Menü

Sorgeextraktivismus und Corona 

Dieser Beitrag ist Teil der Dokumentation des Workshops "Jenseits von Corona – Arbeit, Reproduktion, Natur" auf der Attac Sommerakademie 2021 von Stefanie Hürtgen, Birgit Kraemer, Fritz Reheis, Ingrid Kurz-Scherf und Christa Wichterich.

Mein Input knüpft in vier Punkten an Versuche an, bei Attac eine feministische Perspektive mit einem Fokus auf Reproduktionsökonomie einzubringen. Zwei aktuelle Anlässe sind Covid-19 und die verheerenden Überschwemmungen und Zerstörungen in Westdeutschland als Folge des Klimawandels. Sie signalisieren Kipppunkte in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen, den sozialen Verhältnissen und der Verletzlichkeit des Lebens. Außerdem knüpft dieser Input an meinem Beitrag vom 9.7.2020 im Blog von Attac an. 

These 1 

Care-Arbeit und die soziale Reproduktionsökonomie bewegen sich an der Schnittstelle von gesellschaftlichen Naturverhältnissen, dem Sozialen und individuellen Körpern. In der Corona-Krise gab es soviel Würdigung für Care-Arbeit als systemrelevant wie nie zuvor, mit Klatscherei und Singerei, was übrigens ein weltweites Phänomen war. Feministinnen sprechen lieber von Lebensrelevanz, um Care-Arbeit aus der instrumentellen Betrachtung in bezug auf das bestehende neoliberale System herauszulösen. 

Der Applaus hat die prekären Arbeitsverhältnisse in diesem für Leben und Überleben existentiellen Bereich beleuchtet, nämlich als überbelastet, unterbewertet und unterbezahlt. Damit wird eine zentrale Krise sozialer Reproduktion akzentuiert: der Personalmangel in der Alten- und Krankenpflege und die Tatsache, dass unter solch neoliberalen Bedingungen Gute Pflege nicht machbar ist. Das verweist auf strukturelle Fehlentwicklungen in unserem Gesundheitswesen: durch Privatisierung und Börsengänge von Krankenhäusern und Pflegeheimen wächst der Verwertungs- und Wachstumszwang und der Zeit- und Effizienzdruck auf die Arbeitskräfte, ohne entsprechende Anerkennung und Entlohnung, denn Kosten zu sparen ist oberste Maxime. Paradigmatisch ist das so beim Fallpauschalensystem in den Krankenhäusern und in der 24-Stunden Altenpflege in Privathaushalten. Auf diese Missstände kam dann die Pandemie sozusagen obendrauf.

These 2 

Ich habe den Begriff Sorgeextraktivismus für die Formen intensivierter Ausbeutung analog zum Ressourcenextraktivismus geprägt, mit dem viele Länder versuchen, finanzielle Krisen zu überwinden, konkret: Raubbau an den Ressourcen, Vernichtung von Artenvielfalt, Fracking, Tiefsee-Mining etc. Mit Strategien des Sorgeextraktivismus sollen nun die Krisen sozialer Reproduktion in den Griff genommen werden. Solche Strategien sind Rationalisierung und Professionalisierung durch Module in der Pflege und digitale Dokumentation, die Rückverlagerung von Sorgearbeit in die Familie und ins Ehrenamt, vor allem aber auch die Transnationalisierung der sozialen Reproduktion in grenzüberschreitenden Sorgeketten. Daraus entwickelt sich aus meiner Perspektive eine Spirale von Krisensituationen der Versorgung: eine Krise wird mit einer sorgeextraktivistischen Strategie z.B. Standardisierung von Pflege mit permanenter digitaler Dokumentation gemanagt, das erzeugt aber neue Erschöpfungen der Arbeitskräfte und der Strukturen und damit neue Krisensituationen.....

Die Perspektive ist eindeutig: wir werden in Zukunft einen wachsenden Sorgebedarf haben, denn der Klimawandel mit den Folgeschäden und andere Umweltverwerfungen erhöhen den Bedarf an Sich-Kümmern, Vorsorge, Versorgen, Saubermachen, Pflege usw. und auf Covid-19 werden – wie wir inzwischen alle kapieren – weitere Mutanten und weitere Viren folgen. Außerdem wird sich der Personalmangel weiter verschärfen, weil ein Drittel der Pflegekräfte wegen Erschöpfung den Beruf wechseln will, viele Intensivpfleger:innen bald in Rente gehen und junge Pflegekräfte bereits in der Ausbildung so überlastet werden, dass sie den Beruf nicht lange ausüben wollen.

These 3

Global Care Chains sind transnationale Sorgeketten, in denen ost- und südosteuropäische Altenpfleger:innen in westeuropäischen Privathaushalten oder Seniorenheimen Altenpflege verrichten oder philippinische, indische, afrikanische etc. Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern arbeiten. Sorgeketten sind durch Anwerbeprogramme und sog. Triple-win-Projekte in den letzten Jahren normalisiert worden. Gesundheitsminister Spahn wurde nicht müde zu versichern, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen von Bosnien bis Mexiko, um unsere Krisen zu managen. Jede Care Chain ist auch Care Drain, d.h. Sorgekapazitäten werden aus anderen sozialen Zusammenhängen abgezogen, sodass die Sorgearbeitskräfte bei sich Zuhause als Mütter, als Töchter, als Krankenschwestern etc. fehlen. Dadurch wird unsere Pflegekrise externalisiert und in die Herkunftsländer und –haushalte der Pflegekräfte verlagert. Wir managen unsere Sorgeprobleme auf Kosten anderer, Uli Brand und Markus Wissen nennen das imperiale Lebensweise.

Dabei zeigen die Sorgeketten überdeutlich, dass Care Arbeit nicht nur geschlechtlich und klassenhierarchisch, sondern auch rassistisch organisiert ist, sprich: auf der Ungleichheit zwischen Geschlechtern, Klassen, Ländern und Menschen mit verschiedenen Hautfarben und Herkünften basieren, mit dem Resultat der Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen. Damit geht eine Stereotypisierung und Stigmatisierung migrantischer Arbeitskräfte einher.

In der Corona-Krise findet eine Zuspitzung der Kommodifizierung der Ware Pflegearbeitskraft und des Care Extraktivismus statt: Beispiel: 2020 hat der philippinische Präsident Duterte die Auswanderung von Krankenschwestern wegen extremer Notlage in den philippinischen Krankenhäusern verboten, aber direkten Warentausch angeboten: Pflegekräfte gegen Impfstoff auf Basis von Regierungsabkommen. Die Bundesregierung hat den Deal offenbar angenommen. 

These 4 

Streiks in Krankenhäusern und Lohnkämpfe in der Altenpflege haben die neoliberalen Arbeitsbedingungen skandalisiert. Dabei geht es nicht nur um Bezahlung sondern auch um Anerkennung, um Arbeitsbelastung und Care-Qualität. Aufwertung und Umverteilung sind zwei wesentliche Vorbedingungen – das fordert z.B. auch das bundesweite Netzwerk Care Revolution, nämlich eine Um- bzw Gleichverteilung zwischen den Geschlechtern, den sozialen Klassen, lokalen und transnationalen Kräften, aber auch zwischen öffentlicher Versorgung, Markt, Privathaushalten und Selbstsorge. 

Um soziale Reproduktion, Gesundheit und auch ein Leben mit Krankheit im Normal- und im Ausnahmefall abzusichern, ist ein Paradigmenwechsel in der Daseinsvorsorge hin zu einer Logik des Sich-Kümmerns und der Sorge notwendig. Die Krise ist nicht durch eine Rückkehr zur alten Normalität zu überwinden, sondern durch Ausrichtung des Wirtschaftens und Versorgens an Bedarfen, Bedürfnissen und am Gemeinwohl statt an privatwirtschaftlichen Maximen von Kosteneinsparung und Verwertung.
Modell für einen demokratisch von unten getriebenen Richtungswechsel kann das Bündnis von Beschäftigten der Charité mit Patient:innen und Berliner Bürger:innen sein, um Care-Arbeit der Verwertung und Kommodifizierung zu entziehen und sie zu remoralisieren. Slogan ist: „Mehr von uns ist besser für alle“, sprich: es müssen mehr Pflegekräfte beschäftigt werden, damit gute Pflege geleistet werden kann. Deswegen sehe ich diese Sorgekämpfe als Politisierung neoliberaler Strukturen und der Wachstumsdoktrin auf Kosten von Care-Arbeitenden. 

So können die Systemfehler des neoliberalen Gesundheitswesens und der herrschende Care-Extraktivismus zu Treibern für Praktiken und Debatten solidarischer Gesellschaftsentwürfe für ein gutes Leben für alle werden. Kommunale Care-Räte könnten ähnlich wie lokale und regionale Klimaräte, Landwirtschafts- und Ernährungsräte oder Mobilitäts- und Verkehrsräte Debatten und Praktiken ökonomischer Transition, Konversion und sozia-ökologischer Transformation von unten organisieren. Das sind auch Räume, wo neuere Entwicklungen in der Reproduktionsökonomie kritisch reflektiert werden können wie die Plattformisierung z.B. Lieferservice von Essen, oder die Roboterisierung in der Altenbetreuung.
Das trifft sich mit Diskursen der letzten Jahre zu Commons, öffentlichen Gütern und zur sozialen Reproduktion als „Fundamentalökonomie“, also als die Ökonomie, die allem zugrundeliegt, im Sinne einer gemeinwohlfördernden sozialen Infrastruktur. Daseinsvorsorge inklusive Pflege, Wohnen und Mobilität wäre dann ein solidarisierungsfähiges Gemeinsames für verschiedene soziale Bewegungen.

Vision ist eine caring economy, die die gesamte Ökonomie von der Reproduktion, vom Sorgen und den Gebrauchswerten her denkt. Dabei steht die Regeneration von menschlichem Leben und der Natur im Zentrum. Nur wenn die Reproduktionsökonomie erneut zum Dreh- und Angelpunkt der Ökonomie mit Praktiken der Sorge für das Soziale, verletzliche Körper und die Umwelt gemacht wird, ist eine andere Welt möglich.
 

Weitere Beiträge aus dem Workshop:
0. Intro
1. Warum Corona kein externer Schock ist und warum es keine Rückkehr zur Normalität geben darf (Stefanie Hürtgen)
2. Warum die herrschenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse und Sorgeverhältnisse auf der kapitalistischen (neoliberalen?) Form gesellschaftlicher Arbeit beruhen (Christa Wichterich)
3. Warum der Zusammenhang zwischen der äußeren und der inneren Natur des Menschen die Demokratisierung der Demokratie notwendig macht (Ingrid Kurz-Scherf)
4. Warum sich ein reproduktionsorientierter Ansatz statt am Geld an der Zeit orientieren sollte (Fritz Reheis)


Download als PDF