Suffizienz durch technokratische Regelung?
Systemisches Denken ist eine Erkenntnismethode, ein Modell der Wirklichkeit, das die betrachteten Ereignisse nicht in linear-kausalen Bezügen annimmt, sondern stets in komplexen Wirkungszusammenhängen eines Systems. So verstanden haben die erfahrenen Zusammenhänge einen mehr oder weniger prägenden aber eben keinen bestimmenden Einfluß auf das Geschehen. Man kann solche Systeme deshalb auch als unbestimmte Systeme bezeichnen – im Unterschied beispielsweise zu komplexen technischen Konstruktionen. Das System selbst erscheint nicht als unveränderliche Konstante, sondern als das umfassendere, selbst wiederum auf seine Einwirkungen reagierende Geschehen. Systeme sind stabil und gleichwohl immer auch in Bewegung, in Veränderung.
Große unbestimmte Systeme wie Gesellschaft oder die von ihr betriebene Wirtschaft sind viel zu komplex, als daß man sie vollständig erfassen und beschreiben könnte. Man beschränkt sich deshalb üblicherweise auf die als wesentlich verstandenen Erscheinungen und Zusammenhänge. Das geschieht meist so, daß man einen mehr oder weniger konventionellen Standpunkt einnimmt, der den Blickwinkel vorgibt, aus dem man die Verhältnisse betrachtet. Was dabei sichtbar wird, sich erkenn- und unterscheidbar abzeichnet, ist abhängig von diesem Blickwinkel und damit dem Standpunkt, dem Ausgangspunkt der Betrachtung. Dieser ist durch die Prämissen bestimmt, von denen man – oft genug unbewußt – ausgeht, davon, was man als Fixpunkt, Konstante also unveränderliche Randbedingung ansieht oder postuliert. Nur ein paar Beispiele:
- Wettbewerb
- Globalisierung
- Industrialisierung
- Lohnarbeit
- Arbeitsteilung
- Tausch
- Geld
- Eigentum
- Recht
- Herrschaft
- Normen und Erwartungen
- Werte und Wertmaßstäbe
- “gesicherte” Erkenntnisse
- wissenschaftliche Theorien
- Welt- und Menschenbilder
Dabei ist der Standpunkt entscheidend dafür, was als wesentlich verstanden wird, was z.B. als Ursache für eine bestimmte Wirkung gilt. Verständnis und Standpunkt gehören immer zusammen, be- und verstetigen sich gegenseitig. Was als unveränderbar angesehen (bzw. nicht angesehen) wird, steht für Veränderungen, für die Lösung von Problemen nicht zur Verfügung. Widersprüche innerhalb dieser Prämissen bleiben unsichtbar, die sich daraus ergebenden Konflikte können nicht gelöst werden. Systemisches Denken kann diese Schranken überwinden und ein grundlegenderes, zusammenhängenderes Verständnis fördern.
Das Wesen von Macht und Gewalt
Wenn ich nach dem Wesen von Macht und Gewalt frage, geht es mir nicht allein um die so oft kritisierten Auswirkungen, nicht um das Agieren einzelner Personen, Institutionen und die speziellen Interessen, die dahinter stehen, sondern vor allem um die Wirkungsweise, die Zusammenhänge und Wirkungsstrukturen, derer sich diese Interessen bedienen. Macht, Gewalt, damit auch Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, dieser ganze Wirkungskomplex wäre demnach nicht erst festzustellen, wo seine Auswirkungen beginnen, uns zu stören, wo sie eine bestimmte Schwelle überschreiten, sondern bereits überall dort, wo seine Strukturen erkennbar und wirksam sind. Es erscheint naheliegend, diesen Strukturen bereits in ihren Anfangsgründen entgegenzuwirken, bevor sie zu kaum überwindbaren Kräften angewachsen sind.
Die natürliche, art- und wesensgerechte Existenz bezeichnen wir als Freiheit, ihre Unterbindung oder Behinderung als Gewalt. Ausbeutung ist eine übermäßige oder asymmetrische, nicht ausgeglichene Nutzung von Ressourcen, von anderen Existenzen, – eine Wechselwirkung, die sich nicht im Einklang mit natürlichen Existenzweisen, Lebens- und Kreislaufprozessen befindet.
Macht ist die Fähigkeit, in die natürliche Existenz absichtsvoll einzugreifen, sie zu verändern, zu lenken und zu regeln. Herrschaft ist die Verstetigung der Macht. Sie dient zugleich ihrer Regelung und der Mäßigung von Gewalt. Herrschaft ist das sich selbst ordnende und stabilisierende System der Macht.
Individuelle Macht ist begrenzt. Macht stärkt sich und wächst durch ihre strategische Anwendung, also durch die gezielte Inanspruchnahme des Wirkens anderer. Solche Macht ist keine individuelle Eigenschaft, sondern ein gesellschaftliches bzw. ein systemisches Produkt.
Macht, die die natürliche Existenz stört, ist Gewalt, Herrschaft, die dieses tut, ist Unterdrückung und Ausbeutung. Da Freiheit die natürliche Existenzform ist, sind Unterdrückung und Ausbeutung die Natur der Herrschaft. Ohne Ausbeutung könnte Herrschaft nicht die Macht gewinnen, die zu ihrer Verstetigung erforderlich ist.
Der natürliche Freiheitsdrang führt zu einer jeder Gewalt inhärenten Eskalationsdynamik. Druck erzeugt Gegendruck, Gewalt Gegengewalt. Herrschaft kann auf Dauer nur aufrecht erhalten werden durch ihre Steigerung, durch mehr Ausbeutung, ein Phänomen, das die Ökonomen gemeinhin Wirtschaftswachstum nennen. Das Herrschaftssystem ist damit nicht wirklich stabil. Es beinhaltet eine gerichtete, vektorielle Veränderungsdynamik, eine Dynamik, die irgendwann die Grenzen des übergeordneten System sprengen muß. (Nur noch einmal zur Erinnerung: Es geht hier nicht um eine monokausale Deutung, sondern um die Beschreibung eines ausgewählten Wirkungszusammenhanges.)
Wirtschaft ist in unserem Gesellschaftssystem die Ausbeutung von Ressourcen.
Wenn wir uns jetzt die Wirtschaft anschauen, betrachten wir einmal nicht die Produktion, nicht den Konsum, nicht die Verteilungsverhältnisse, die schon so häufig Gegenstand der Kritik und der Veränderungsbestrebungen waren, sondern richten wir den Blick dorthin, wo wir die Wirtschaft als solche eigentlich nie in Frage stellen, sie nur noch quantitativ erfassen und das messen, was gemeinhin als so notwendig angesehen wird, ihr Wachstum. Was geschieht an diesem Punkt, was ist die Substanz der Wirtschaft, die uns so selbstverständlich erscheint?
Das, was an dieser Stelle stattfindet, läßt sich ganz allgemein beschreiben als Austausch von Leistungen. Leistungen in diesem Sinne, das können sein:
- Arbeitsleistungen der Menschen (körperliche, geistige, kreative, soziale Arbeit),
- biologisch-organische Produkte von Menschen (Haare, Spenden von Samen, Eizellen, Blut, Organen etc. – dies nur der Vollständigkeit halber –, auch die Nutzung des ganzen Menschen für werbende Darstellungen o.ä. läßt sich hier einordnen),
- Leistungen anderer natürlicher Organismen (Arbeitstiere, Wachstum, biologische Produktionsprozesse),
- materielle Güter, physische Ressourcen (Rohstoffe, Energie),
- immaterielle Güter (Informationen, Rechte).
Letztere erweisen sich bei genauerem Hinsehen als zusammengesetzte Produkte. So bestehen wirtschaftsförmige Informationen aus menschlicher Arbeit und Eigentums-/Urheberrechten. Rechte wiederum lassen sich verstehen als soziales Besitztum, Gegenstände persönlicher Freiheit. Somit lassen sich die oben genannten Kategorien weiter zusammenfassen zu
a) menschlichen Ressourcen (Lebensenergie, Lebenszeit, Gesundheit, Freiheit) und
b) nichtmenschlichen, natürlichen Ressourcen.
Diese Untergliederung, behaupte ich, ist umfassend. Es gibt keine anderen Quellen, aus denen die Wirtschaft schöpfen kann, es gibt nichts anderes, was hier getauscht werden könnte.
Seit Urzeiten bemühen sich die Menschen, den Einsatz der eigenen, menschlichen Ressourcen zu verringern und gleichzeitig den eigenen Nutzen, also die Nutzung anderer Ressourcen zu steigern. Waren es vermutlich zunächst Hungersnöte und andere Mangelsituationen, die es zu vermeiden galt, so war in der Folge, insbesondere aber seit Beginn der Neuzeit, die Entwicklung menschlicher Lebensweise und Kultur von den Erfolgen dieser Bemühungen geprägt. Es war die Erfindung der Kraftmaschinen und die Nutzung der fossilen Energieträger, die es in einem bis dato unbekannten Umfang ermöglichte, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu steigern und zwischenzeitlich sogar – in den hochentwickelten Industriegesellschaften – gesellschaftsweit den Einsatz menschlicher Arbeit zu verringern.
Das bedeutet aber nicht, das der Mensch als Ausbeutungsobjekt damit ausgedient hatte. Die gewonnene Potenz diente quasi als Transmissionsriemen, um ganze Länder und Erdteile samt ihrer menschlichen Ressourcen auszubeuten. Mittlerweile sind die Folgen dieses Wirtschaftens global sichtbar. Die Verknappung mineralischer und fossiler Rohstoffe, die schleichende Vergiftung der lebensnotwendigen Grundelemente Wasser und Luft, der Verbrauch von Naturräumen, Artenschwund und Verlust von Biodiversität, die weitreichende Störung von Ökosystemen und natürlichen Stoffkreisläufen, von denen die Veränderungen von Klima und Wettergeschehen nur ein Problembereich von vielen miteinander vernetzten ist, aber auch die Zerstörung menschlicher Kulturen und Gesellschaften und die daraus resultierenden Konflikte – all das hat Auswirkungen auch auf unseren Lebensalltag. Die soziale Ausbeutung kehrt allmählich in die Mitte unserer Gesellschaft zurück und in ihrer Begleitung befinden sich ihre Opfer aus anderen fragmentierten Gesellschaften, aus Südosteuropa, Afrika, Asien, Lateinamerika…
Technokratische oder allgemein herrschaftsförmige Lösungen führen schwerlich zu einem Ende der Ausbeutung, da Ausbeutung eine Voraussetzung für Herrschaft ist.
Soll eine Verhaltensweise, deren freiwillige Einhaltung nicht zu erwarten ist, durch verbindliche Regeln – also nötigenfalls zwangsweise – durchgesetzt werden, so muß dazu eine Macht aufgeboten werden, die jedem zu erwartenden Widerstand gewachsen ist. Solange sie sich auf die vorhandenen wirtschaftlichen Strukturen stützt, muß sie nur die bestehende Ausbeutung im Wesentlichen fortsetzen und wie schon gewohnt weiter steigern. Wendet sie sich jedoch gegen diese Strukturen, so sind die Folgen kaum abschätzbar. So wie man ein System nicht vollständig erfassen und kontrollieren kann, so lassen sich einmal erzeugte Wirkungen, Kräfte nicht sicher und dauerhaft eindämmen und aufhalten. Sie finden immer einen Weg, wirksam zu werden.
Das Ende der Ausbeutung einer oder mehrerer Ressourcen oder ihre Kontingentierung erhöht in einem System, das auf Ausbeutung beruht, den Ausbeutungsdruck auf die verbliebenen Ressourcen.
Ist Macht erst einmal strukturiert und angewachsen, resultiert Ausbeutung nicht mehr primär aus dem Angebot der Möglichkeiten oder dem spezifischen Nutzen einer Ressource, sondern aus dem Streben der Macht nach sich selbst, der Regulierung und Stabilisierung des herrschaftsförmigen Gesellschaftssystems. Das operative Ziel unserer Wirtschaft ist die Gewinnung von Geld bzw. Kapital. Die Ressourcen sind dabei grundsätzlich austauschbar. Betrachten wir Geld einmal nicht wie allgemein üblich als Tauschwert, sondern als Leistungsanspruch, so wird deutlich: Geld ist ein Stück Macht, Verfügungsgewalt über andere Menschen bzw. Ressourcen. In einer Gesellschaft, die komplett von Arbeitsteilung und also gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist, erscheinen diese Ansprüche, diese Macht als Voraussetzung für Existenz und Freiheit. Sie zu sichern und zu mehren ist die logische Konsequenz. In dem sich ergebenden von Eigennutz getriebenen Konkurrenzkampf ist wenig Raum für Rücksichtnahme auf andere Existenzen und Rücknahme von Macht und Ausbeutung.
Jede Ressource, die sich nutzen läßt (also z.B. auch Emissionskontingente), läßt sich auch ausbeuten und wird unter entsprechend hohem Ausbeutungsdruck auch ausgebeutet werden.
Dabei ist es unerheblich, ob diese Ressource direkt dem Markt zur Verfügung steht und einen Preis erhält, oder ob dieses indirekt in diesem Fall als Eigenschaft, als Recht eines Menschen geschieht. Wirtschaftliche Ausbeutung geschieht auf dem Wege, daß Macht die Tauschverhältnisse beeinflußt, wobei der Nutzen umgekehrt zum Machtgefälle fließt. Jeder Nutzen ist aber zugleich ein potentieller Vorteil und damit ein Stück Macht. Man könnte also gewissermaßen von einer Art Gravitationskraft sprechen, die von der Macht ausgeht, oder, wie der Volksmund sagt: De Düvel schiet jümmer op den grötsten Hupen.
Bleibt zum Schluß die Frage: Läßt sich ausgehend von einem auf Herrschaft und Ausbeutung beruhenden System Ausbeutung reduzieren, Wachstum zurücknehmen?
Wenn Herrschaft und Ausbeutung zusammengehören, muß nicht nur ihr Wachstum, ihre Expansion, sondern auch ihre Reduktion miteinander einhergehen. In unbestimmten Systemen gibt es keine linearen Wirkungsketten. Würde man statt dessen von Wirkungsnetzen oder Wirkungsclustern sprechen, käme man der Wirklichkeit schon wesentlich näher. Es gibt deshalb keinen Schalter, keinen Hebel, den man nur zu bedienen bräuchte, um die Wirkungen in einem System grundsätzlich zu verändern. Wirkungscluster müssen sich bilden, müssen wachsen. Wenn es künftig gelingt, das Wachstum von Macht, Herrschaft, Gewalt, Eigennutz und Konkurrenz durch ein solches zu ersetzen, das ich mit den Begriffen Empathie, Solidarität, Toleranz, sozioökologisches (systemisches) Bewußtsein und Eigenverantwortlichkeit umreißen könnte, wird sich in gleicher Weise das System als ganzes verändern. Auch Suffizienz bildet sich in diesem Wirkungsraum als Folge nachlassenden Ausbeutungsdruckes und unter dem Einfluß sich verändernder Lebensziele und wachsender Achtung und Wertschätzung anderer Existenzen. Die Vorstellung, so etwas ließe sich planerisch-administrativ herbeiführen und kontrollieren, entspringt einem Machtbewußtsein, das zu den spezifischen Merkmalen dieses Gesellschaftssystems zählt.
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