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M., 1986
Bertelsmann-Stiftung; Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?
Sustainable Governance Indicators 2011
Csikszentmihalyi, Mihaly: Lebe gut! Wie Sie das Beste aus Ihrem Leben machen. Stuttgart, 1999
Dobelli, Rolf: Wie Sie mit Boni Motivation zerstören. Die Zeit, 16. 12. 2012
Hank, Rainer: Das Erbe der Gleichheit oder Warum der Kapitalismus mehr Wettbewerb braucht. Frankfurt a.M., 2000
Jones, Owen: Thatchers zornige Enkel. Die Ausschreitungen vom August sind Krisensymptom einer zutiefst ungerechten Gesellschaft. Le monde diplomatique, September 2011
Lawrence, Paul R. & Nitin Nohria : Driven. Was Mensch und Organisation antreibt. Mit einem Vorwort von Edward O. Wilson. Stuttgart, 2003
Papadopoulos, Jiannis: Neonazis im griechischen Parlament. Le monde diplomatique, Juli 2012, S. 1, 4 u. 5)
Wikipedia : Liberalismus, 2012
Wilkinson, Richard & Pickett, Kate: The Spirit Level. Why More Equal Societies Always Do Better. London, 2009
Wilkinson, Richard und Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind. Berlin, 2010
[1] Wilkinson und Pickett haben zur Förderung von mehr Gleichheit den „Equality Trust“ gegründet, auf dessen Homepage die folgenden Grafiken zum Download zur Verfügung stehen.
[2] Aus Sicht der Verfasser wäre ein sozialwissenschaftlicher Ansatz geeigneter als ein triebtheoretischer, um menschliches Verhalten zu erklären. Dies kann hier jedoch nicht ausführlich diskutiert werden,
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