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Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen.

Rezension zu: Prof. Dr. Tobias Esch: Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen. Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2021

Der Neurowissenschaftler, Gesundheitsforscher und Allgemeinmediziner Tobias Esch, der an der Universität Witten/Herdecke Institutsleiter und Professor für integrative Gesundheitsförderung ist, bezieht in diesem Band die für Klimaschutz und Ressourcenschonung notwendige Reduktion des Konsums ausdrücklich auch auf die Medizin.

Arztbesuche haben erheblich zugenommen, sind aber nicht unbedingt notwendig, wie der coronabedingte Rückgang auf dem Höhepunkt der Pandemie gezeigt hat. Auch eine unkontrollierte und ungehemmte Verschreibungspraxis, die unter anderem zu Antibiotikaresistenzen führt, wird kritisiert. Zwei Drittel der amerikanischen Ärzte gaben vor einigen Jahren an, dass bis zu 30 % der von ihnen verordneten Medizin unnötig sei. Auch bis zu 20 % der Operationen sind in einigen Fachgebieten unnötig.

Eine Analyse der Ärzte-Initiative >>Choosing Wisely<<, die Esch noch nicht vorlag, geht davon aus, dass bis zu 30 % der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern unnötig sind (Die Zeit, 10. Februar 2022,39).

Esch unterscheidet drei Definitionen von Gesundheit die für seine Arbeit von Bedeutung sind:

Gesundheit als Idealzustand wird in der Präambel der Verfassung der WHO von 1946 „als ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens (Wohlbefindens) bezeichnet“ (167).

Gesundheit als Normalzustand wird in der praktischen Medizin als ein Zustand definiert,  „bei dem alle wesentlichen Parameter im Normbereich sind“ (168).

Die dritte Variante ist Gesundheit als Individualzustand, die vom „inneren Arzt“ festgelegt wird: „Gesundheit wäre demnach ein Zustand, bei dem man sich subjektiv gesund fühlt“ (174), der ganz wesentlich von objektiven Standards abweichen kann.

Alle drei Definitionen enthalten Wahrheiten, die nebeneinander existieren können. In der Alltagswelt der Medizin wird jedoch die dritte Variante vernachlässigt, die aber sehr wichtig für das Handeln der Patient*innen ist. Dies gilt insbesondere für die Gesundheitsförderung, die ein Prozess der Befähigung zur Kontrolle über die eigenen Gesundheitsbelange mit dem Ziel der Verbesserung ist. Ebenso wichtig wie körperliche Fähigkeiten sind hierfür individuelle und soziale Ressourcen.

Eine wichtige Methode zur Stärkung der individuellen Kompetenzen der Gesundheitsförderung ist die Meditation, die in neoliberalen Zeiten auch zu Selbstoptimierung genutzt wird, ihrer Herkunft aus dem Buddhismus gemäß aber zur Überwindung der Gier als Ursache allen Übels eingesetzt werden kann. Dankbarkeit, Zufriedenheit und Freude hängen nicht von Besitz, Erfolgsstreben oder Reichtum ab, sondern können nur dadurch erreicht werden, dass mit dem Hier und Jetzt Frieden geschlossen wird. Ebenso wichtig ist die spirituelle Dimension der Gesundheit, die durch erlebte Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns oder Seins geschaffen wird. Die erlebte Sinnhaftigkeit befreit vom Zwang zu Konsum, der auch negative gesundheitliche Folgen haben kann: „Das Zuviel im Konsum führt nicht nur zu mehr Krebs, Bluthochdruck, Schlaganfällen, Herzinfarkten mit all ihren Geschwistern (bedingt etwa durch die pathophysiologisch verengten Blutgefäße), sondern genauso zu mehr Allergien und einer generell gestörten Immunabwehr. Eine überschießende Abwehr bedingt durch mehr Entzündungen, mehr Schmerz, mehr Depressionen“ (382 f.). Dagegen hilft dauerhaft nicht ein Mehr, sondern ein Weniger an Tabletten und Infusionen.

Im abschließenden Kapitel fasst Esch seine zentralen Anliegen wie folgt zusammen: „Können wir unseren Konsum auf das begrenzen, was wirklich notwendig ist? Wenn wir das tun, zugleich gesundheitsförderlich leben, weniger abhängig sind vom äußeren Arzt, uns dagegen regelmäßig bewegen, gesund ernähren, Zeiten der Entspannung und der inneren Einkehr einplanen,… selbstfürsorglich handeln und unsere Selbsthilfekompetenz stärken, dann wird es auch eher für alle reichen: mehr durch weniger. Und das Schöne daran: wir werden zufriedener sein“ (402 f..)!

Diskussion

Eschs Analyse zeigt, dass „Weniger“ in der Medizin nicht immer zu gesundheitlichen Schäden führt (obwohl auch dies vorkommt), sondern sowohl die Gesundheitsförderung wie den Klimaschutz und die Ressourcenschonung voranbringen kann. Notwendig hierzu sind aber nicht nur die individuelle Änderung des Lebensstils, sondern auch Verbesserungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Gesunde Ernährung als Beispiel setzt voraus, dass die Konsument*innen über ausreichende materielle Ressourcen verfügen. Aus dieser Perspektive würde z. B. ein ausreichendes Bedingungsloses Grundeinkommen nicht nur die individuellen Lebensbedingungen verbessern, sondern auch einen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz leisten, weil bessere Gesundheit einen geringeren Verbrauch an medizinischen Produkten zur Folge hat.


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