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Soziale Ungleichheit und Klassismus im Bildungsbereich

In diesem Jahr sind zwei neue Publikationen erschienen, in welchen unterschiedliche Aspekte von materieller Ungleichheit und ihren sozialen und kulturellen Folgen, klassistische Diskriminierung und pädagogische Handlungsmöglichkeiten zu ihrer Überwindung analysiert werden.

Michael Klundt (Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal) hat den Band „Kinder in Armut. Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen“ verfasst. Ines Pohlkamp (Kriminalistin und Sozialwissenschaftlerin), Björn Nagel (Soziologe) und Lea Carstens (Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin) haben den Band „Klassismus und politische Bildung. Intersektionale Perspektiven und Reflexion aus der Praxis“ herausgegeben, der sich vorwiegend mit klassismuskritischer außerschulischer Bildung befasst. Die beiden Bände können hier nicht ausführlich dargestellt werden. Stattdessen sollen einige Aspekte herausgegriffen werden, die neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

Kinder in Armut

Michael Klundt setzt sich in sechs Kapiteln mit der Problematik von Kinderarmut auseinander: 1. Ausmaß und Erscheinungsformen von Kinderarmut, 2. Psychosoziale Ungleichheits- und Armuts-Folgen, 3. Debatten und Diskurse als Polarisierungsprodukte und -produzenten, 4. Ursachen und Zusammenhänge von Kinderarmut und sozialer Ungleichheit, 5. Alternativen und Gegenmaßnahmen und 6. Fazit.

Wichtig für Klundt ist die Änderung der Sichtweise auf arme Kinder und Eltern: Nicht die Eltern sind schuld an schulischen Problemen ihrer Kinder, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Änderung der Sichtweise muss auch in der Terminologie Ausdruck finden. Statt von „Problemkindern“ und „Problemeltern“ zu sprechen, sollte man „Kinder/Eltern mit Problemen“ sagen. Dadurch wird keine Vorentscheidung über die Schuldfrage an Problemen getroffen. Die tatsächlichen Ursachen liegen in der Armut, von der jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche (bundesweit etwa 2,8 Millionen) betroffen ist.

Die PISA-Studien sind eindeutige Belege dafür, dass die Leistungen der Kinder durch soziale Ungleichheit beeinträchtigt werden. Im OECD-Vergleich lag Deutschland 2000 auf dem letzten Platz, 30 Jahre später zählte es mit Platz 33 von 36 immer noch zu den Schlusslichtern. Gleiche Behandlung von ungleichen Schüler*innen durch die Fachkräfte ist eine wesentliche Ursache für den schlechten Leistungsstand.

Neben Mangel an ökonomischen Ressourcen zum Beispiel für den Erwerb von Büchern spielen auch die kulturellen und sozialen Folgen eine erhebliche Rolle für das Verhalten der Kinder. Armen Erwachsenen und Kindern wird häufig mit Verachtung begegnet. Die Verarbeitung solcher Verhaltensweisen führt bei den Betroffenen oft zu Minderwertigkeitsgefühlen, die das Lernverhalten weiter verschlechtern.

Soziale Ungleichheit ist keine Naturgegebenheit, sondern das Resultat ungleicher Machtverhältnisse zwischen denjenigen, die im Sinne Bourdieus viel oder wenig ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital haben. Hintergrund ist nach Wilhelm Heitmeyer der autoritäre Kapitalismus, „in dem Mitmenschen vor allem nach ihrer Nützlichkeit bewertet und damit auch abgewertet werden“ (67). Dieses sozialdarwinistische Deutungsmuster hat zur Folge, dass die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden und hierfür selbst verantwortlich gemacht werden. Auf politischer Ebene kann dies zu einem Rechtsruck führen, der Diskriminierte weiter benachteiligt.

Als Alternative ist es notwendig, sowohl die ökonomischen als auch die kulturellen Rahmenbedingungen für die pädagogische Arbeit zu ändern. Der paritätische Wohlfahrtsverband hat errechnet, dass auch die gute Wirtschaftsentwicklung bis 2015 nicht zu einer Reduktion der Kinderarmut führte. Die rot-grüne und die große Koalition haben im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Einkommen Reicher massiv erhöht, während die unteren 10 % der Haushalte zwischen 1991 und 2014 Einkommensverluste in Höhe von 8 % hinnehmen mussten. In der Corona-Krise wurde diese verteilungspolitische Schieflage noch verschärft.

Im Februar 2022 hat deswegen ein Bündnis von 17 Sozialverbänden, Familien- und Kinderrechtsorganisationen ein Eckpunktepapier zur Bekämpfung von Kinderarmut vorgelegt, in welchem eine entscheidende materielle Verbesserung zur Umsetzung der EU-Kinderrechte und der UN-Kinderrechtskonvention verlangt werden. Zur Verbesserung der Situation in Bildungseinrichtungen sind neben Einkommenserhöhungen armer Familien auch organisatorische und kulturelle Verbesserungen erforderlich. 

Die Sozialwissenschaftlerin Gerda Holz hat dazu praktische Vorschläge für die Umsetzung in den Kindertageseinrichtungen zusammengefasst:

  • Für die Aufnahme von Kindern sollte das Verfahren möglichst unbürokratisch gehalten werden, um sozial und sprachlich überforderte Eltern nicht zu benachteiligen.
  • Weitere Faktoren sind die Erweiterung des Teams mit Fachkräften aus allen sozialen und kulturellen Gruppen und die Aufnahme benachteiligter Mädchen und Jungen im möglichst frühen Alter.
  • Armutsensibles Handeln umfasst unter anderem auch wertschätzendes Zugehen auf die Eltern zum Beispiel durch Hausbesuche. Armutsensible Kita-Konzepte sollten auch vermehrte und regelmäßige Ausflüge enthalten, die den Erfahrungshorizont der Kinder und ihrer Eltern erweitern sowie die Förderung sozialer Kompetenzen der Kinder für den Aufbau von Kinderfreundschaften verbessern, weil von Armut betroffene Kinder über kleinere Peer-Netzwerke verfügen. Für Ausflüge sollte auch ein Wechselkleiderfundus bereitgehalten werden.

Klassismus und politische Bildung

Im Band Klassismus und politische Bildung analysieren zahlreiche Autor*innen in insgesamt 15 Kapiteln theoretische Hintergründe, praktische Konsequenzen und pädagogische Handlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Bereichen sozialer Diskriminierung. Hierzu zählen unter anderem Disability/Abelismus, Antisemitismus, Migration und Geschlecht. Gemeinsam ist ihnen die intersektionale Verbindung zum Thema „Klassismus“.

In der Einleitung stellen die Herausgeber*innen unter dem Titel „Class matters“ fest, dass Deutschland in Bezug auf Bildung nach wie vor keine Leistungs-, sondern eine „Erbgesellschaft“ (zit. n. Betina Aumair) sei.

Auch dieser Band hebt die kulturellen Aspekte von sozialen Klassen hervor. Nach Andreas Reckwitz ist das vorherrschende Ziel der spätmodernen Gesellschaft die „Selbstverwirklichung“ (21), wodurch die Klassengesellschaft einen neuen Charakter erhält. Die Gesellschaft besteht aus drei Klassen: Unterklasse, Mittelklasse und neue Mittelklasse einschließlich Oberklasse. Die Unterklasse ist eine sehr heterogene Gruppe aus Industriearbeiter*innen, einfachen Dienstleister*innen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger*innen. Letztere werden auch als sozial Exkludierte gesehen. Für Björn Nagel ist Klassismuskritik nicht nur Kapitalismuskritik, sondern auch – wie im Band von Klundt – Kulturkritik, die in den folgenden Beiträgen im Mittelpunkt stehen. In diesen Kapiteln werden – auch im Sinne von Intersektionalität – klassistische Diskriminierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen behandelt.

In „Disability Studies“ wird soziale Ungleichheit von Menschen mit Behinderungen untersucht, die sich nicht auf geringeres Einkommen beschränkt. Zentrales Problem für die kulturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung ist auch hier der Neoliberalismus, nach dessen Prinzipien jeder Mensch seines Glückes Schmied ist. Diese Orientierung an Leistung und Konkurrenz kann bei den Betroffenen Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen, weil sie sich nicht für ausreichend leistungsfähig halten und damit drei Formen sozialer Ungleichheit unterliegen: Armut, Exklusion und Diskriminierung.

Strukturellen Antisemitismus gibt es noch immer vor allem in der Verbindung von Juden mit Geld und Herrschaft, die auch als „verkürzte Kapitalismuskritik“ (47) bezeichnet wird. Rapper*innen und andere Künstlerr*innen greifen gelegentlich verbreitete antisemitische Welterklärungen auf und dann kann es schon mal heißen: „Ich leihe dir Geld, doch nie ohne ‚nen jüdischen Zinssatz“ (57).

Im Zusammenhang mit Migration macht sich Klassismus vor allem in der Forderung nach Übernahme deutscher kultureller Werte bemerkbar, worunter hauptsächlich Leistungsanforderungen verstanden werden… „der internalisierte Glaube der Leistungserbringung als Daseinsberechtigung und das Übernehmen von Konsumwünschen durch eigene Einkommensquellen als Wirkfaktoren von Klassismus“… (65).

In neoliberalen Gesellschaften wird das Gute über Profit, nicht über die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse definiert. Es gibt deswegen immer Gruppen, die als überflüssig und minderwertig abgewertet werden, weil sie diesen Anforderungen nicht entsprechen. Dies sind häufig Menschen aus dem globalen Süden.

Eine in Bezug auf Klassismus bisher wenig untersuchte Gruppe sind queere Jugendliche. Sie werden zwar auf dem Arbeitsmarkt häufig benachteiligt und schlechter bezahlt. Die oft geäußerte Einschätzung, dass homosexuelle Jugendliche in prekären und proletarischen Klassenverhältnissen häufiger diskriminiert werden, hat sich jedoch bisher empirisch nicht bestätigen lassen. Die Neigung zu Homofeindlichkeit ist vielmehr in Ober- und Unterschicht gleichmäßig ausgeprägt.

Neben klassistischer Benachteiligung und Diskriminierung ist die politische Bildung zu diesen Kapiteln das zentrale Anliegen des Bandes. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Ausübung von Klassismuskritik, welche auf Klassenbewusstsein und Erfahrungswissen beruht. Ein wesentliches Element der Klassismuskritik ist der Bruch mit der Ideologie der Meritokratie, die behauptet, dass es ungeachtet der Strukturvoraussetzungen möglich sei, durch genügend Anstrengung die eigenen Ziele zu erreichen. Eine wichtige Voraussetzung für Klassismuskritik ist zudem zusätzlich zum Erwerb entsprechenden Wissens die Reflexion über die eigene Klassenzugehörigkeit und ihre Entwicklung in der eigenen Sozialisation. Dies gilt nicht nur für Angehörige der Mittelschicht, sondern auch für von klassistischer Diskriminierung Betroffene wie Menschen mit Migrationshintergrund, die in ihrer Kindheit die Abwertung der Kultur ihrer Eltern erfahren mussten. Reflexive Aufarbeitung dieser Erfahrungen kann nicht nur das eigene Selbstbewusstsein stärken, sondern auch das Verständnis für das Verhalten der Eltern verbessern.

Kinder und Jugendliche haben in der außerschulischen Bildung freiere Möglichkeiten der Selbstreflexion, weil diese nicht durch das schulische System der Sanktionen und Gratifikationen eingeengt werden, sondern eine gleichwertige Partizipation ermöglicht. Folgende Fragen zur Selbstreflexion können hierbei eine wichtige Hilfe sein:

  • „Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass jemand mehr/weniger Geld hat als du?“…
  • „Wie wichtig ist dir Leistung, Arbeit, Selbstoptimierung und finanzielle Absicherung?“…
  • „Erinnerst du dich an Situationen, in denen du Menschen, die negativ von Klassismus betroffen sind, abgewertet hast?“ (198).
  • Selbstreflexion fördert auch mehr als fachliches Wissen politisches Engagement zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil persönliche Betroffenheit eine tiefere motivationale Basis schafft.

Diskussion

Die Folgen niedrigen Einkommens der Eltern für Schüler*innen sind schon lange bekannt, zum Beispiel kein Kauf von Büchern oder keine ausreichenden Mittel für die Finanzierung von Klassenfahrten.

Die seit etwa zehn Jahren zunächst aus dem angloamerikanischen Bereich übernommene Klassismusdiskussion hat die ökonomischen Aspekte um soziale und kulturelle erweitert. Letztere führen nicht nur zu Benachteiligungen von Kindern aus der Unterschicht, die geringere Chancen auf gute Schulabschlüsse haben, sondern ihre schlechten Leistungen werden zusätzlich zur Rechtfertigung der Beibehaltung des Klassensystems im schulischen Bereich benötigt. Wenn Kinder mit ungleichen Lernvoraussetzungen gleichbehandelt werden, dient dies der Aufrechterhaltung von Ungleichheit und damit als ideologische Unterstützung des dreigliedrigen deutschen Schulsystems. Der Begriff „Erbgesellschaft“ im Bildungsbereich drückt diesen Sachverhalt sehr gut aus.

Klundt, Michael: Kinder in Armut. Benachteiligung, Diffamierung und Stigmatisierung in der Kita begegnen. Herder Verlag, Freiburg i.Br. 2023
Pohlkamp, Ines/Nagel, Björn/Carstens, Lea (Hg.): Klassismus uns politische Bildung. Intersektionale Perspektiven und Reflexionen aus der Praxis. Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 2023


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