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Resonanzstörung: Zur aktuellen Zuspitzung der Mensch-Natur-Beziehung

Soviel Wissenschaft war selten. Virologen sagen uns, wie gefährlich die Lage ist, Ökonomen, was der Lockdown kostet, Sozialwissenschaftler, wer was zu verkraften hat. Dass die Empfehlungen nicht nur je nach Experte, sondern auch je nach Wissenschaftsdisziplin voneinander erheblich abweichen, zeigt sich täglich.

Entscheiden muss die Politik. Ihr gehe es ausschließlich um das „Allgemeinwohl“, beteuern politisch Verantwortliche, wenn ihnen partei- und karrieretaktische Motive unterstellt werden. Aber was heißt „Allgemeinwohl“ eigentlich? Das kann keine Frage des Bauchgefühls sein. Wer politische Verantwortung trägt, kommt ohne verlässliches Wissen nicht aus. Was also tun, wenn die Einzelwissenschaften zu keinem Konsens über das „Allgemeine“ kommen? Das „Allgemeine“ ist zu groß für die Einzelwissenschaft, es sprengt die Disziplingrenzen des herrschenden Wissenschaftsbetriebs. In ihm mag es zwar hervorragende Experten für Virologie, Ökonomie und Sozialwissenschaft geben, aber keine Experten für das allgemeine Wohl.

Was die Politikberatung jetzt also bräuchte, wäre eine Art Vogelperspektive. Sie müsste die Details zu einem Ganzen integrieren. Sie müsste es ermöglichen, das Wohl von Jungen und Alten, Gesunden und Kranken, Armen und Reichen, Arbeitnehmern und Selbständigen, aber auch Gegenwart und Zukunft sowie Nah und Fern gegeneinander abzuwägen. Der gegenwärtig herrschende Maßstab der Ökonomen, das in Geld gemessenen Bruttoinlandsprodukt, taugt dazu jedenfalls nicht, weil es bekanntlich alle und alles über einen Kamm schert.

Läge es nicht nahe, so der Vorschlag, statt des Geldes, das ja oft in einem Atemzug mit der Zeit genannt wird („Zeit ist Geld“), probehalber einmal die Zeit selbst ernst zu nehmen, ohne sie gleich auf das Geld zu beziehen. Die Zeit verbindet tatsächlich alle und alles, sie ist universeller und älter als das Geld. Der Blick auf die Zeitlichkeit der Welt könnte uns ohne Umschweife zu jener Beschleunigung führen, die das Virus jäh gestoppt hat. Zeit- und Beschleunigungsforscher wie Karlheinz Geißler (SZ 24.04.) und Hartmut Rosa (SZ 23.03.) sehen in der „erzwungenen Entschleunigung“ deshalb die Chance der Besinnung auf das Wesentliche im Leben, auf das, was bisher der Hetzerei im Hamsterrad immer wieder zum Opfer gefallen ist. Eine solche Besinnung ist die zentrale Voraussetzung für jene politischen Weichenstellungen, die gegenwärtig anstehen.

Eine erste Erkenntnis könnte sein, dass der derzeitige Tunnelblick auf Corona der Komplexität der Lage nicht angemessen ist. Es gibt bekanntlich noch andere Krisen, die uns die Globalisierung mit ihrer eigenartigen Beschleunigungsdynamik in den letzten Jahrzehnten beschert hat. Eine solche Ausweitung des Blicks könnte zu der Frage führen, was dieser Globalisierung eigentlich zugrunde liegt. Diese Frage steht bekanntlich seit Längerem im Raum. Bereits 2011, unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, hatte der Soziologe Ulrich Beck, weltweit bekannt durch sein im Tschernobyl-Jahr erschienenes Buch „Risikogesellschaft“, bereits von einem „grusligen Wettbewerb der Großrisiken“ gesprochen (SZ 14.03.2011). Beck erinnerte damals im Kontext der Reaktorkatastrophen an die durch einen Hurrikan verursachte Überflutung New Orleans und die Finanzkrise, aber auch den Rinderwahnsinn und die Schweinegrippe. (Er hätte im Übrigen auch, mit Blick auf Europa, die zigtausend Hitzetoten von 2003 und die zigtausend Toten infolge von Infektionen mit antibiotikaresistenten Erregern in seine Gruselliste aufnehmen können, aber auch die jährlich Millionen Hungertoten weltweit.) Beck führte die Krisen seiner Gruselliste auf eine Form der „Modernisierung“ der Welt zurück, bei der etwas schiefläuft, weil sie sich selbst nicht begreift.

Heute sind es neben der Coronakrise die Klima- und Flüchtlingskrise, die uns zu schaffen machen. Vor allen drei Krisen wird seit Jahrzehnten gewarnt, alle drei Krisen erfassen den gesamten Globus und erfordern deshalb globale Antworten, alle drei Krisen spitzen sich wie aus heiterem Himmel urplötzlich zu. Besonders beunruhigend ist: Alle drei Krisen haben das Potenzial, sich wechselseitige zu verstärken (auch wenn das Klima gerade aufatmet). Denken wir nur daran, dass Virus- und Flüchtlings-Krise vermutlich bald miteinander unheilvoll verschmelzen werden, wenn das Virus Flüchtlingslager und -unterkünfte erfasst haben wird. Oder an die von Experten prognostizierten noch viel gefährlicheren Viren, die aus auftauenden Gletschern und Permafrostböden demnächst freigesetzt werden könnten. Als vierte Krise muss natürlich die bevorstehende Wirtschafts- (inklusive einer zu erwartenden Finanz- und Staatsschuldenkrise) genannt werden, die heute schon den Ruf nach einem klimapolitischen Moratorium und nach gigantischen Abwrackprämien laut werden lässt.

Bemerkenswert ist, dass Aufmerksamkeit, Verantwortung und Maßnahmen zur Krisenbewältigung bisher bei all diesen Krisen wie auf einem Verschiebebahnhof je nach aktueller Zuspitzung hin und her geschoben werden. Soll dieser Verschiebebahnhof transparent gemacht werden, müssen wir nach dem inneren Zusammenhang dieser Krisen fragen, danach, was es genau ist, was bei der Modernisierung der Welt bisher nicht begriffen wurde. Alle vier Krisen sind ja tatsächlich keine Meteoriteneinschläge. Jetzt, nachdem der rasende Globalisierungszug nahezu zum Stillstand gekommen ist und die Spaßgesellschaften im globalen Norden pausieren müssen, stellen sich zwei Grundsatzfragen in aller Schärfe. Was treibt die Globalisierung eigentlich so an? Und gibt es zu dieser Art der Globalisierung überhaupt eine Alternative? Diese übergreifenden Fragen sind unausweichlich, um zu klären, was in der bisherigen globalen Modernisierung noch nicht richtig begriffen worden ist.

Zur ersten Frage könnten wir uns bewusst machen, dass sich der Mensch erst seit wenigen Generationen der Logik von Markt, Geld und Kapital anvertraut hat. Wir könnten feststellen, wie sehr sich die Exponentialkurven der Dynamik des Geldes und die von Viren – wie auch Bakterien, Tumorzellen und Metastasen – ähneln. Wir könnten klar erkennen, warum exponentielle Veränderungen so gefährlich sind. Und wir könnten uns an den griechischen Philosophen Aristoteles erinnern, der bereits vor über 2000 Jahren wusste, dass Geld niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel im Leben sein dürfe.

Das Problem einer durch Markt, Geld und Kapital angetriebenen Globalisierung ist in der Tat die Formel „Zeit ist Geld“. Sie stürzt den Globus in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf um die möglichst schnelle Verwandlung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen in Geld. Dieser Kampf um Zeiteinsparung und Temposteigerung, der notwendigerweise mit einer fahrlässigen Verkürzung des Zeithorizonts einhergeht, führt auch in der gegenwärtigen Krise dazu, dass jeder Akteur mit möglichst wenig Ballast für Gesundheits-, Klima- und Armutsprävention unterwegs sein und so spät wie möglich abbremsen will, auch um so früh wie möglich wieder durchstarten zu können. Alles konsequent just-in-time. Kein Wunder, dass viele der tödlichen globalen Gefahren aus Ländern stammen, die als Nachzügler der Industrialisierung noch mit aller Macht auf den rasenden Globalisierungszug aufspringen wollen und deshalb besonders risikoaffin sind. Und kein Wunder, dass sich die Langsameren auf dieser Rennbahn auch weniger gut gegen Krisen wappnen können, in Europa und der restlichen Welt.

Gehen wir also auf der Suche nach Leitplanken für eine alternative Globalisierung in Gedanken doch einmal nicht vom Geld, sondern von der Zeit aus. Stellen wir die Frage, welche Geschwindigkeit der Globalisierung eigentlich angemessen ist. Welches Veränderungstempo verkraftet die natürliche Umwelt, die soziale Mitwelt und der einzelne Mensch? Versuchen wir es statt mit der Formel „Zeit ist Geld“ mit der Formel „Zeit ist Leben“, also mit einer „zeitökologischen“ Perspektive. Dann geht es nicht darum, ob sich etwas rechnet, sondern ob Ereignisse und Prozesse auch zeitlich zu einander passen. Im Kern geht es um Synchronisation, genauer: um Resonanz. Was neu entsteht, muss immer in „Einklang“ kommen mit dem, was bereits vorhanden ist. Man könnte auch sagen, das Neue muss mit dem Alten schwingen. Schwingungen sind periodische Auf- und Abwärtsbewegung, die letztlich auf Kreisläufen beruhen. Planeten und Elektronen, Ebbe und Flut, Aus- und Einatmen haben ein solches zyklisch-schwingendes Bewegungsmuster. Schwingungen sind die Basis des Resonanzgeschehens.

Eigentlich weiß jeder, wie stark auch wir Menschen auf Resonanz angewiesen sind: in Bezug auf die natürliche Umwelt, die soziale Mitwelt und die eigene Innenwelt. Wenn wir die Natur pfleglich behandeln, erwarten wir einen sicheren Raum zum Leben und dass sie uns gut ernährt. Wenn wir uns anderen Menschen mitteilen, erwarten wir, verstanden zu werden, wenn wir uns anstrengen, Anerkennung, wenn wir lieben, Gegenliebe. Und wenn wir eine Entscheidung treffen und entsprechend handeln, wollen wir hinterher mit uns im Reinen sein, soll es sich „stimmig“ anfühlen. Immer soll etwas zurückkommen, wenn wir etwas angestoßen haben. Ob das aber geschieht, ist nie ganz sicher. Resonanz ist letztlich „unverfügbar“ (Hartmut Rosa), weil viel zu viele Voraussetzungen im Spiel sind, die wir kaum je alle im Blick, erst recht nicht im Griff haben. Resonanz lässt sich also nicht erzwingen, nur erleichtern.

Die kurze Geschichte der kulturellen Evolution des Menschen beweist, dass er sein Eingreifen in die Welt auch begreifen kann. Aufgrund dieser wahrhaft fundamentalen Resonanz ist der Mensch, mehr als jede andere Spezies, auf das ständige Lernen angewiesen, aber auch dazu befähigt – ein beispielloses Resonanzpotenzial, das uns Mut machen könnte.

Wo Resonanzen trotz allen Bemühens um Synchronisation ausbleiben, drohen böse Überraschungen. In uns selbst, wenn wir etwa aufgrund dauerhafter Überforderung ausbrennen, im sozialen Miteinander, wenn diejenigen, die dauerhaft nicht gehört und beteiligt werden, plötzlich ausrasten. Und in der Umwelt, wenn die dauerhaft geschundene Natur „zurückschlägt“ – durch Hochwasser und Trockenheit, Unfruchtbarkeit, Artenschwund und eben auch durch Viren. Wenn wir den Lebensraum von Tieren zu sehr einengen, uns gegen die von ihnen ausgehenden Gefahren zu wenig schützen und diese Gefahren obendrein zu schnell in alle Welt verbreiten, „zeigt“ die Natur der Spaßgesellschaft, dass der Spaß zu Ende ist. Dann bleibt uns nur mehr die Alternative zwischen einem kurzen, aber radikalen oder einem langen, relativ milden Lockdown mit mehreren Wellen der Wiederkehr des Virus.

Was in den Krisen „zurückschlägt“, ist nicht die Natur selbst, sondern unser fehlgeleiteter Umgang mit ihr: bei durch Viren verursachten Krisen die Zurückdrängung des Lebensraums der Tiere, bei der Klima-Krise die Plünderung der Kohlenstofflager der Erde, bei der Flüchtlings-Krise das Zulassen und Fördern von Lebensbedingungen im globalen Süden, die Menschen millionenfach bei uns Schutz und neue Lebensgrundlagen suchen lassen. Fehlgeleitet wird der Umgang mit Natur und Mitmensch durch eine geldgetriebene Globalisierung, die Räume systematisch ausdehnt und verdichtet, Zeiten und Zeithorizonte systematisch verkürzt – und dabei jedes Maß verloren hat.

Resonanz als Mit- und Wiederschwingen ist die Grundlage jener Rhythmen, die die Welt zusammenhalten und das Leben tragen, sagt der Molekularbiologe Friedrich Cramer. Resonanzbeziehungen sind so ziemlich das Gegenteil von exponentiellen Prozessen: Resonanz zielt auf das Zurückkommen, auf die Wiederkehr des Ähnlichen. Exponentialität bedeutet Entfernung (mit wachsender Geschwindigkeit), zielt also auf die Auflösung von Ordnung. Resonanz sorgt für relative Stabilität. Und das tut sie, trotz aller evolutionären Neuerungen, seit Milliarden Jahren.

Für die Zukunft der Globalisierung brauchen wir eine Art von Resonanzstrategie. Sie muss dafür sorgen, dass Rhythmen und Kreisläufe respektiert werden, die die Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu anderen und zur Natur bestimmen. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht (exponentielle Veränderungen sind potenziell tödlich). Prinzipien wie Reflexivität, Reziprozität (Wechselseitigkeit) und Regenerativität können konkretisieren, wie Resonanz in Bezug auf Innenwelt, Mitwelt und Umwelt ermöglicht werden kann. Klar müsste auf alle Fälle sein: Der Mensch hat kein angeborenes Recht, seinen eigenen Lebensraum immer mehr auszudehnen, Treibhausgase beliebig in die Atmosphäre zu blasen, Mitmenschen fast ohne Gegenleistung für sich arbeiten zu lassen und sich bei all dem auf ökonomische „Sach“zwänge zu berufen, die er tatsächlich selbst geschaffen hat. (Der Mensch hat aber sehr wohl ein angeborenes Recht auf Arbeit, von der er leben kann, als „zivilisatorisches Minimum“, wie Oskar Negt treffend feststellt).

Eine Resonanzstrategie müsste vor allem klare Prioritäten für das menschliche Wirtschaften setzen: Die Finanzwirtschaft dient der Realwirtschaft, die Realwirtschaft dem Menschen, mit all seinen wirklichen Bedürfnissen und wirklichen Fähigkeiten – nicht umgekehrt. Statt in atemberaubender Geschwindigkeit ständig Neues hervorzubringen und Bedürfnisse und (Zusammen)Leben der Menschen hektisch daran anzupassen, sollten wir uns in Zukunft mehr um die Grundlagen des Lebens, des guten Lebens für alle kümmern: um eine „Ethik des Genug“, einschließlich der Vorbeugung gegen Gefahren, die die Natur mit sich bringt, und erst recht gegen jene, die wir selbst erzeugen. Eine Resonanzstrategie könnte uns schließlich zu einem neuen Leitbild für Wohlstand führen, Geld- und Güterwohlstand durch Zeitwohlstand ergänzen und ersetzen.

Eine Resonanzstrategie erfordert also nichts Geringeres als die Umkehrung des bisher herrschenden Verhältnisses von Geld und Zeit. Die Unterordnung der Zeit unter das Geld erweist sich immer klarer als Irrweg. Wenn in der gegenwärtigen Krise tatsächlich nicht mehr die Banken, sondern Betriebe des Gesundheits- und Pflegesektors als „systemrelevant“ gelten würden, wäre das ein erster Schritt.

 

Vom Autor: Die Resonanzstrategie. Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen, München 2019: oekom-Verlag.

Kontakt: Prof. Dr. Fritz Reheis, Branigleite 19, 96472 Rödental, Netz: www.fritz-reheis.de Tel.: 09563/8166 und 0170/1155036

Mail: fritz.reheis@t-online.de und fritz.reheis@uni-bamberg.de

 


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