Soziale Ungleichheit als Gefahr für die offene Gesellschaft
Die in der Nachkriegszeit entstandene „offene Gesellschaft“ mit größeren individuellen Freiheiten und Schutz für religiöse und ethnische Minderheiten wird durch zunehmende soziale (Einkommens- und Status-) Ungleichheit gefährdet. Zu große Einkommensunterschiede und prekäre Arbeitsverhältnisse verringern die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und führen zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Stärkung rechtspopulistischer Tendenzen. Größere soziale Gleichheit durch Umverteilung von oben nach unten ist deshalb die wirkungsvollste Methode zur Bekämpfung von Rechtspopulismus.
1. Die offene Gesellschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland eine „offene Gesellschaft im Sinne des Philosophen Karl Popper entstanden, die sich gegen totalitäre Staatsformen wendet und dem Individuum die Freiheit zur Gestaltung des Lebens nach eigenen Entwürfen eröffnet. An die Stelle eines geschlossenen, für alle verbindlichen Weltbildes, wie es durch religiöse oder politische Ideologien vorgegeben wurde (und wird), ist ein intellektueller Meinungsaustausch getreten, der kulturelle Vielfalt auf der Basis von Menschenrechten und in der Verfassung festgelegten Diskriminierungsverboten gestattet.
In der Nachkriegszeit wurde die Öffnung der Gesellschaft im Sinne der Loslösung von traditionellen Normen und Lebensformen vor allem durch den steilen Anstieg der Löhne (Verdreifachung zwischen 1950 und 1970) vorangetrieben (Nachtwey 2016, 28). Die neuen materiellen Möglichkeiten schufen Entfaltungsmöglichkeiten, die im Sinne einer kulturellen Individualisierung neue Perspektiven und Lebensstile eröffnet haben.
Die Ungleichheit zwischen den Schichten und Klassen wurde dadurch zwar nicht beseitigt, spielte aber keine große Rolle mehr, weil es allen besser ging (31). Man kann deswegen von „Entproletarisierung“ und einer gelungenen Integration der Gesellschaft sprechen.
Die mit dem Neoliberalismus verbundene „regressive“ Modernisierung bedeutet dagegen einerseits, dass die Gesellschaft horizontal (sexuelle Orientierung, Geschlecht, Ethnien) gleichwertiger und inklusiver geworden ist, vertikal jedoch durch größere ökonomische Ungleichheit hinter das in der Moderne erreichte Niveau der Integration zurückgefallen ist (75). Die Details und Folgen dieser Desintegration durch zunehmende soziale Ungleichheit sollen in den folgenden Abschnitten dargestellt werden.
2. Zunahme sozialer Ungleichheit
Die soziale Ungleichheit hat in den letzten 30 Jahren innerhalb der Gesellschaften weltweit zugenommen. In Deutschland haben die abhängig Beschäftigten von 2000 – 2014 1,2 Billionen € eingebüßt, die Kapitalseite wurde um dieselbe Summe reicher (Schuhler 2015, 1). Auch wenn Löhne und Gehälter in letzter Zeit wieder gestiegen sind, ist keine Trendwende in der Umverteilung von unten nach oben zu erkennen. Während die Arbeitnehmer*innenentgelte 2015 um 2,7 % gestiegen sind, verzeichnen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen einen Anstieg von 4,6 % gegenüber dem Vorjahr und die Gewinne der Kapitalgesellschaften einen Anstieg um 3,3 %. Die Boni der Dax – Vorstandsvorsitzenden stiegen sogar um 10 % (Schmid & Schuhler 2016,16 ff.).
3. Abstiege und Abstiegsgefahren
Die Problematik wachsender Einkommens-und Vermögensungleichheit wird verschärft durch die Gefahr des sozialen Abstiegs. Die Erwerbsquote in Deutschland kletterte zwar zwischen 1970 und 2013 von 44,2 % auf 52,6 % (120), sie gewährt jedoch zunehmend weniger Menschen Sicherheit, Status und Prestige. Die Integrationsfähigkeit der Arbeit geht nicht nur durch geringe Löhne, sondern auch durch prekäre Arbeitsverhältnisse verloren. Individuelle Abstiege sind zwar bisher kein Massenphänomen, kollektiv betrachtet geht es jedoch abwärts, weil sich die Unterschiede zwischen oben und unten vergrößern (127).
Prekär Beschäftigte bemühen sich häufig, betriebliche Normen über zu erfüllen, weil sie sich praktisch jeden Tag neu bewerben müssen (144). Sie stehen unter großem physischem und psychischem Stress. Sie träumen von einer besseren Zukunft, sind jedoch häufig enttäuscht und wütend, wenn es nicht klappt.
Neben der Unterschicht gibt es auch eine prekäre Mitte, die durch Angst vor sozialem Abstieg geplagt wird. Betroffene empfinden die verschlechterten Teilhabechancen als Sinnkrise und Verlust von Reputation (149). Vor allem die untere Mittelschicht ist von Abstürzen und Prekarisierung bedroht. Sie ist seit 1997 um 15 % geschrumpft.
4. Psychische und soziale Verarbeitung von sozialer Ungleichheit und Prekarisierung
Die Abstiegsbedrohungen führen dazu, den kulturellen Individualismus sparsamer zu leben. An die Stelle von Hedonismus tritt die Wiederkehr von Konformität. Sekundärtugend wie Pflichtbewusstsein und Disziplin kehren auch in das liberale Milieu zurück (166). Die Freizeit wird für (Weiter-) Bildung genutzt. Schon Kinder müssen Chinesisch lernen.
Man unterwirft sich dem, worunter man leidet im Sinne eines marktkonformen Extremismus, der in Verbindung mit einer unternehmerischen Selbstoptimierung die Abwertung anderer befördert (222), denen man unterstellt, die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Kultur infrage zu stellen.
Die Unterschicht wird als bildungsfern und arbeitsscheu gesehen. Die Mittelschicht grenzt sich ab und entwickelt rigorose Vorstellungen über Moral, Kultur und Lebensführung (167). Es enteht eine scharfe Abschottung zur „ Kultur der Parallelgesellschaft“ in der Unterschicht. Man ist weniger geneigt, die „Diversitätszumutungen“ der Gesellschaft hinzunehmen (Mau, zit. n. Nachtwey, 168).
Wenn der Preis für die Integration in die Gesellschaft durch Erwerbsarbeit höher wird, begegnet man vermeintlichen Faulenzern nicht selten mit Diskriminierung und Ressentiments. In den letzten Jahren zählen hierzu nicht nur einheimische Angehörige der Unterschicht, sondern vor allem Sinti, Roma und Asylbewerber*innen.
Aus der Abstiegsgesellschaft erwächst deswegen die Gefahr, „dass regressive Modernisierung und postdemokratische Politik zu einer autoritären Strömung führen, die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigt“ (233).
5. Resümee und Schlussfolgerungen
Der schon aus der Religionsethnologie bekannte Effekt, dass Bindung an die eigene Gruppe und Abgrenzung gegenüber Fremden umso stärker wird, je größer die erbrachten Opfer (Askese, strikte Einhaltung von Normen) sind, zeigt sich auch in der Befolgung neoliberaler Maximen zur Lebensführung. In Verbindung mit Abstiegsängsten führt das Leiden an diesen Forderungen zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund. Die von Rechtspopulisten wie AfD und Pegida vertretene Forderung nach strikter Einhaltung der Normen einer deutsch – nationalen Kultur entspricht der von Mau beschriebenen Rückkehr zu Konformismus und Sekundärtugenden. Zu dieser Kultur zählte auch die strikte Trennung von Geschlechterrollen, deren Aufhebung als „Genderwahn“ kritisiert wird.
Aus Nachtweys Analyse lassen sich aber auch wirkungsvolle Ansätze zur Bekämpfung von Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit ableiten: die Wiederherstellung von gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit und Erhalt der offenen Gesellschaft lässt sich nur durch Herstellung größerer sozialer Gleichheit einschließlich Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse erreichen.
Die in der öffentlichen Diskussion vielfach erhobene Forderung, man müsse die Ängste der Angehörigen rechter Gruppierungen ernst nehmen, stellt sich aus dieser Perspektive etwas anders dar. Angstauslöser sind nicht die „Fremden“, sondern die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Auf Flüchtlinge und andere Zuwanderer werden sie nur projiziert. Umverteilung von oben nach unten durch höhere Löhne und Gehälter sowie höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen ist deshalb die wirkungsvollste Bekämpfung von Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit.
Literatur
Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. edition suhrkamp 2682, Berlin
Schmid, Fred & Schuhler (2016), Conrad: Bilanz 2015 – Ausblick 2016. Fakten & Argumente zur wirtschaftlichen Situation. isw – wirtschaftsinfo 50, April 2016
Schuhler, Conrad (2015): Ist Umverteilen im Kapitalismus möglich? isw – Newsletter. München, 18. 2. 2015
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