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Ohne globale Gerechtigkeit gibt es keine Nachhaltigkeit: Kritische Perspektiven auf den neuen Energiekolonialismus und Wege zu seiner Überwindung

Miriam Lang aus Quito, Ecuador zeigt am Beispiel der Auseinandersetzung um die Ölföderung im Yasuní-Nationalpark, wie ökosoziale Kämpfe in Deutschland und Lateinamerika sich miteinander verbinden können.

Die ungleichen Tauschbeziehungen zwischen Lateinamerika und den verschiedenen Regionen des Nordens haben eine lange Geschichte. Heute arbeiten ökologische Ökonom*innen daran, die Material- und Energieströme zwischen verschiedenen Weltregionen zu quantifizieren. Sie kommen zu dem Schluss: Auch im 21. Jahrhundert ist Lateinamerika weltweit die Region mit den höchsten Nettoexporten von Rohstoffen pro Kopf der Bevölkerung. Seit den 1970er Jahren hat sich der Rohstoffabbau in Lateinamerika vervierfacht, ein Wachstum, das weit über dem weltweiten Durchschnitt liegt. Das jüngste Ausmaß der Rohstoffgewinnung hat ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht: In den letzten vier Jahrzehnten wurden in Lateinamerika möglicherweise mehr Rohstoffe für den Export gewonnen als in der gesamten Geschichte der Region zuvor. Gleichzeitig importieren die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften mehr, als sie exportieren. Mit anderen Worten: Sie dekapitalisieren sich materiell, ohne notwendigerweise positive wirtschaftliche Erträge zu erzielen. Dies bestätigt die These vom ökologisch und ökonomisch ungleichen Tausch. Gut ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Eduardo Galeanos bahnbrechendem Text „die offenen Adern Lateinamerikas“ hat sich also strukturell wenig geändert.1

Paradoxerweise wird diese Lage durch die hegemonialen Strategien der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik nur noch weiter verschärft. Europa, die USA und China, die drei großen Machtblöcke der heutigen Welt, setzen alle drei auf die Elektrifizierung von großen Teilen der Produktion und des Transports um ihre CO2-Emissionen zu senken, streben dabei grünes Wachstum an und konkurrieren um die Vorreiterrolle bei erneuerbaren Energiequellen. Diese geplante „Dekarbonisierung“ bei gleichzeitiger Digitalisierung der Ökonomien ist jedoch weit davon entfernt, immateriell zu sein oder vom Ressourcenverbrauch entkoppelt, wie immer wieder behauptet wird. Sie begründet vielmehr Prognosen einer exponentiellen Zunahme des Bedarfs an Mineralien wie Lithium, Graphit, Kobalt, Kupfer, Molybdän, seltene Erden usw. Für die drei Erstgenannten soll dieser Nachfragezuwachs laut Weltbank von 2018 bis 2050 bei 500% liegen.  Aus der Perspektive der Peripherie-Länder, wo diese Mineralien vornehmlich verortet werden – weit über die Hälfte der weltweiten Lithium-Vorkommen befinden sich beispielsweise im Dreiländereck zwischen Bolivien, Chile und Argentinien-, bedeutet das, dass Natur, Gesellschaften und Regierungen noch mehr vom Rohstoffhunger der Konzerne und „Partnerländer“ im Norden unter Druck gesetzt werden als bisher. Der gesellschaftliche Diskurs im geoökonomischen Norden geht dabei stillschweigend davon aus, dass der Süden der eigenen Energiewende „zu Diensten sein“ wird.

Koloniale Aneignung wird selbstverständlich vorausgesetzt

Vier Rollen sind in diesem Prozess der nach wie vor wachstumszentrierten ökologischen Modernisierung für die Länder des globalen Südens vorgesehen. Rollen, die allesamt durch koloniale Aneignungslogiken und die entsprechenden Imaginarien geprägt sind:

  1. Der Süden wird als unerschöpfliches Rohstofflager imaginiert, welches das Wirtschftswachstum im Norden wie in den letzten Jahrhunderten materiell weiter füttern wird.
  2. Im Rahmen der Netto-Null-Rethorik wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass für die Kompensation von „unvermeidlichen“ Emissionen Flächen im geopolitischen Süden zur Verfügung stehen und die dortigen Bevölkerungen sich marktförmige Waldschutzlogiken aufzwängen lassen, die oft den Interessen und Lebensweisen der lokalen Bevölkerung entgegenstehen und die Souveränität untergraben. Hierbei spielt immer wieder die koloniale Vorstellung von „leeren Räumen“ eine Rolle, die so in Wert gesetzt werden können.
  3. Im Rahmen der grünen Wachstumsziele wächst auch der Export von Müll und toxischen Rückständen in den globalen Süden, die man im Norden nicht haben will. Technologien für Erneuerbare haben eine begrenzte Lebensdauer (die Angaben schwanken zwischen 15 und 25 Jahren für Windkraft und Photovoltaik) und müssen danach entsorgt werden. Also der Süden als Mülldeponie für die „saubere“ Dekarbonisierung und Digitalisierung. 
  4. Schließlich werden die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas natürlich als potentiell lukrativer Absatzmarkt für entsprechende Technologien im Rahmen der ungleichen Tauschbeziehungen ins Auge gefasst, die die globalisierte Weltwirtschaft kennzeichnen. „Technologietransfer“ ist dabei nach wie vor lediglich ein Buzzword in den Kooperationsverhandlungen und -verträgen im Rahmen der Rohstoffsicherungsstrategien für den Norden.

An sich codiert der neue Dekarbonisierungskonsens, der laut Maristella Svampa und Breno Bringel den Commodities-Konsens ergänzt2, die aktuellen Umweltproblematiken schon entsprechend der Perspektive des globalen Nordens. Die Fokussierung und Reduktion des internationalen Diskurses auf Tonnen CO2, die in einer einfachen Zahl ausgedrückt und zwischen Ländern und Regionen verglichen werden können, ist weit davon entfernt, der globalen ökologischen Krise Rechnung zu tragen und macht viele andere schwerwiegende Umweltproblematiken unsichtbar. Aus lateinamerikanischer Perspektive stehen beispielsweise u.a der Zugang zu fruchtbarem Land, nicht privatisiertem Saatgut, sauberem Wasser und Wäldern im Vordergrund, für den Erhalt von nicht vom Kapitalismus komplett durchdrungenen Lebensweisen. Doch die von Brand und Wissen als imperiale Lebensweise benannte Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten setzt sich in der Energiewende ungehindert fort. Dabei muss auch angemerkt werden, dass es sich in Wirklichkeit keinesfalls um eine „Wende“ handelt, sondern vielmehr um eine Expansion von Energieproduktion und -quellen, da fossile Energieprojekte weltweit weiterhin betrieben und auch neue geplant werden, und ihr Verschwinden durch den Ukrainekrieg noch unwahrscheinlicher geworden ist.

Die Zukunft, die der hegemoniale Dekarbonisierungskonsens und die Perspektive ungebremsten grünen Wachstums bereithalten, sind moderne, hochtechnisierte Inseln „grünen“ Wirtschaftens auf einem ansonsten zerstörten Planeten, mit der entsprechenden Abschottung und Militarisierung. Doch sollte spätestens seit der COVID-19 Pandemie klar sein, dass nationale, miteinander konkurrierende und auf Profitmaximierung orientierende Strategien zur Bekämpfung globaler Probleme beim Lebenserhalt nicht viel Erfolg versprechen. So verhält es sich auch mit dem Klimawandel, dem Artensterben und den anderen drängenden Umweltproblemen unserer Zeit: wirkliche ökologische Nachhaltigkeit auf diesem Planeten kann es nur mit globaler Gerechtigkeit geben, also für alle. Und nur dann, wenn die primäre Orientierung unseres Wirtschaftens auf blindes makroökonomisches Wachstum überwunden wird. 

Energie anders denken

In ihrem Anfang 2023 veröffentlichten „Manifest der Völker des Südens für eine gerechte Energiewende von Unten“ weisen viele Akteur*innen aus Afrika, Asien und Lateinamerika darauf hin, dass es hierfür nicht ausreicht, von einer Energiequelle auf die andere umzusteigen. Vielmehr tut ein ganz anderes Verständnis von Energie an sich Not, sie darf nicht mehr als Wachstumsmotor gesehen werden, sondern als Mittel für den Erhalt des Lebens und als Menschenrecht. Damit einher geht die Umgestaltung des gesamten Energiesystems, der Fragen wie, für wen und für was Energie produziert, verteilt und verbraucht wird. Ein unverzichtbarer Baustein eines solchen neuen Energieverständnisses ist es, fossile Brennstoffe – Öl wird von Kolumbianischen U´wa Indigenen als das „Blut der Erde“ verstanden - im Boden zu belassen.

Leave it in the ground – von Lützerath zum Yasuní Nationalpark in Ecuador    

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang darüber nachzudenken, wie ökosoziale Kämpfe in Deutschland und Lateinamerika sich miteinander verbinden können, wie hier und dort ein differenziertes Bild der jeweiligen Lebensrealitäten entstehen kann, das Anknüpfungspunkte für eine ökosoziale internationale Solidarität aufzeigt. Lateinamerikanische Aktivist*innen sind immer wieder auf Klimacamps anwesend, umgekehrt gibt es in Lateinamerika viel Sympathie für Bewegungen wie Ende Gelände. Zuletzt haben die Auseinandersetzungen um Lützerath die Aufmerksamkeit der Bewegungen gegen Extraktivismus erregt.

Im Sommer 2023 gibt es eine sehr konkrete Gelegenheit für so einen solidarischen Brückenschlag nach Ecuador, durch die  Unterstützung eines Referendums gegen die Ölföderung im Yasuní-Nationalpark, im Herzen des ecuadorianischen Amazonasgebiets, das am 20. August 2023 durchgeführt werden wird. Alle, die von den jährlichen UN-Klimaverhandlungen und von der europäischen Klimapolitik zunehmend frustriert sind, haben hier die Möglichkeit, Verantwortung für ein kleines Stück der gesellschaftlichen Klima- und Umweltschulden des geopolitischen Nordens zu übernehmen und ein Herzstück der weltweiten Biodiversität zu erhalten.

Zum Hintergrund ein kurzer Rückblick: Schon 2007 hatte Ecuador Schlagzeilen gemacht, weil die neu angetretene Regierung von Rafael Correa (2007-2017) ankündigte, sie wolle geschätzte 846 Millionen Barrel Erdöl im Amazonasgebiet im Boden belassen, wenn die internationale Gemeinschaft die Hälfte der aus dem Export dieses Öls erwarteten Einnahmen über einen Treuhandfonds kompensiere.  Das besagte Ölfeld ITT liegt nicht nur im Yasuní Nationalpark, einem der weltweiten Hotspots für Biodiversität  – dort gibt es, so Experten, auf einem einzigen Hektar Land mehr Arten als im ganzen nordamerikanischen Kontinent -, sondern es überlappt sich auch mit einem Gebiet, in dem zwei indigene Ethnien leben, die bisher jeden Kontakt zur westlichen Welt verweigert haben, die Tagaeri und Taromenane.

Das deutsche Parlament beschloss 2008 parteiübergreifend, jährlich 50 Millionen Euro in den Treuhandfonds einzuzahlen. Zwei Jahre später machte der FDP-Entwicklungshilfe-Minister Dirk Niebel das jedoch wieder rückgängig. Im August 2013 verkündete Präsident Correa das Scheitern der Initiative und seine Regierung leitete die Ölförderung in die Wege. Als Reaktion darauf fand sich in vielen Städten Ecuadors eine urbane Jugendbewegung zusammen, die sich YASunidos nannte – gemeinsam für den Yasuní. Sie mobilisierte für eine durch die Verfassung von 2008 garantierte Volksbefragung, die die Entscheidung der Regierung für Öl und gegen Biodiversität und indigene Rechte mithilfe direkter Demokratie rückgängig machen sollte. Damals bestätigten Meinungsumfragen, dass 75% der Ecuadorianer*innen gegen die Ölförderung gestimmt hätten.

Obwohl YASunidos fast 200.000 Unterschriften mehr als die von der Verfassung geforderten 5% der Wähler*innen einreichte, insgesamt 750.000, erklärte die Wahlbehörde 60 Prozent dieser Unterschriften unter verschiedenen Vorwänden für ungültig, so dass das Referendum nicht stattfinden konnte. YASunidos klagten sich daraufhin durch alle Instanzen, bis schließlich am 9. Mai 2023 das ecuadorianische Verfassungsgericht entschied, dass das Referendum umgesetzt werden muss. Es wurde nun von der Wahlbehörde auf den 20. August 2023 terminiert, dem Tag, an dem Ecuador auch einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen wird.

Die neoliberale Regierung von Guillermo Lasso und die Ölindustrie argumentieren bereits eifrig, das durch die Pandemie und eine katastrophale Wirtschaftspolitik bereits gebeutelte Land werde vollends Bankrott gehen, wenn das Öl nicht gefördert wird. Prof. Dr. Carlos Larrea, Experte von der Universität Andina Simón Bolívar, rechnet jedoch vor, dass die Ölförderung aus dem Yasuní wegen der schlechten Qualität des Öls nicht einmal rentabel ist, und dass Ecuador aufgrund schwindender Reserven und aus Gründen des Klimawandels ohnehin dringend ökonomisch umsteuern muss. Außerdem wird der Ölpreis in den Berechnungen, wieviel die Staatskasse angeblich verlieren würde, mit 97 USD viel zu hoch angesetzt. Wichtig ist allerdings auch, dass die versprochene „Entwicklung“ in 50 Jahren Ölförderung nicht stattgefunden hat, und das meiste Geld entweder transnationalen Konzernen zugutegekommen oder in der Korruption verschwunden ist. Für die Menschen in Ecuador bleiben verseuchtes Wasser und verseuchter Boden übrig, die sie krank machen und ihre Ernährungssouveränität verunmöglichen.

YASunidos und ihre Verbündeten (Umweltschützer*innen, Feminist*innen, Indigene, städtischen Radfahrer*innen, Ölarbeiter*innen, Student*innen und Aktivist*innen) stehen für eine Generation, die für eine lebbare Zukunft in Würde kämpft, die gesellschaftliche Verantwortung übernimmt für ein neues Gleichgewicht mit der Natur und für eine sehr konkrete Antwort Ecuadors auf globale Erwärmung und Artensterben einsteht, die weltweit Vorbildcharakter hat. Das Referendum ist ein Meilenstein im demokratischen Kampf gegen die Macht transnationaler Ölkonzerne.

Sie sind auf Spenden angewiesen, um in den Wochen, die bis zum 20. August bleiben, im ganzen Land eine erfolgreiche Kampagne für den Erhalt des Yasuní-Gebiets zu organisieren. 

 

1 Infante-Amate, Juan et al. 2020. “Las venas abiertas de América Latina en la era del Antropoceno: Un estudio biofísico del comercio exterior (1900-2016).” Diálogos Revista Electrónica de Historia, vol.21, n.2, pp.177-214.

2  Breno Bringel and Maristella Svampa. “Del Consenso de los Commodities al Consenso de la Descarbonización”. Nueva Sociedad, 305 (2023).


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