Paul Verhaeghe: UND ICH? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft
Eine Rezension des Buches “UND ICH? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft” von Paul Verhaeghe
Autor
Paul Verhaeghe ist klinischer Psychologe und Psychoanalytiker. Er forscht mit seiner Fachgruppe zum Thema Burnout-Syndrom und Depression und lehrt als Professor an der Universität Gent.
Zielsetzung und Inhalte
Der Klappentext gibt das Anliegen des Verfassers sehr gut wieder:
„Noch nie ging es uns so gut – noch nie haben wir uns so schlecht gefühlt. Ist die steigende Zahl seelischer Krankheiten, sind Burnout, Depressionen und Versagensängste der Preis einer immer hektischeren Jagd nach Erfolg und Wachstum? In einer furiosen Anklage beleuchtet […] Verhaeghe, welche Auswirkungen das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich in jedem Lebensbereich dem Diktat der Ökonomie unterwirft, auf die Psyche der Menschen hat.“
Den aufgeworfenen Fragen geht der Autor in acht Kapiteln nach. Der Rezensent beschränkt sich auf ausgewählte Fragestellungen und Argumentationslinien, die den Zusammenhang zwischen neoliberaler Ökonomisierung, gesellschaftlichen Problemen und psychischer Verarbeitung analysieren.
Identität
Fast überall in Europa sind in den letzten Jahren Identitätsdebatten entbrannt, die besonders von rechtspopulistischen Gruppierungen und Parteien angefacht werden. Während früher „Identität” mithilfe geographischer Stereotypen bestimmt wurde (Belgier versus Holländer, Bayern versus Preußen…) sind als Folge sozialökonomischer Faktoren der Globalisierung andere Klischees entstanden: „Einheimische versus Fremde,” „christliche Kultur“ versus „rückständiger Islam” oder „hart arbeitende Mittelschicht” versus „Abzocker” (11).
Wenn man gegen solche Klischees vorgehen will, muss man sich zunächst darüber verständigen, was „Identität“ ist und wie sie entsteht. Identität ist kein „tief in uns verborgener Kern“ (13), sondern entsteht durch Auseinandersetzung mit Vorstellungen der Außenwelt. Dabei spielen zwei Mechanismen eine zentrale Rolle: Übereinstimmung mit und Abgrenzung von anderen, die stets nur zu vorübergehenden, sich permanent ändernden Resultaten führt.
Identität ist keine mentale Einheit von Persönlichkeitsmerkmalen, sondern hat mit Normen und Werten zu tun, die wir uns angeeignet haben oder die wir ablehnen. Auf gesellschaftlicher Ebene besteht ein enger Zusammenhang zwischen Identität und Ideologie. Währen in traditionellen Gesellschaften diese Ideologie in Form einer „geschlossenen Erzählung“ (15) übermittelt wurde, können in offenen Gesellschaften verschiedene Erzählungen nebeneinander existieren.
Der machbare Mensch
Schon in der calvinistischen Meritokratie ist angelegt, dass der Mensch durch besondere Anstrengungen göttliche Gnade erlangen kann. In der Wissenschaft hat diese Sichtweise von Machbarkeit und Fortschritt unter anderem den Sozialdarwinismus hervorgebracht, der schwache Gruppen als störende Hindernisse für gesellschaftlichen Fortschritt betrachtete und ihre Eliminierung durch natürliche Selektion und Verzicht auf Hilfeleistungen herbeiführen wollte.
Ende des vergangenen Jahrhunderts ist ein radikal neuer Identitätsbegriff entstanden: „Du musst dich selbst erschaffen, du musst es schaffen” (73). Verbunden mit der Rückkehr zu einer neuen Variante des Sozialdarwinismus, dessen pseudowissenschaftlicher Unterbau das „egoistische Gen” von Richard Dawkins ist.
Ebenso wie beim traditionellen Sozialdarwinismus die Unterstützung schwacher Gruppen abgelehnt wird, betrachtet diese Richtung es als Anomalie, Menschen zu unterstützen, die es nicht geschafft haben, weil sie ihren Misserfolg ausschließlich sich selbst zuzuschreiben haben. Im Unterschied zur Aufklärung, die Gesellschaft und Ethik für formbar hielt, „plädiert der Sozialdarwinismus dafür, die Natur gewähren zu lassen. Nur nicht eingreifen! Das Beste im Menschen wird den besten Menschen nach oben bringen. Die neueste Mutation des Sozialdarwinismus heißt Neoliberalismus, und anstelle der Natur lässt man nun vor allem ‚den Markt‘ gewähren” (77).
Die neoliberale Variante der Machbarkeit des Individuums setzt nicht auf Erziehung und damit den Einfluss der Umwelt, sondern auf die von der Gesellschaft nicht behinderte Entfaltung des egoistischen Gens. Diese einseitig biologisierende Sichtweise steht im Widerspruch zu Erkenntnissen der Verhaltensforschung sowohl bei Menschen als bei Tieren, die altruistisches wie egoistisches Verhalten als in der Natur des Menschen liegend betrachtet. „Identität wird großenteils von der Umwelt geprägt, der Mensch ist im Wesentlichen ein Gemeinschaftstier, dessen evolutionäres Erbe sowohl die Neigung zur Solidarität als auch zum Egoismus beinhaltet. Welche Seite die Oberhand erhält, hängt von der Umgebung ab” (100).
Identität ist damit veränderbar, was mit veränderten Werten und Normen zu tun hat. Der angebliche Verfall von Werten und der Verlust von Identität heißt deswegen nur: an die Stelle alter Werte und Identitäten sind neue getreten. Damit verändern sich auch psychische Störungen, weil Abweichungen von vorherrschenden Normen heute etwas anderes bedeuten als zum Beispiel zu Freuds Zeiten.
Gesellschaft und psychosoziale Störungen
Rechte Ideologen wie der Engländer Theodore Dalrymple führen die heutigen gesundheitlichen und sozialen Probleme auf „unsere Verwöhngesellschaft” (107), den Sozialstaat, zurück, der insbesondere im Gesundheitssektor die Menschen in die Rolle von Patienten dränge, die sich nicht mehr bemühten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. „Lass das Jammern und tu was” (107) lautet seine Botschaft.
Eine andere Erklärung sieht die Ursache der psychischen und sozialen Probleme im Verschwinden der „großen Erzählungen” (Religionen und Ideologien), die nach Jean-Francois Lyotard das Fundament einer gemeinschaftlichen Identität und der damit verbundenen Ethik und Sinngebung waren. Wenn man an nichts mehr glauben könne, fehle jeglicher Halt. Im Unterschied zu Lyotard stellt Verhaeghe fest, dass es sehr wohl eine neue dominante Erzählung gebe: den Neoliberalismus, der maßgeblich die neue Identität und die damit verbundenen Probleme bestimme. Diese Erzählung fasst er wie folgt zusammen:
„Menschen sind konkurrierende Wesen, die vor allem auf den eigenen Profit aus sind. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das ein Vorteil für uns alle, weil jeder im Wettbewerb sein Bestes geben wird, um an die Spitze zu gelangen. Dadurch bekommen wir bessere und billigere Produkte sowie effizientere Dienstleistungen innerhalb eines gemeinschaftlichen freien Marktes ohne staatliche Einmischung. Das ist ethisch korrekt, denn der Erfolg oder Misserfolg eines Individuums bei diesem Wettbewerb hängt ganz und gar von der eigenen Anstrengung ab. Jeder ist also selbst verantwortlich für den eigenen Erfolg oder Misserfolg. Daher die Bedeutung der Bildung, denn unsere Welt ist eine sich rasant entwickelnde Wissensökonomie, die gut ausgebildete Menschen mit flexiblen Fähigkeiten braucht. Ein Diplom ist gut, zwei sind besser und lebenslanges Lernen Pflicht. Jeder muss unaufhörlich wachsen. Die Konkurrenz ist allerdings gnadenlos. Deshalb auch die zwingende Notwendigkeit von Mitarbeitergesprächen und ständiger Evaluierung, und zwar von unsichtbarer Hand aus einem zentralen Management heraus gelenkt“ (109f.).
Diese neue große in der Ökonomie entstandene Erzählung hat mittlerweile sämtliche gesellschaftlichen Bereiche erfasst: von der Wissenschaft über das Bildungswesen bis hin zum Pflegesektor und den Medien. Zentrales Element dieser nunmehr seit 30 Jahren die westlichen Gesellschaften dominierenden Ideologie ist die Forderung von „Lohn nach Leistung” im Namen der Freiheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte in Westeuropa jedes Kind ohne Behinderung durch Herkunft, Rasse oder Gesellschaft die gleichen optimalen Chancen erhalten. Die Kombination von Freiheit und Lohn nach Leistung erklärt, warum diese Form einer Meritokratie so hohe Anziehungskraft entwickelte.
Innerhalb kürzester Zeit kippte dieses zunächst emanzipatorische Konzept: die soziale Mobilität kam sehr schnell zum Stillstand und die Kluft zwischen Unter-und Oberschicht wuchs. Es entstand eine neue Elite, die die Tür vor Nachfolgern verschloss. Die Zugehörigkeit zu dieser Elite bestimmt auch die Bildungschancen.
Gewinner werden systematisch bevorteilt, so dass sie an der Spitze bleiben. Dadurch entsteht eine stabile Gesellschaft, die Privilegien konsolidiert und sich nach unten abschottet. Die neoliberale Ideologie definiert Männer und Frauen mit der höchsten Produktivität als ideale Menschen, die gemäß der sozialdarwinistischen Ideologie „von Natur aus” bevorteilt werden. Eine auf solche Art von Verdienst beruhende Gesellschaft muss sich – wie schon David Hume prophezeit hat, auflösen, weil sie keine solidarische Basis entstehen lässt.
Verhaeghe illustriert dies am Beispiel der Personalpolitik der Firma Enron. Die Mitarbeiter mit der besten Produktivität erhielten sämtliche Boni und diejenigen mit der niedrigsten wurden gefeuert. Human-Ressource-Manager auch anderer multinationaler Konzerne müssen eine 20/70/10 Regel befolgen, die besagt, dass 20 % der Mitarbeiter Überflieger sind, 70 % die kritische Masse bilden und 10 % jedes Jahr vor die Tür gesetzt werden müssen.
Enron setzte dieses Modell so um, dass die 10 % nicht nur zum Jahresende gekündigt wurden, sondern zusätzlich ihr Name, Foto und verfehlte Zielvorgaben auf der Website der Firma veröffentlicht und sie dadurch gedemütigt wurden. „Resultat: Innerhalb kürzester Zeit fälschten alle Mitarbeiter ihre Zahlen; es herrschte totale Paranoia. Dieser Betrug im großen Maßstab führte zu einem Gerichtsverfahren und zum Bankrott der Firma” (119).
In der Gesundheitsversorgung hat das neoliberale Modell dazu geführt, dass Patienten nicht mehr die Zielgruppe der Tätigkeit, sondern lediglich Mittel zum Zweck des Erreichens von Gewinn wurden. So wird Menschen eingeredet, dass sie unbedingt an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen sollten. Modeerkrankungen dienen ebenfalls dem Zweck, Geld ins System zu bringen.
Die Kontrolle medizinischer Leistungen erfordert in den Krankenhäusern mittlerweile ein umfangreiches Management, das sich zu einem Krebsgeschwür ausgewachsen hat. „Eine neoliberale Organisation schafft stets eine nicht produktive Oberschicht, deren vornehmste Aufgabe darin besteht, sich selbst zu erhalten, indem sie die anderen kontrolliert, was eine ständig wachsende Flut von Regeln zur Folge hat” (127). Die Messungen betreffen aber nur die Arbeitenden, nicht die Messenden. Die Kombination von Regelungswut und Kontrollsystem führt zu einer Lähmung von Produktivität und Kreativität.
Da die Mitarbeiter in diesem System einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit auf Dokumentation und Eintragung der Messergebnisse verwenden müssen, wird die Qualität weiter gesenkt.
Abschließend zu diesem Kapitel stellt Verhaeghe fest, dass die neoliberale Meritokratie zur Erblichkeit sowohl von Vermögen als auch von Bildung geführt hat. In der Folge verschwindet die Mittelschicht und die Spitzengruppe schaut auf die Unterschicht herab, die selbst schuld ist, wenn sie in der Gosse liegt. Hilfe wird – wenn überhaupt – nur in Form von Almosen angeboten, was zu einer Wiederauferstehung des Wohltätigkeitsdenkens vergangener Jahrhunderte geführt hat. Soziale Emanzipation bleibt außen vor, weil sie nicht mit der sozialdarwinistischen Sichtweise der Selbstverschuldung vereinbar ist. Die Unterschicht kommt von außen zu hören, dass sie an ihrem Elend selbst schuld sei und fühlt sich so innerlich ohnmächtig, etwas zu ändern. Dadurch entsteht ein Gefühl der Demütigung und Aussichtslosigkeit, das zur Verzweiflung, Rachegefühlen und Gewalt führen kann. Ein solcher „machtloser Aufstand der Ohnmächtigen“ (136) hat im Jahr 2005 in den französischen Vorstädten zu Unruhe und Gewalt geführt.
Neue Erziehungsvorstellungen und ihre Folgen für Kinder und Jugendliche
Der Verhaltensforscher Frans de Waal hat nachgewiesen, dass Primaten Empathie besitzen und auf Zusammenarbeit und Solidarität ausgerichtet sind, wenn ihre Umgebung dieses Verhalten fördert. Unter anderen Umständen können sie dagegen sehr grausam und egoistisch sein. Für Menschen hat sich diese Umgebung in den letzten Jahren geändert: Während Normen und Werte früher überwiegend von den Eltern vermittelt wurden, spielen heute die Medien eine größere Rolle. Ihre explizite Botschaft lautet häufig: „Jeder kann perfekt sein, jeder kann alles haben. Die implizite Botschaft ergänzt: Wenn du dein Bestes gibst” (140). Diese Botschaften sind die Grundlage dafür, dass das 21. Jahrhundert nicht mehr – wie von Ellen Key für das 20. Jahrhundert proklamiert, das Jahrhundert des Kindes ist, sondern das Jahrhundert des gestörten oder sogar des gefährlichen Kindes wird. Verhaeghe unterscheidet drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen:
1. leistungsorientierte Hyperindividualisten, für die nur die Karriere zählt – ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer
2. junge Leute, die nicht bereit sind, sich anzustrengen, aber ihren Vorteil im Sinn haben. Diese bezeichnet er als „Schnullerkinder”.
3. Kinder und Jugendliche, denen eine Störung attestiert wird.
“Diese drei Gruppen halten uns einen Spiegel vor: Sie sind das Produkt der herrschenden Erzählung, in der und mit der sie groß geworden sind” (146).
Schnullerkinder sind mit der Botschaft groß geworden, dass Bedürfnisse und Verlangen kurzfristig befriedigt werden müssen und Konsum oberstes Lebensziel ist. Ihnen wurde von den Eltern zu viel abgenommen, so dass sie nicht gelernt haben, mit Frustrationen umzugehen und auf eigene Anstrengung zu bauen.
Die Hyperindividualisten zeichnen sich durch eine ichzentrierte Moral aus und sind das Ergebnis des vorherrschenden Idealbildes der Gesellschaft. In den Schulen hat das Wettkampfmodell Einzug gehalten, was sich in Begriffen wie „Top-Schulen”, „Top-Lehrer” oder „Top-Sport” äußert. Die Vermittlung von Kompetenzen wird durch Persönlichkeitsmerkmale wie Flexibilität und Selbstmanagement ergänzt. Junge Menschen sollen sich als Unternehmer ihrer selbst sehen.
Die Kehrseite des Wettbewerbs ist eine wachsende Zahl junger Menschen die sich für gescheitert halten – in der Regel schon ab dem zehnten Lebensjahr – und darauf ihre Identität aufbauen. Sie werden auf den Pausenhöfen als „Loser” bezeichnet, reagieren ängstlich oder depressiv oder mutieren zu hemmungslosen Konsumenten.
Zur Identität des Menschen als Unternehmer gehört als Lebensziel der Erfolg. Wer diesem Leitbild nicht entspricht, gilt als unmoralischer Versager, der an einen Psychotherapeuten weitergereicht wird. Ideal für die Karriere sind dagegen Persönlichkeitscharakteristika wie gut reden können, lügen können ohne Schuldgefühle, bei Misserfolgen anderen die Schuld zuweisen und der Griff zu instrumenteller Gewalt – Merkmale, die in dem Handbuch der Psychopathie entnommen sein könnten.
Die neuen Störungen
Psychische Störungen reflektieren die sozialen Normen einer Gesellschaft, an denen sie auch gemessen werden. In der Gesellschaft der Gründerzeit brachte das repressive Normensystem sexuell frustrierte Menschen hervor. Die zu Freuds Zeiten typischen Psychoneurosen waren Hysterie als weibliche und Zwangsneurose männliche Variante. Heute dominieren bei Erwachsenen dagegen Depressionen und Angststörungen, bei Kindern ADHS und Autismus. Ängste führt Verhaeghe auf die exponentielle Zunahme von Evaluierungen, Audits, Mitarbeitergesprächen und Überwachungskameras auf der einen sowie auf das Verschwinden von Autorität und Vertrauen auf der anderen Seite zurück (181).
Als Beleg für die Richtigkeit seiner Hypothesen führt er in die Untersuchungen von Wilkinson und Pickett an, die in vom Neoliberalismus geprägten sehr (Einkommens-) ungleichen Gesellschaften ein höheres Maß an psychischen Störungen nachgewiesen haben. In ihnen gibt es mehr Aggressionen, weniger Vertrauen, mehr Angst und weniger Beteiligung am Gemeinschaftsleben. Zu viel Ungleichheit führt zu einem Verlust an Respekt – auch sich selbst gegenüber. Die am unteren Ende der beruflichen Skala Platzierten haben den meisten Stress. Medizinisch nachgewiesen ist, dass sie höhere Cortisolwerte (höherer Stress) und mehr Blutgerinnungsfaktoren (größeres Herzinfarktrisiko) aufweisen (185). Die zentralen Werte der neoliberalen Gesellschaft: Pflicht zum Erfolg und Pflicht zum Genuss (Konsum) führen zu Schuldgefühlen bei Misserfolg und Depressionen, die von den Betroffenen wiederum als persönliches Versagen empfunden werden. Übersteigerte Form von Genuss sind Sexsucht, Bulimie und Kaufzwang. Die übertriebene Version von Selbstmanagement ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Der „Psychobetrieb” hat nach Verhaeghe eine zunehmend disziplinierende Funktion, die Abweichungen von der Norm korrigieren soll. Verbunden mit einem vorherrschenden medizinischen anstelle eines biopsychosozialen Krankheitsbegriffs führt dies zu einer gesteigerten Verordnung von Medikamenten.
Das gute Leben
Ziel einer gesellschaftlichen Änderung muss die Wiederherstellung einer Balance von Gleichheit und Verschiedenheit sowie Gemeinschaftssinn und Autonomie sein. Ein wichtiger Ansatzpunkt hierfür ist die Änderung der heutigen Arbeitsorganisation. Wichtigste Ursache für arbeitsbedingte Depressionen ist nicht zu hohe Arbeitsbelastung, sondern mangelnder Respekt bzw. ausbleibende Anerkennung. Rein materielle Belohnungen erhöhen ab einem bestimmten Einkommensniveau nicht mehr die Motivation, sondern führen sogar zu schlechteren Leistungen als bei Kollegen, die intrinsisch motiviert sind. Die heute vorherrschende Form der quantitativen Evaluierung führt zu einer Zerstörung der intrinsischen Motivation. Sie schafft einen bürokratischen Apparat, der dazu führt, dass ein erheblicher Teil der Arbeitszeit nicht mehr auf Kernaufgaben des Berufes, sondern auf Dokumentation verwendet wird. Eine qualitative Evaluation würde dagegen die Betroffenen zum Beispiel danach fragen, welche Elemente ihrer Arbeit ihnen besonders wichtig sind und was sie verändern möchten. Durch diese Art der Evaluation wachsen sehr schnell das Verantwortungsgefühl und die Motivation.
Für ein gutes Leben ist es darüber hinaus notwendig, wieder Gemeinschaftswerte wie Solidarität, Gemeinschaftssinn und Spiritualität in den Vordergrund zu rücken. Als Ansatzpunkt schlägt Verhaeghe die mit dem aktuellen Ego-Kult verbundene Sorge um das eigene Wohlergehen vor. Solidarität lässt sich nicht erzwingen, sondern muss einen Bezug zum persönlichen Wohlbefinden haben.
Diskussion und Fazit
Verhaeghe ist es hervorragend gelungen, die Folgen der Durchdringung sämtlicher Gesellschaftsbereiche durch die neoliberale Ideologie und Ökonomie für die Entwicklung von Persönlichkeit, Sozialverhalten und psychischen Störungen darzustellen. Wünschenswert wäre jedoch eine noch deutlicher ideologiekritische Reflexion des Identitätsbegriffes („Identity is the very devil“ – Wittgenstein), der nicht unbedingt zur Klärung von Sachverhalten – auch in der Persönlichkeitsentwicklung – beiträgt. Ebenso sollte man bei den von ihm geprägten Begriffen zur Charakterisierung heutiger Jugendlicher Vorsicht walten lassen. Wenn er von „leistungsorientierten Hyperindividualisten“ spricht, für die nur die Karriere zählt, sollte deutlich gemacht werden, dass es sich hierbei um eine Tendenz, nicht aber um eine vollständige Beschreibung der Persönlichkeit von Jugendlichen handelt. Die Gefahr von negativen Zuschreibungen ist sonst sehr groß. Hilfreich wäre es, diese von ihm diagnostizierten Entwicklungstendenzen durch empirische Untersuchungen zu untermauern, um auch Informationen darüber zu erhalten, wie stark diese Tendenzen sich bereits im Verhalten von Jugendlichen manifestieren.
Trotz dieser Kritik: Die Lektüre gibt sehr viele Anstöße zum Nachdenken und zur Bildung eigener Hypothesen und kann deswegen ohne Einschränkung empfohlen werden. Das Buch ist leicht verständlich und manchmal ironisch („Schnullerkinder“) geschrieben.
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