Soziale, politische und Bildungsungleichheit
1. Politische Ungleichheit
1.1 Probleme und ihre Ursachen
In den traditionell dreigliedrigen Gesellschaften aus Klerus, Adel und drittem Stand war politische Ungleichheit festgeschrieben. Ziel der französischen Revolution war es, die Hoheitsrechte der adligen und geistlichen Eliten auf den Staat zu übertragen, um allen Menschen gleichberechtigten Zugang zur Herrschaft über politische Teilhabe zu ermöglichen (Piketty 2020,150).
Dieser Grundgedanke führte im Verlaufe der folgenden Jahrhunderte fast überall zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts, das zwar rechtliche Gleichheit schuf, aber die faktische Ungleichheit durch unterschiedlichen Zugang zu politischen Entscheidungen nicht aufheben konnte.
Die Privilegien von Klerus und Adel wurden durch die proprietaristische Ideologie abgelöst, die auf einem simplen Gedanken beruht: „Die gesellschaftliche und politische Ordnung muss sich vor allem auf den Schutz des Privateigentums gründen, um der Emanzipation des Einzelnen und der gesellschaftlichen Stabilität willen“ (246 f.).
Größerer Reichtum und höhere Bildung schufen unterschiedliche Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische Entscheidungen, die bis heute gültig sind. Als Beispiele seien nur die Spenden großer Unternahmen an politische Parteien und die Zusammensetzung der Parlamente genannt: sechs von sieben Bundestagsabgeordneten sind nach Hirschel (2020, 54) Akademiker*innen. In den USA wurden die finanziellen Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen durch die Abschaffung der Deckelung von Wahlkampfspenden massiv erhöht. Dieser Schritt entspricht der neoliberalen Ideologie, die selbst das allgemeine Wahlrecht infrage stellt. Schon Hayek hatte daran offenbar Zweifel, forderte aber nicht explizit die Wiedereinführung des Zensuswahlrechts, „sondern entschied sich schließlich für eine seltsame Formulierung, wonach die Wahl durch Klubs berufstätiger Personen ähnlich den Rotary-Klubs erfolgen sollte“ (Piketty 2020, 886). Diese Hemmungen hat der Unternehmensberater Markus Krall nicht, der in seinem 2020 veröffentlichten Buch „Die bürgerliche Revolution“ explizit fordert, dass alle diejenigen, die Geld vom Staat annehmen (Rentnerinnen, Studentinnen, Hartz- IV-Empfängerinnen, Beamtinnen und auch staatlich subventionierte Unternehmer*innen ihr Wahlrecht wegen Unmündigkeit verlieren sollen (Beduhn 2021, 20).
1.2 Handlungsmöglichkeiten
Wenn man diese Bedrohung der Demokratie verhindern will, muss man unterschiedliche Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen verfolgen. Zentral ist natürlich die Schaffung größerer ökonomischer Gleichheit durch größere Einkommensgleichheit, höhere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen sowie die Schaffung sozialgerechter Infrastrukturen (Gesundheit, Wohnen, Verkehr).
Wichtig ist darüber hinaus die Aufklärung über die Bedeutung ökonomischer Ungleichheit. Diese ist nicht – wie die neoliberale Ideologie behauptet – notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung. Nach Piketty (2020, 16) war es vielmehr der Kampf um Gleichheit und Bildung, der historisch gesehen die Wirtschaftsentwicklung und den menschlichen Fortschritt ermöglicht hat – nicht die Heiligsprechung von Eigentum und Ungleichheit.
Daneben gibt es aber auch Handlungsmöglichkeiten auf sozialer und kultureller Ebene. Als Beispiel soll hier der Vorschlag der amerikanischen Philosophin Allen (2020) genannt werden. Sie schlägt die Förderung sozialer Verbundenheit durch den Bau von Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Hintergründe vor. Als besonders geeignet für die Realisierung hält sie Institutionen wie Schulen, Militär und politische Körperschaften sowie soziale Infrastrukturen wie Ehrenämter, Besuch von Straßenfesten, Nachbarschaftshilfe und Mitgliedschaft in Clubs.
Allen stellt nicht die ökonomische, sondern die moralische, die politische und soziale Gleichheit in den Vordergrund. Sie hebt hervor, dass das Zusammenleben von Kindern aus unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppen in Kindergärten und Schulen für die soziale Vernetzung von besonderer Bedeutung ist. Ökonomischer Egalitarismus ist für Allen nicht ein primäres Ziel, sondern ein Mittel, um politische Freiheit und Gleichheit herzustellen.
2. Bildungsungleichheit
2.1 Probleme und ihre Ursachen
Jürgens und Miller (2013, 7) orientieren sich bei ihrer Darstellung von Bildungsungleichheit an einer Definition von Hradil (2001, 30): „Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“. Als wertvolle Güter gelten Einkommen und Vermögen sowie ein hoher Bildungsabschluss.
Letzterer wird in Deutschland Kindern aus einkommensschwächeren Schichten sehr viel häufiger vorenthalten als in den meisten anderen europäischen Ländern. Nach Untersuchungen der OECD konnten in Deutschland zwischen 1950 und 1975 Menschen mit geringem Bildungsstand noch in höhere Einkommensgruppen aufsteigen, seit 1975 nicht mehr. Der Aufstieg aus ärmeren Familien zum Durchschnittseinkommen dauert in Deutschland sechs Generationen, in skandinavischen Ländern nur 2-3 (Marinic (2021, 5).
Ursache für die Ungleichheit ist die frühe Selektion in Schulen unter anderem durch Klassenwiederholungen, Abschulung (zum Beispiel in die Förderschule Lernen, deren Schüler*innen zu rund 90 % aus der sozialen Unterschicht stammen (Jürgens 2013, 15) und für weiterführende Schulen (in den meisten Bundesländern nach dem vierten Schuljahr). Je früher die Schüler*innen für unterschiedliche Schulformen selektiert werden, desto stärker ist nach Wößmann (2013, 124) die Abhängigkeit der erzielten Leistungen vom familiären Hintergrund.
Ein zentraler Mechanismus für die Selektion ist die differentielle Notengebung, die dem Prinzip der individuellen Förderung widerspricht und einen großen Teil der Schüler*innen dauerhaft als minderbegabt einstuft und sie dadurch abwertet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit Fehlern. Fehler sind nach Jürgens (2013, 218 ff.) notwendige Schritte im Lernprozess. Schüler*innen sollten deswegen ermutigt werden, sie nicht zu vertuschen, sondern sich ihnen zu stellen. Eine vorzeitige Bewertung in Form von Noten behindert diesen Lernprozess.
Andere Länder zeigen, dass es durchaus Alternativen zur Reproduktion sozialer Klassen durch das Schulsystem gibt. Als Beispiele seien Indien und Hongkong genannt. In Indien haben schon kurz vor Ende der Kolonialzeit die britischen Behörden damit begonnen, die Benachteiligung unterer Kasten wie der Unberührbaren zu korrigieren, aber erst nach Gründung der indischen Republik 1947 wurden die traditionellen Diskriminierungen durch Maßnahmen „positiver Diskriminierung“ ersetzt (Piletty 2020, 438). Diese bestanden für die Unberührbaren und die Ureinwohner unter anderem darin, dass ihnen Ansprüche auf reservierte Plätze an Universitäten eingeräumt wurden. Dadurch konnte der Abstand zwischen den Kasten deutlich verringert werden
Die meisten europäischen Länder haben solche positiven Diskriminierungen jedoch abgelehnt, weil die Angehörigen der verschiedenen sozialen Schichten als rechtlich gleichgestellt galten. Für Unterschiede wurden im Sinne der neoliberalen Ideologie nicht die gesellschaftlichen Strukturen, sondern die individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft verantwortlich gemacht. Die Angehörigen der Unterschichten seien durch undisziplinierten Lebenswandel selbst schuld an ihrer mangelhaften Bildung.
In Hongkong schafft es das Schulsystem, alle Kinder auf ein relativ gleiches Niveau zu bringen, weil Klassenwiederholungen ebenso wenig gestattet sind wie ein Abschieben auf eine andere Schulform. Auch die Einstufung der Schüler*innen nach Leistungsgruppen wird nach Schleicher (2013,107) abgelehnt, weil sie sich tendenziell negativ auf die Leistung des Schulsystems auswirkt.
2.2 Handlungsmöglichkeiten
Auf der strukturellen Ebene muss die Einteilung der Schüler*innen nach sozialen Klassen durch inklusive Einheitsschulen ersetzt werden. Nach Wößmann (2013, 121) belegen empirische Untersuchungen, dass frühe Selektion systematisch zu einer Erhöhung der Ungleichheit zwischen Ende der Grundschulzeit und Ende der Mittelstufe führt. Nicht einmal die besten 5 % der Schüler*innen profitieren von einer frühen Aufteilung. In Berlin, wo die Grundschule sechs statt vier Jahre dauert, wurde die These, leistungsstarke Schülerinnen würden durch die spätere Aufteilung gebremst, ebenfalls empirisch widerlegt (Tillmann 2013 149).
Für Schüler*innen mit Förderbedarf ist die gemeinsame Beschulung besonders wichtig, weil sie Anregungen durch andere Schüler*innen für ihre eigene Lernentwicklung benötigen. Eine in der Schweiz durchgeführte Langzeitstudie hat ergeben, dass 18jährige junge Erwachsene mit inklusiver Schulerfahrung deutliche Vorteile gegenüber Absolventinnen von Sonderklassen aufweisen: qualitativ höhere Ausbildungsgänge, besseres Selbstwertgefühl, ein positiveres Fähigkeitsselbstkonzept, mehr Freundschaften (soziale Netzwerke) und eine positivere Einstellung zu Ausländerinnen (Preuß-Lausitz 2013,181).
Piketty (2020, 1245) schlägt in Analogie zur Quotenregelung in Indien die Berücksichtigung der sozialen Herkunft bei den Verfahren der Zuweisung an Gymnasien und der Aufnahme an Hochschulen vor. Anstelle einer individuellen Berücksichtigung von Schülerinnen kann er sich auch vorstellen, dass Quotenregelungen für benachteiligte Wohnviertel und die zuvor besuchten Schulen eingeführt werden. Auf jeden Fall sollten die Mittel für besonders benachteiligte Primar- und Sekundarschulen aufgestockt werden. In Deutschland geschieht dies in geringem Maße schon bei Schulen in sozialen Brennpunkten, deren personale und sächliche Ausstattung besser ist als in vergleichbaren Schulen. Hier ist eine erhebliche Ausweitung entsprechend der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft erforderlich. Notwendig ist auch eine Abschaffung der vergleichenden Schulnoten, durch welche Kinder mit schlechten Leistungen abqualifiziert und in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt werden. Solange dies nicht – wie zum Beispiel in den skandinavischen Ländern – möglich ist, gibt es für Lehrerinnen mindestens die Möglichkeit, während des Lernprozesses Fehler zu gestatten und Noten erst in den abschließenden Tests zu vergeben.
Diskussion
Die durch die Pandemie neu aufgelebte Diskussion um soziale Gleichheit sollte genutzt werden, die diskriminierende Ungleichheit in unterschiedlichen Dimensionen zu bekämpfen. Ökonomische, soziale und politische Ungleichheit sind zwar eng miteinander verbunden, können aber nicht durch Verbesserungen in nur einer Dimension aufgehoben werden. Piketty (2020,819) hat dies dadurch verdeutlicht, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts diejenigen Gesellschaften die größten Ungleichheiten aufweisen, in welchen es in der Vergangenheit gesetzliche Diskriminierungen wegen Hautfarbe oder Sklavenhaltung gab. Dies trifft auf Südafrika, wo die Apartheid zu Beginn der 1990er Jahre aufgehoben wurde ebenso zu wie auf Brasilien, das die Sklaverei als letztes Land Ende des 19. Jahrhunderts abgeschafft hat. Rassendiskriminierung und Vergangenheit als Sklavenhaltergesellschaft sind auch eine Erklärung dafür, dass die USA inegalitärer sind als europäische Länder. Die strukturellen und ideologischen Hintergründe von Ungleichheit müssen deswegen ebenso bekämpft werden wie die ökonomische Ungleichheit.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Bildungssystem, das durch seine Aufteilung einen wesentlichen Beitrag zur Verfestigung sozialer Klassen leistet. Einer Verkürzung der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion auf Mängel in der Digitalisierung sollte deswegen entschieden entgegengewirkt werden.
Literatur
Allen, Danielle (2020): Politische Gleichheit. Berlin: Suhrkamp
Beduhn, Ralf (2021): Wahlrecht nur noch für Wohlhabende? Der vergoldete Saum des rechten Randes. E & W Niedersachsen, Februar/ März 2021, 20 – 21
Hirschel, Dierk (2020): Das Gift der Ungleichheit. Wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können. Bonn: Dietz
Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (2013): Ungleichheit in Gesellschaft und Schule. Eine Einführung in die Problematik von Exklusions- und Inklusionsprozessen. In: Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (Hrsg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Juventa, 7-32
Jürgens, Heiko (2013): Lehrerbewusstsein im selektiven Schulwesen. In: Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (Hrsg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Juventa, 213-234
Marinic, Jagoda (2021): Hinter der Wut. Süddeutsche Zeitung, 19. März 2021,5
Piketty, Thomas (2020): Kapital und Ideologie. München: C. H. Beck
Preuß-Lausitz, Ulf (2013): Inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung. Ein Beitrag zum Abbau von Ungleichheit. In: Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (Hrsg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Juventa, 171-186
Schleicher, Andreas (2013: PISA oder das Scheitern des deutschen Bildungssystems In: Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (Hrsg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Juventa, 96-114
Tillmann, Klaus-Jürgen (2013): Die Verlängerung der Grundschulzeit. Ein Instrument zum Abbau sozialer Auslese? In: Jürgens, Heiko und Miller, Susanne (Hrsg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule. Eine interdisziplinäre Sicht auf Inklusions- und Exklusionsprozesse. Weinheim und Basel: Juventa, 131-152
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