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Myanmar: Militärjunta ermordet gefangene Aktivisten - ein Nachruf

Dieser Beitrag bezieht sich auf Myanmar, einem Land, das im Rahmen von Attac bisher kaum erwähnt wurde, zur Erklärung deshalb eine kurze Einleitung.  

Schon seit längerer Zeit sind die sozialen Bewegungen thematisch und auch in ihren organisatorischen Strukturen deutlich vielfältiger geworden. Dies hat neben vielen positiven Wirkungen auch dazu geführt, dass der Internationalismus in diesen Bewegungen an Stärke und Sichtbarkeit verloren hat. So auch in Attac. Beispiele dafür sind der Bedeutungsverlust des Weltsozialforums oder das Verschwinden von Strukturen wie Blockupy auf europäischer Ebene. Neue Impulse, beispielsweise aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, konnten dies bisher nicht kompensieren.

Für uns als globalisierungskritische Organisation ist es jedoch unerlässlich, wichtige politische Entwicklungen in anderen Ländern und Kontinenten zu verfolgen und in unsere Arbeit einzubeziehen. Natürlich nicht umfassend, aber exemplarisch und nicht nur analytisch bewertend, sondern auch in ihren konkreten Auswirkungen auf der sozialen und menschlichen Ebene. 

Zu den internationalen Entwicklungen, die wir weitgehend ausgeblendet haben, gehörten u.a. die Arab Rebellion nach 2010, die Demokratiebewegung in Honkong und deren Niederschlagung, ebenso wichtige politische Prozesse positiver und negativer Art in Lateinamerika und eben auch Myanmar (dem früheren Burma).

Dort folgten auf jahrzehntelange brutale Abschottung durch Diktatur und Militärregime, demokratische Reformen unter der De-facto Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Trotz ihrer kompromissbereiten Haltung gegenüber den Militärs, auch beim Genozid an den Rohingya 2017, gelang Suu Kyis Partei NLD bei den Wahlen 2020 ein Erdrutschsieg. Unter dem Vorwand es habe Unregelmäßigkeiten bei der Wahl gegeben, putschte das Militär im Februar 2021, verhängte den Ausnahmezustand und löste das Parlament auf.   

Daraufhin kam es zu landesweiten Protesten, bei denen von den Militärs mehr als 900 Menschen getötet und mehr als 6000 festgenommen wurden. Inzwischen gibt es in großen Teilen des Landes auch bewaffneten Widerstand gegen die Militärs, der aber infolge der geringen militärischen Ausrüstung und fehlender internationaler Unterstützung, bisher weniger als erhofft vorankommt. 

Zu den Festgenommen gehörten Phyo Zeya Tha, Hla Myo Aung, Aung Thura Zaw und Kyaw Min Yu, sie wurden am 23. Juli hingerichtet, es waren die ersten vollstreckten Todesurteile seit Jahrzehnten. Der folgende Nachruf auf Kyaw Min Yu, einem der Ermordeten und Hoffnungsträger des Widerstands gegen die Militärjunta in Myanmar, wurde von George Katsiaficas1) verfasst, der mit ihm befreundet war. 

Ruhe in Frieden "Jimmy" Kyaw Min Yu
Von George Katsiaficas 

Am 23. Juli 2022 richtete das Militär in Myanmar heimlich vier Führer der Freiheitsbewegung des Landes hin. Die Familien der Hingerichteten wurden, wie die Männer selbst, vorher nicht informiert. Ein letzter Abschied wurde ihnen verweigert. Erst als die Diktatur zwei Tage später, am Montag, dem 25. Juli, die Hinrichtungen öffentlich bekannt gab, erfuhren die Familien und die Welt von diesen kaltblütigen Morden. Zu allem Übel sind auch noch die sterblichen Überreste der Verstorbenen verschwunden.

Das Regime geht so brutal wie möglich vor, um deutlich zu machen, dass Widerstand gegen seine Herrschaft ein Höchstmaß an Schmerz und Leid nach sich ziehen wird. Unter den Ermordeten waren einige der beliebtesten und populärsten Anführer der aktiven Bewegung zum Sturz der Diktatur: der Hip-Hop-Künstler und gewählte Parlamentsabgeordnete Phyo Zeya Tha, Anführer der Generation Wave, die auf die Safran-Revolution von 2007 folgte, Hla Myo Aung, Aung Thura Zaw und Kyaw Min Yu - seinen Freunden, zu denen ich mich zähle, besser bekannt als Jimmy.

Jimmy war der Stolz der "Generation 8888". Genau um 8.08 Uhr am 8. August 1988 brach ein synchroner und koordinierter landesweiter Aufstand aus und etablierte eine De-facto-Regierung. Die Stadtteile verwalteten sich selbst, Studenten regelten den Verkehr, und Räte, die sich hauptsächlich aus Mönchen und Studenten zusammensetzten, dienten als Richter und friedliche Schlichter bei Streitigkeiten. Ein Generalstreik legte die Wirtschaft lahm. Doch das Militär schlug äußerst brutal zurück, Tausende von Menschen wurden getötet und noch mehr verhaftet. Wochenlang zogen die Militärs durch das Land und ermordeten willkürlich Aktivisten, bis der Generalstreik am 3. Oktober zusammenbrach.

Da er die Massaker überlebt hatte, zählte Jimmy zu den "Glücklichen". Zusammen mit Tausenden anderer mutiger Menschen war er jahrelang inhaftiert. Nach seiner Freilassung im Jahr 2003, nachdem die Demokratie vorübergehend wiederhergestellt worden war, wurde Jimmy 2007 zu einer weiteren fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er Proteste gegen die Erhöhung der Kraftstoffpreise angeführt hatte. Im Jahr 2012 wurde er im Rahmen einer Massenbegnadigung freigelassen, und wir trafen uns im folgenden Jahr. Obwohl er fast 20 Jahre im Gefängnis verbracht hatte, strahlte er Freude und Zuversicht aus. Wenn er lächelnd die Straße entlangging, verbeugten sich Fremde mit Respekt und Bewunderung. Seine Kollegen behandelten ihn mit liebevoller Aufmerksamkeit.

Ich fragte ihn, wie es möglich sei, dass er im Gegensatz zu so vielen anderen, die ich kenne und die Jahre im Gefängnis verbracht haben, mit einer solchen Würde und Ausgelassenheit wieder auftauchen konnte. Sein Lächeln wurde noch breiter, als er antwortete: "Sie müssen das verstehen. Ja, wir waren die Verurteilten, aber der Gefängnisdirektor konnte nichts gegen uns durchsetzen. Die Gefangenen respektierten uns alle und unterstützten uns. In den Gefängnissen hatten wir die Macht, und die Aufseher führten die von uns übertragenen Aufgaben aus. Eigentlich hatten wir Mitleid mit dem Direktor", schmunzelte er. In einem nüchternen Tonfall erzählte er mir weiter, dass Gedichte, die ihm seine Frau, die ebenfalls inhaftiert war, fast täglich schrieb, sein emotionales Wohlbefinden aufrechterhielten.

Jimmy wählte seinen Spitznamen wegen seiner Bewunderung für die Menschenrechtspolitik von US-Präsident Jimmy Carter. Er und ich hatten mehr als eine lockere Auseinandersetzung darüber!  Bei unseren vielen lachenden Wortwechseln warf er mir vor, dass ich nicht akzeptiere, dass die USA eine fortschrittliche Rolle in der Welt spielen könnten, während ich die blutige Niederschlagung des Gwangju-Aufstandes in Südkorea 1980 durch die Carter-Regierung, die heimliche Unterstützung für Pol Pot und die verstärkte Militärhilfe für Indonesien nach dem Völkermord in Osttimor erwähnte. Jimmy verkündete seinen Kollegen scherzhaft, dass ich meine Regierung für einen Feind der Freiheit halte, während sie sie für einen Freund hielten. 

Wie ironisch, dass das Land, das Jimmy bewunderte, so wenig für die demokratischen Bestrebungen des Volkes tut, für das er starb.  Im Gegensatz zur Europäischen Union haben die USA die Regierung der Nationalen Einheit (NUG) noch nicht anerkannt, die sich aus gewählten Vertretern zusammensetzt, die von der Militärjunta gestürzt wurden, die sich jetzt weigert, Jimmys Familie seine Asche zu übergeben.  

Als ich Jimmys Loyalität zu Aung San Sui Kyi hinterfragte, erklärte er einfach, dass sie die vom Volk gewählte Führerin sei und dass er ihr folgen würde, solange ihre Führung vom Volk akzeptiert würde. Ich äußerte Kritik, die mir zuerst von David Tharekabaw, einem der Führer der Karen-Guerilla, vorgetragen worden war, den ich fünf Jahre zuvor interviewt hatte. Nach Davids Ansicht isolierte und verunglimpfte Aung San Suu Kyis Beharren auf Gewaltlosigkeit die notwendige bewaffnete Selbstverteidigung seines Volkes gegen die barbarischen Invasionen des Militärs. Ihr Vater Aung San, der Schöpfer des modernen Birmas, war gerade deshalb so beliebt, weil es ihm gelang, alle bewaffneten Aufstände, insgesamt mehr als ein Dutzend Gruppen regionaler Minderheiten, zu vereinen. Im Gegensatz dazu stellte die Tochter die Burmesen über die sonstigen ethnischen Gruppen, ähnlich rigoros war ihr Beharren auf der moralischen Überlegenheit der gewaltlosen Taktik- 
Das Problem, das in ihrer selbstgerechten Haltung steckt, wurde nach dem Völkermord an den Rohingya für die Welt sichtbar. Ein anderer Guerillaführer erzählte lachend, dass Gene Sharp (amerikanischer Vertreter des gewaltfreien Widerstands, d. Ü.) nur wenige Wochen vor mir in ihrem Lager angekommen war. Sharp interessierte sich nicht für die Gründe ihres Kampfes, sondern zeigte mit Hilfe elektronischer Hightech-Geräte Power Points, in denen er Gewaltlosigkeit als einziges Mittel zum Sturz des Regimes propagierte.

Während Jimmy und ich über diese Fragen nachdachten, sprach er über die Misshandlung muslimischer Arbeiter in Myanmar (die damals nur mäßig schlimm war im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte). Er informierte mich darüber, dass Indonesien begonnen hatte, Vergeltungsmaßnahmen gegen burmesische Wanderarbeiter zu ergreifen. Als Reaktion darauf hatte seine Gruppe eine Delegation zusammengestellt, die nach Indonesien reisen sollte, um die buddhistisch-muslimischen Beziehungen zu verbessern. Trotz der jahrhundertealten Auseinandersetzungen zwischen Birma und Thailand sprach Jimmy mit den Kellnern und Kellnerinnen in seinem Lieblingsrestaurant Thai. 

Bei unserem letzten persönlichen Treffen kam er in mein Hotel, um mir ein Exemplar der Gedichte seiner Frau zu geben, die gerade in einem Buch veröffentlicht worden waren. Obwohl es in burmesischer Sprache verfasst war und ich kein Wort davon lesen konnte, berührten mich sein Geschenk und seine freundliche Widmung sehr. 

Jimmy wurde am 23. Oktober 2021 zum letzten Mal verhaftet, acht Monate nachdem das Militär erneut eine verfassungsmäßig gewählte Regierung gestürzt hatte. Im Januar dieses Jahres wurde er zusammen mit mehr als hundert anderen zum Tode verurteilt, aber nur wenige glaubten, dass die Urteile vollstreckt würden. Die Todesstrafe war in seinem Land seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr angewendet worden. 

Seit ich von seiner Hinrichtung erfahren habe, konnte ich nicht mehr viel reden. Ich habe geliebte Menschen und Freunde durch Krankheiten wie AIDS, Drogen und Gewalt verloren. Die ungerechtfertigte Hinrichtung durch den Staat ist wahrscheinlich die am schwersten zu verkraftende Todesart. Ich schwanke zwischen brennender Wut und tiefer Trauer, aber ich weiß, in welche Richtung Jimmy mir raten würde: Aktivismus, um den Kampf fortzusetzen, für den er den höchsten Preis bezahlt hat.

1. August 2022, Oakland, Kalifornien


(Übersetzung aus dem Englischen: Hermann Mahler)

1) George Katsiaficas, ist ein griechisch-amerikanischer Historiker und sozialistischer Theoretiker,  u.a. Autor von „Asiens unbekannte Aufstände“; “The Imagination of the New Left: The Global Analysis of 1968“ und „The Subversion of Politics: European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life“ 


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