Normative Wachstumskritik und positivistische Wachstumsskepsis
Auf der Suche nach dem guten Leben
Der weltweit verbreitete Heilsglaube an die Problembewältigung durch Wirtschaftswachstum trifft auf zwei Gegenpositionen, die sich trotz partieller Übereinstimmungen grob unterscheiden lassen. Sie können als Wachstumskritik und Wachstumsskepsis bezeichnet werden. Wachstumskritik zieht vorwiegend normative Argumente zu ihrer Begründung heran. Beispielsweise, dass es verantwortungslos sei, wenn die lebende Generation ihres vermeintlichen Wohlergehens halber die Lebensbedingungen der kommenden erheblich verschlechtert oder gar durch unvernünftigem Gegenwartswachstum die ökologische Beschädigung der Erde bis zur globalen Katastrophe treibt. Auf die Vielzahl der wachstumskritischen Argumente sowie in ihrer Qualität recht unterschiedlichen Reformvorschläge ist hier nicht weiter einzugehen. Die „Décroissance-Schrift“ von Serge Latouche von 2007, die jüngst in deuscher Übersetzung erschienen ist, liefert dazu eine relativ umfassende Zusammenstellung der gängigen gegen das Wirtschaftswachstum erhobenen Einwände. Im Rückblick auf die zivilisationsgeschichtlichen Fehlentwicklungen und eingedenk der menschlichen Eigenart, stets die Hoffnung der Vernunft vorzuziehen, werden die normative Wachstumskritik und das Ensemble der Postwachstumsvisionen vorerst vermutlich wenig gegen den Wachstumsfetisch ausrichten können, wenn von unwahrscheinlichen Zufallsereignissen abgesehen wird.
Die zweite Gegenposition zur Wachstumsapologie, die Wachstumsskepsis, nimmt insofern eine quasi wertneutrale Position ein, als nicht die Frage im Zentrums steht, ob Wachstum „gut“ oder „schlecht“ ist, sondern ob in den altindustrialisierten – und demnächst auch in den „nachholenden“ – Volkswirtschaften gar kein Wachstum mehr zu realisieren sein wird. Allenfalls lässt sich – etwa durch einen Rüstungsboom – für einige Zeit Wachstum erzwingen, aber das rückt dann die gesetzmäßig gezogenen Wachstumsgrenzen nur noch näher. Wenn von „Gesetzmäßigkeit“ des Wachstumsendes die Rede ist, so muss zwischen den endogenen Gesetzmäßigkeiten des Industriekapitalismus und den exogenen bzw. naturwissenschaftlichen Wachstumsgrenzen unterschieden werden. Letztere sind seit langem allgemein als „natürliche Grenzen des Wachstums“ bekannt, und sie lassen sich auf die einfache Feststellung komprimieren, dass auf dem begrenzten Planeten Erde kein endloses Wirtschaftswachstum möglich ist. Das bestreiten zwar auch die Wachstumsanhänger nicht, aber sie reden sich und den Hoffnungsfrohen ein, dass mittels technischen Fortschritts bzw. der Ingeniosität von Homo sapiens die natürlichen Wachstumsgrenzen noch auf unabsehbare Zukunft hinausgeschoben werden könnten. Dieser Einschätzung stehen die heterodoxen Theorien entgegen. Insbesondere sind hier Ricardo, Marx und Keynes zu nennen. Ihre Wachstumsskepsis gründet auf der als gesetzmäßig erkannten Erschöpfung der industriekapitalistischen Wachstumsdynamik und auf der Grundlage der endogenen Veränderungen des Wachstumsprozesses lässt sich sein allmähliches Auslaufen prognostizieren. Ricardos Vorhersage des langfristigen Profitratenfalls argumentiert mit der Malthusschen Erkenntnis, dass ein unbeschränktes demografisches Wachstum irgendwann die Tragfähigkeit der Erde überschreiten wird und Wachstum an natürliche Grenzen stößt. Die Triftigkeit dieser Überlegung erscheint heute weit plausibler als während der ersten 170 Jahre industriekapitalistischen Wachstums, als die natürlichen Ressourcen noch schier unerschöpflich eingeschätzt wurden, das ökologische Bewusstsein bestenfalls als unterentwickelt gelten konnte und die Weltbevölkerung nicht einmal ein Drittel der gegenwärtigen betrug. Marx ́ arbeitswerttheoretische Begründung des Profitratenfalls stellt die infolge der Kapitalakkumulation eintretenden Verschiebung zwischen Kapitalmasse (konstantem Kapital) und Arbeitseinsatz (variables Kapital), der den Mehrwert hervorbringt, ins Zentrum: Der Mehrwert sinkt in Relation zur Kapitalmasse, und somit sinke die Profitrate. Auch Keynes ́ Stagnationstheorem folgt aus dem Anstieg der Kapitalmasse, d. h. der infolge von Nettoinvestitionen eintretenden (Über)Fülle an Kapital. Wenn die Kapitalknappheit abnimmt, sinkt die Kapitalrendite (Profitrate bzw. in Keynesscher Terminologie: „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“).
Die „alte“ Wachstumsskepsis geriet während der Prosperitätsjahrzehnte in Vergessenheit, und auch der weltweite Wachstumseinbruch der 1970er Jahre holte sie nichtwieder aus der Versenkung. Doch nachdem sich mittlerweile über drei Jahrzehnte kein „robustes“ Wachstum mehr herbeibringen ließ, die Massenarbeitslosigkeit zu einer Dauererscheinung wurde – beispiellos in der kurzen Geschichte des Industriekapitalismus – und die noch verbleibenden, mageren Wachstumsprozente größtenteils auf Pump zustande kamen, begann es auch einigen ehemaligen Wachstumsoptimisten zu dämmern: Der hoch entwickelte Industriekapitalismus befindet sich in der „säkularen Stagnation“; so u. a. der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers auf der Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds 2013. Der US-Ökonom Robert Gordon hatte schon in den 1990er Jahren gegen den Technikoptimismus Stellung bezogen und legte jetzt nach: Eine Wiederholung des technikgetriebenen Wachstums zwischen 1870 und 1950 ist ganz unwahrscheinlich. Nur Illusionisten glauben an die Wiederkehr jener vergangenen Epoche. Von geldpolitischer Warte aus wurde jüngst mitgeteilt, dass ein weltweiter Überhang der Ersparnis gegenüber den Nettoinvestitionen vorliege – so Bini Smaghi, Direktoriumsmitglied der EZB, in einem Gastbeitrag des „Handelsblatts“. Das Stichwort Überersparnis findet sich nicht in den Lexika der neoklassischen Ökonomie, sondern es gehört zum Vokabular der Keynesschen Theorie. Genauer gesagt geht es dabei um Keynes ́ Widerlegung des klassischen Zinsmechanismus bzw. des Sayschen Theorems. Überersparnis bedeutet, dass die Ersparnis auf dem Vollbeschäftigungsniveau die Nettoinvestitionen übersteigt. Es ergibt sich eine Nachfragelücke, und sie bewirkt eine Kontraktion auf ein niedrigeres Einkommens- und Beschäftigungsniveauniveau bis Ersparnis und Nettoinvestition wieder übereinstimmen. Diese Situation ist den Ökonomen als „Keynessches Unterbeschäftigungsgleichgewicht“ bekannt. Konjunkturzyklen waren in der Vergangenheit durch den Wechsel von Ersparnisüberhang und Investitionsüberhang charakterisiert; S>I im Abschwung und S<I im Aufschwung. Die antizyklische Ausgabenpolitik des Staates sollte die Schwankungen glätten. Doch die „kurzfristige“ Konjunktursteuerung betrifft nur die eine Hälfte der Keynesschen Lehre. Leider ist die andere Hälfte auch den meisten „Keynesianern“ noch unbekannt oder doch zumindest der Wachstumsskepsis halber nicht geheuer. Denn dabei geht es um die Langfristanalyse der industriekapitalistischen Entwicklung. Keynes prognostizierte dem System die „gesetzmäßige“ Wachstumsabschwächung und den Übergang zur Stagnation. Damit kommt – entgegen orthodoxen Marx-Interpretationen – keineswegs auch das Ende des Kapitalismus schlechthin, aber ein „Kapitalismus ohne Wachstum“ erfordert grundlegende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Veränderungen – früher oder später und dann mit unvermeidbaren Kosten. In einer kurzen Schrift von 1943 hatte Keynes unter der Überschrift „The Long-Term Problem of Full Employment“ die Nachkriegsentwicklung kurz umrissen und vorhergesagt, dass nach den Wiederaufbaujahrzehnten kein Weg an einer gewissen Investitionssättigung (saturation of investment) und einem dauerhaften Ersparnisüberhang auf dem Vollbeschäftigungsniveau vorbeiführen würde, wenn nicht… Wenn nicht situationsgerechte Beschäftigungspolitik betrieben würde. Sie müsse im Wesentlichen auf drei Säulen stehen:
- gleichmäßigere Einkommens-. bzw. Kaufkraftverteilung, um den Massenkonsum
auf ein angemessenes Niveau zu heben - eine Ausweitung der öffentlichen Dienste und Infrastrukturinvestitionen, was auch einen höheren Staatsanteil am Volkseinkommen, somit auch eine höhere Steuerquote impliziert
- Arbeitszeitverkürzungen in unterschiedlichen Formen
Die stagnationspolitischen Empfehlungen laufen darauf hinaus, dauerhaft Vollbeschäftigung ohne Wachstum herbeizuführen. Wohlstandssteigerungen ergeben sich dann zu einem erheblichen Teil, wenn nicht sogar vorwiegend durch kürzere Arbeitszeiten nach Maßgabe gesamtwirtschaftlicher Produktivitätssteigerungen. Die Vereinbarkeit von Stagnation und Vollbeschäftigung erscheint der heute noch herrschenden ökonomischen Lehre und ihrer Anhängerschaft als realitätsferne Irrlehre, – so wie die Ptolemäer den Kopernikus für einen gefährlichen Häretiker hielten. Die lange eingeübten Denkgewohnheiten sperren sich gegen die Vorstellung, dass es einen Kapitalismus ohne Wachstum geben könnte. Hierbei wird jedoch ignoriert, dass der Kapitalismus als Handels- und Kaufmannskapitalismus weitaus älter ist als der uns seit etwa 200 Jahren bekannte Industriekapitalismus und dass auch die vorindustriellen Kapitalisten Profite machten. In jenen 200 Jahren industriekapitalistischer Expansion wurde ein riesiger Kapitalstock angehäuft. Jede Nettoinvestition fügte ihm ein mehr oder weniger großes Quantum hinzu. Mit dem Anstieg des Kapitalstocks wuchsen auch die Ersatzinvestitionen, die aus den Abschreibungen finanziert werden. Ersatzinvestitionen gehören nicht zur eigentlichen Akkumulation, aber auch Ersatzinvestitionen modernisieren den Sachkapitalbestand, realisieren technischen Fortschritt und lassen die Produktivität steigen. Auch der Kapitalismus ohne Wachstum bzw. ohne Akkumulation bleibt insofern dynamisch, als die Ersatzinvestitionen ausreichen, um Innovationen durchzuführen und einschlägige Gewinne zu generieren. Nur werden diese Gewinne nicht mehr (voll) investiert. Es gibt jedoch eine Vielzahl anderer Verwendungsmöglichkeiten für den Mehrwert, wie die vorindustriellen Jahrtausende gezeigt hatten. Statt Pyramiden und Kathedralen könnten allerdings Ausbildungsstätten, öffentliche Bibliotheken, Museen und andere gemeinwohlorientierte „Anlagen“ den gesamtwirtschaftlichen Überschuss aufsaugen. Etwas mehr sozialökonomische Phantasie ist den Ökonomen, mehr noch der politischen Klasse angeraten, um den Zukunftsschatten der Ignoranz zu lichten. Worum es den Wachstumskritikern und den Skeptikern sowie auch attac wohl letztlich geht, ist das gute Leben. Das wird es ohne eine gute Gesellschaft nicht geben. Einer der radikalsten Aufklärer des 20. Jahrhunderts, vielleicht sogar sein radikalster überhaupt, Bertrand Russel (1872-1970), den die meistern „unserer“ Philosophen und Sozialwissenschaftler als einen namensbekannten Unbekannten kollektiv beschweigen (frau/man mache den empirischen Test), resümierte 1925 seine Überlegungen zum alten (religiösen) und damit auch vorwegnehmend zum neuen Individualismus des neoliberalen Kapitalismus: „Das Wichtigste ist, daß die Welt in allem, was den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Leben ausmacht, eine Einheit ist und daß der Mensch, der beansprucht, nur für sich zu leben, bewußt oder unbewußt ein Parasit ist“ Russel, 81.
Literaturhinweise
Gordon, Robert J., The Rise and Fall of American Growth, Princeton/Oxford 2016.
Latouche, Serge, Es reicht! Abrechnung mit dem Wachstumswahn, München 2015.
Reuter, Norbert, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische
Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Mit Texten zum Thema von John Maynard Keynes und Wassily W. Leontief, 2. A., Marburg 2007.
Russell, Bertrand, Woran ich glaube (1952), in: derselbe, Warum ich kein Christ bin, München 1963 (hier: rororo, Nr. 1019-1020, 1968, S. 97-93.
Smaghi, Bini, Sündenbock EZB, in: Handelsblatt, Nr. 57, 22. März 2016, S. 48.
Zinn, Karl Georg, Vom Kapitalismus ohne Wachstum zur Marktwirtschaft ohne
Kapitalismus, Hamburg 2015.
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