Marktkonforme Pandemie: Wie die EU die Freigabe geistiger Eigentumsrechte in der WTO bekämpft
Zentrales Ziel der EU bei den WTO-Verhandlungen ist die Verhinderung des schon im Oktober 2020 von Indien und Südafrika eingebrachten Vorschlags, Teile des TRIPS-Abkommens über das geistige Eigentum für die Dauer der Coronapandemie außer Kraft zu setzen – den sogenannten TRIPS-Waiver. Für mindestens drei Jahre sollen verschiedene Arten geistiger Eigentumsrechte wie Patente und Geschäftsgeheimnisse auf Gesundheitsgüter und -technologien ausgesetzt werden. Dadurch könnte weltweit die Produktion lebenswichtiger Güter wie Corona-Tests, Medikamente, Impfstoffe, Schutzausrüstung und Sauerstoffgeräte rasch ausgebaut werden.
Die Verschleppungstaktik der Kommission
Mehr als zwei Drittel der 164 WTO-Mitglieder unterstützen mittlerweile den Waiver-Vorschlag. Doch seit nunmehr acht Monaten bekämpft ihn eine schrumpfenden Gruppe von Hardlinern, vorneweg die EU, die Schweiz, Großbritannien und Südkorea. Um den Waiver-Vorschlag weiter zu unterminieren, übermittelte die EU wenige Tage vor der WTO-Sitzung einen Gegenvorschlag. Statt der notwendigen Aussetzung geistiger Eigentumsrechte setzt der auf die Beseitigung von Exportbeschränkungen, freiwillige Lizenzen der Pharmaindustrie und die Bestätigung ohnehin vorhandener, aber völlig unzureichender TRIPS-Ausnahmeregeln.
Nach der achtmonatigen Blockade entschied der TRIPS-Rat nun immerhin, „textbasierte Verhandlungen“ über eine mögliche Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte aufzunehmen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten setzten jedoch durch, dass Grundlage der Verhandlungen nicht nur der indisch-südafrikanische Vorschlag ist, sondern auch der diametral entgegengesetzte EU-Vorschlag, der den Waiver letztlich abschießen soll. Auf Basis der beiden völlig konträren Vorlagen will der TRIPS-Rat nun einen Bericht verfassen, der im Fall einer Einigung dem Allgemeinen Rat der WTO zur Entscheidung vorgelegt werden könnte. Die nächste Sitzung des Allgemeinen Rats ist für den 27./28. Juli angesetzt.
Doch angesichts der beiden konträren Textgrundlagen fürchten Beobachter*innen, dass die EU den Waiver-Vorschlag bei den Verhandlungen im TRIPS-Rat stark verwässern und weiter verschleppen könnte – möglicherweise über die nächste WTO-Ministerkonferenz Ende November 2021 in Genf hinaus. Für Milliarden Menschen vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern hieße das, bis 2023 und womöglich noch länger auf eine Corona-Impfung warten zu müssen, während der Mangel an Tests, Schutzkleidung und Medikamenten weiter anhält. Corona-Mutationen könnten sich weiter ausbreiten, mit der Folge von Millionen zusätzlicher Tote – viele davon vermeidbar.
EU liefert die Weltgesundheit den Konzernen aus
Mit ihrer Verschleppungstaktik überlässt die EU die lebenswichtigen Entscheidungen über die Impfstoffproduktion weiter den Konzernen: „Wir arbeiten eng mit unseren Industriepartnern zusammen, um Niedrig- und Mitteleinkommensländer mit Impfstoff zu versorgen“, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) beim Gesundheitsgipfel der G20 am 21. Mai in Rom. Die Partner hätten versprochen, diesen Ländern bis Jahresfrist 1,3 Milliarden Impfdosen zu ermäßigten Preisen zu liefern. Eine Milliarde davon würden BioNTech/Pfizer beisteuern, 200 Millionen Johnson&Johnson und 100 Millionen Moderna.
Doch was von der Leyen als frohe Botschaft präsentierte, ist ein politischer und moralischer Bankrott: Die EU liefert Milliarden Menschen dem Goodwill von ganzen vier Pharmakonzernen aus. Die nämlich können beliebig entscheiden, ob sie ihr Versprechen überhaupt einhalten, und falls ja, welche Länder sie wann zu welchem Preis beliefern. Mehr noch: Es bleibt ebenfalls Sache der Konzerne, ob sie anderen Herstellern Lizenzen für die Produktion ihrer Impfstoffe erteilen und damit überhaupt erst die erforderlichen Mengen erzeugen.
„Wir alle wissen“, behauptete von der Leyen, „dass freiwillige Lizenzierung der beste Weg für den notwendigen Technologietransfer ist“. Doch das Gegenteil ist wahr. Denn diese Freiwilligkeit sorgt dafür, dass in Nord und Süd massenhaft Produktionskapazitäten entweder ungenutzt oder unerschlossen bleiben. Zahlreiche Bitten von Firmen und der Weltgesundheitsorganisation, das Produktionswissen und die Technologie zu teilen, prallten bereits an den Pharmamultis ab. Denn die Verknappung der Produktion erlaubt es ihnen, Preise und Profite in die Höhe zu schrauben. Diesen strukturellen Mangel verteidigt die EU mit ihrem marktkonformen Pandemie-Management.
TRIPS gefährdet die Arzneimittelversorgung
Völlig unzureichend ist, womit die EU-Kommission die WTO-Mitglieder nun abspeisen will: die Nutzung der ohnehin vorhandenen TRIPS-Ausnahmen. So dürfen Regierungen unter bestimmten Bedingungen Zwangslizenzen oder Benutzungsanordnungen gegen den Willen von Patentinhabern autorisieren, um die Lizenzproduktion patentgeschützter Güter anzukurbeln. Diese Instrumente sind zwar wichtig, bleiben in ihrer Wirksamkeit aber sehr beschränkt, solange all die übrigen TRIPS-Regeln unangetastet bleiben, die den erforderlichen Wissens- und Technologietransfer behindern. Doch welche Regeln sind das?
Vor der WTO-Gründung und dem Inkrafttreten des TRIPS-Abkommen 1995, hatten diverse Entwicklungs- und Schwellenländer Pharmaprodukte von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, darunter Argentinien, Brasilien, Indien, Bangladesch, Tunesien und die Türkei. Viele andere Länder beschränkten die Durchsetzung der Patente, um den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten zu gewährleisten. Auch in Industrieländern waren Pharmazeutika lange Zeit von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, so in Deutschland bis 1968, in der Schweiz bis 1977, in Spanien, Portugal und Norwegen bis 1992.
In der Prä-WTO-Ära konnten Generika-Hersteller in Ländern wie Indien oder Brasilien patentgeschützte Medikamente, Impfstoffe und andere Produkte per Reverse Engineering rekonstruieren, produzieren und zu weit günstigeren Preisen in Länder exportieren, die ebenfalls die betreffenden Patente nicht anerkannten. Das TRIPS-Abkommen aber schränkt diese Möglichkeit ganz erheblich ein. Denn es zwingt die WTO-Mitglieder, Pharmapatente zu gewähren und durchzusetzen – eine massive Schwächung der globalen Gesundheitsversorgung.
Mini-Konzession der Reichen: Die Doha-Erklärung
Diese Schwächung trat erstmals ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, als Südafrika 1997 sein Patentrecht änderte, um u.a. die Produktion und den Import günstiger Generika für die HIV-Behandlung zu ermöglichen. 39 Pharmamultis reichten gegen diese Novelle in Südafrika Klage ein und reklamierten einen Verstoß gegen das TRIPS-Abkommen. Die USA und die EU-Kommission übten ebenfalls massiven Druck aus, um die südafrikanische Gesetzesänderung zu Fall zu bringen.
Ähnlich erging es Brasilien. Nachdem die dortige Regierung im Jahr 2000 die Erteilung von Zwangslizenzen zur günstigen Produktion von HIV-Medikamenten angedroht hatte, reichten die USA eine WTO-Klage gegen Brasiliens Patentgesetz ein. Auch Thailand geriet unter US-Beschuss, als die Regierung Zwangslizenzen zur Versorgung seines AIDS-Programms mit bezahlbaren Medikamenten erwog. Im Fall Südafrikas und Brasiliens gelang es internationalen Solidaritätskampagnen, die Pharmafirmen und die USA wenigstens zur Rücknahme ihrer Klagen zu bewegen.
Der öffentliche Druck war seinerzeit so stark, dass die Industriestaaten bei der Doha-Konferenz der WTO im November 2001 schließlich einer Erklärung zu TRIPS und öffentlicher Gesundheit zustimmten, die das Recht der Mitglieder zur Erteilung von Zwangslizenzen bestätigte. Allerdings blieben die restriktiven TRIPS-Anforderungen für die Erteilung von Zwangslizenzen bestehen, ebenso wie der Druck von Big Pharma und Industriestaaten auf alle Länder, die diese Möglichkeit nutzen wollten.
Die zahlreichen Hürden des TRIPS
So erlaubt das TRIPS-Abkommen Zwangslizenzen lediglich auf patentgeschützte Güter, und dies auch nur im Einzelfall, für spezifische Produkte und „vorwiegend für die Versorgung des Binnenmarkts“ (TRIPS, Artikel 31f). Die Beschränkung auf die vorwiegende Versorgung des Binnenmarkts ist völlig kontraproduktiv in einer Pandemie, in der weltweit medizinische Hilfsleistungen erbracht werden müssen.
Russland etwa läuft derzeit Gefahr, diese TRIPS-Anforderung zu verletzen, nachdem es im Januar 2021 dem Generikahersteller Pharmasyntez eine Zwangslizenz zur Produktion des antiviralen Medikaments Remdesivir des US-Konzerns Gilead gewährt hatte. Gegen diese Maßnahme reichte Gilead umgehend Klage ein, die der russische Oberste Gerichtshof im Mai abgewiesen hat. Daraufhin lieferte Russland 225.000 Packungen des generischen Medikaments als humanitäre Hilfe an Indien – riskiert damit aber einen Verstoß gegen die TRIPS-Auflage, vornehmlich den Binnenmarkt zu versorgen.
Die TRIPS-Beschränkung, die Zwangslizenzen nur im Einzelfall erlaubt, ist ebenfalls realitätsfremd. Denn komplexere Pharmazeutika und medizinische Güter bestehen aus zahlreichen Komponenten, die ebenfalls durch Patente und andere Eigentumsrechte geschützt sind. Allein für die mRNA-Technologie, die den Corona-Impfstoffen von Moderna, Biontech/Pfizer und Curevac zu Grunde liegt, existieren schon Hunderte von Patenten. Und zahlreiche weitere wurden bereits international beantragt. Üblicherweise beantragen Pharma- und Biotechfirmen sukzessive einander überschneidende Bündel an Patenten für dasselbe, oftmals nur minimal modifizierte Produkt, um den Patentschutz über die Mindestdauer von 20 Jahren auszudehnen – das sogenannte „Evergreening“.
Der Patentexperte Carlos Correa erläutert die praktischen Folgen: Um den Patentschutz für einen Corona-Impfstoff über dessen gesamte Wertschöpfungskette einschließlich aller Komponenten aufzuheben, müssten in mehreren Ländern gleichzeitig Zwangslizenzen beantragt und durchgesetzt werden – ein kaum leistbarer Zeit- und Koordinationsaufwand. Hinzu kommt: Die Patentanmeldungen werden erst nach 18 Monaten veröffentlicht, so dass vielfach unbekannt ist, welche Patentansprüche für ein einzelnes Produkt gelten. Aus diesem Grund ist es überaus aufwändig, all die für einen Impfstoff angemeldeten Patentansprüche überhaupt zu identifizieren.
Viele Hindernisse lauern jenseits der Patente
Nicht minder problematisch ist die TRIPS-Vorgabe, die die Anwendbarkeit von Zwangslizenzen auf Patente beschränkt. Denn Impfstoffe, Medikamente, Tests oder Sauerstoffgeräte werden durch diverse andere im TRIPS aufgeführte geistige Eigentumsrechte geschützt, darunter Urheberrechte, Marken, industrielle Designs oder Geschäftsgeheimnisse. So schützen Urheberrechte beispielsweise Computerprogramme zur Testauswertung, industrielle Designs die Konstruktionspläne medizinischer Geräte und Geschäftsgeheimnisse die Daten klinischer Tests.
Da der Schutz geistigen Eigentums jenseits der Patente ebenfalls zahlreiche Zugangshürden zu medizinischen Gütern errichtet, genügt es also nicht, durch Zwangslizenzen lediglich Patente freizugeben. Vielmehr braucht es Instrumente wie den von Indien und Südafrika vorgeschlagenen TRIPS-Waiver, um sämtliche relevanten geistigen Eigentumsrechte für die Dauer der Pandemie auszusetzen.
Eine besonders hohe Hürde stellen dabei Geschäftsgeheimnisse wie die Testdaten dar, im TRIPS-Abkommen als „nicht offenbarte Informationen“ bezeichnet. Die EU gehört dabei zu den aggressivsten Verfechtern eines starken Schutzes von Geschäftsgeheimnissen. So geht ihr Arzneimittelrecht sogar noch über das TRIPS hinaus und gewährt Pharmazeutika vom Zeitpunkt ihrer Erstzulassung eine achtjährige Datenexklusivität zuzüglich einer zweijährigen Marktexklusivität – niedergelegt im Artikel 14(11) der EU-Verordnung 726/2004.
Datenexklusivität behindert Generika
Gemäß dieser EU-Verordnung bleiben die Testdaten, die Pharmahersteller für die Zulassung eines Originalpräparats einreichen müssen, über acht Jahre geschützt. Arzneimittelbehörden dürfen diese Daten erst nach Ablauf dieser Frist zugrunde legen, wenn Generikahersteller die Zulassung eines Nachahmerpräparats mit gleicher Zusammensetzung beantragen. Wird das generische Präparat zugelassen, darf es erst nach weiteren zwei Jahren auf den Markt gebracht werden. Daten- und Marktexklusivität sorgen also dafür, dass Pharmafirmen über mindestens zehn Jahre vor der preisgünstigen generischen Konkurrenz geschützt werden.
Zudem kann die EU-Vorschrift zur zehnjährigen Daten- und Marktexklusivität die Möglichkeit der EU-Mitgliedsstaaten konterkarieren, Zwangslizenzen gemäß ihrem nationalen Patentrecht zu erteilen. Denn die einem Generikahersteller gewährte Zwangslizenz zur Produktion eines Nachahmerpräparats läuft ins Leere, wenn dieses aufgrund eines noch andauernden Daten- und Marktschutzes nicht zugelassen werden darf.
So erwog die Regierung Rumäniens 2016 die Erteilung einer Zwangslizenz für die Produktion einer generischen Version des Hepatitis C-Medikaments Sovaldi. Dieses Medikament hatte der US-Konzerns Gilead zum prohibitiv hohen Preis von 50.000 Euro für eine zwölfwöchige Behandlung angeboten. Doch die Zwangslizenz war zum Scheitern verurteilt, weil die Datenexklusivität für Gileads Originalversion noch bis 2022 galt, die Marktexklusivität bis 2024.
Die restriktive EU-Vorschrift zur Datenexklusivität kennt zudem keine Ausnahmen für Notlagen wie die Coronapandemie. Wissenschafter*innen fordern die EU daher schon seit Längerem auf, Ausnahmeklauseln bzw. „Waiver“ für ihre Daten- und Marktexklusivität einzuführen. Im Krisenfall oder bei der Vergabe von Zwangslizenzen durch die Mitgliedsstaaten könnten die gesundheitsgefährdenden EU-Vorgaben dann wenigstens ausgesetzt werden.
Handelsabkommen: EU forciert TRIPS-Plus-Regeln
Die EU aber marschiert genau in die entgegengesetzte Richtung. Mithilfe ihrer Freihandelsabkommen internationalisiert sie ihre gefährlichen, über das WTO-Recht hinausgehenden TRIPS-Plus-Regeln. So findet sich die Pflicht einer Daten- und Marktexklusivität von mindestens fünf Jahren in den EU-Handelsabkommen mit Kolumbien, Peru, Ecuador, Südkorea, Vietnam, Singapur, Kanada, Georgien, Moldawien, der Ukraine und den Karibikstaaten. In einzelnen dieser Abkommen sind diese Schutzfristen sogar noch länger.
Daneben setzte die EU in ihren Handelsabkommen noch weitere TRIPS-Plus-Regeln durch, etwa eine Verlängerung der 20-jährigen Mindestdauer des Patentschutzes um weitere fünf Jahre (so in den Abkommen mit Vietnam, Südkorea, Singapur, Ukraine, Moldawien und Georgien). Die Patentverlängerungen gehen ebenfalls auf eine Regelung im EU-Binnenmarkt zurück, die Verordnung 1868/92 über ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel.
Hinzu kommen die regelmäßig von der EU erstellten schwarzen Listen von Ländern, die vermeintlich geistige Eigentumsrechte verletzen. In ihrem Bericht vom Januar 2020 etwa attackiert die EU-Kommission Ecuador, Indien, Indonesien und die Türkei, weil sie Zwangslizenzen anhand „vager und willkürlicher Kriterien“ erteilen würden. Eine Reihe weiterer Länder nimmt sie unter Beschuss, weil dort angeblich der Schutz von Testdaten mangelhaft sei, darunter Argentinien, Brasilien, China, Indien und Indonesien.
Kurzum: Die EU setzt sich seit Jahrzehnten auf dem Binnenmarkt und international für eine Verschärfung des Patentrechts und anderer geistiger Eigentumsrechte auf Pharmazeutika ein. Der Schutz von Testdaten und anderen Geschäftsgeheimnissen spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle. Mit diesen Maßnahmen aber schwächt die EU weltweit die Option, Zwangslizenzen zu vergeben und das Produktionswissen zu teilen. Vor diesem Hintergrund ist es auch vollkommen unglaubwürdig, wenn nun ausgerechnet die EU in der WTO auf die TRIPS-konforme Möglichkeit von Zwangslizenzen verweist. Schließlich hat sie selbst deren Anwendung seit Jahrzehnten systematisch konterkariert.
Bürokratisches Monster: Export-Zwangslizenz
Doch die TRIPS-Vorschriften haben noch eine weitere erhebliche Schwäche, die die vielen Länder betrifft, die über keine oder eine nur unzureichende Pharmaindustrie verfügen. Der 2005 neu in das TRIPS-Abkommen eingefügte Artikel 31bis erlaubt zwar eine spezielle Zwangslizenz, die den Generika-Export in Länder ohne eigene Produktionskapazitäten ermöglichen soll. Der Artikel ist aber mit derart vielen Hürden versehen, dass er sich als völlig untauglich für Krisensituationen erwiesen hat. Bis zum Ausbruch der Coronapandemie wurde er daher nur ein einziges Mal genutzt.
So verlangt Artikel 31bis vom potenziellen Importland zunächst eine Notifikation beim TRIPS-Rat der WTO, die verschiedene Informationen enthalten muss. Dazu gehören u.a. Namen und Menge des Produkts, die es importieren möchte, und – wenn es nicht zur Gruppe der ärmsten Entwicklungsländer gehört (sog. Least Developed Countries) – einen Nachweis, dass es über keine eigenen Produktionskapazitäten für das betreffende Produkt verfügt.
Das exportierende Land muss dem TRIPS-Rat ebenfalls eine Notifikation übermitteln, in der es zusichert, dass unter der Zwangslizenz nur exakt die Menge produziert und exportiert wird, die das importierende Land geordert hat. Schließlich müssen alle unter der Zwangslizenz produzierten Arzneien separat markiert werden, etwa durch eigene Verpackungen oder Farben – ein irrsinniger und teurer Zusatzaufwand.
EU schrumpft den Markt für Zwangslizenzen
All diese bürokratischen Anforderungen sorgen dafür, dass nicht nur Regierungen, sondern auch Generika-Hersteller davor zurückschrecken, die Export-Zwangslizenz des TRIPS anzuwenden. Für die Generika-Hersteller kommt erschwerend hinzu, dass eine Produktionsumstellung sich möglicherweise nicht rechnet, wenn sie nur ein einziges Abnehmerland mit einer beschränkten Menge beliefern können. Für sie würde es sich oftmals erst dann lohnen, wenn sie die unter Zwangslizenz produzierten Produkte auch in andere Länder exportieren dürften. Zudem würde ihnen der Mengenvorteil günstigere Preise ermöglichen.
Diese Option aber haben neun WTO-Mitglieder explizit ausgeschlossen, darunter Japan, die Schweiz, die USA und die EU. Denn als Artikel 31bis im Dezember 2005 beschlossen wurde, haben sie von der Möglichkeit eines Opt-outs Gebrauch gemacht. Das heißt: Die EU und die anderen acht WTO-Mitglieder haben explizit den Import von Arzneien ausgeschlossen, die unter einer Zwangslizenz nach Artikel 31bis des TRIPS produziert wurden.
Diese irrationale Entscheidung bedeutet zum einen, dass die EU sich auch dann weigern müsste, eine im Ausland unter Zwangslizenz hergestellte Komponente eines Impfstoffs einzuführen, wenn die in der EU selbst nicht verfügbar wäre. Sie bedeutet zum anderen, dass die EU bewusst den Markt für alle in Drittstaaten unter Zwangslizenz hergestellten medizinischen Güter verkleinert, seien dies Impfstoffe, diagnostische Tests oder Medikamente. Diese Marktbeschränkung wiederum hat zur Folge, dass Generikahersteller diese Güter womöglich nur zu einem höheren Preis produzieren können oder gleich ganz auf die Beantragung von Zwangslizenzen für deren Produktion verzichten.
Ruanda und Bolivien: TRIPS versagt im Stresstest
Angesichts all dieser Restriktionen ist nicht verwunderlich, dass Artikel 31bis erst einmal angewandt wurde. Im Juli 2007 informierte Ruanda den TRIPS-Rat über die Absicht, das HIV-Medikament Apo-Triavir vom kanadischen Generika-Hersteller Apotex zu importieren. Nachdem die Verhandlungen von Apotex mit den Patentinhabern der Originalpräparate – GlaxoSmithKline, Boehringer Ingelheim und Shire BioChem – für die Gewährung freiwilliger Lizenzen gescheitert waren, beantragte Apotex bei der kanadischen Regierung eine Zwangslizenz für den Export nach Ruanda, die die kanadische Regierung schließlich gewährte. Doch von Ruandas Antrag bis zur Lieferung einer ersten Charge des Medikaments vergingen 14 Monate, die Auslieferung der gesamten Bestellung dauerte nahezu drei Jahre – unzumutbar in einer Notsituation.
Unter dem Druck der Pandemie versucht seit einigen Monaten Bolivien, den beschwerlichen Artikel 31bis-Mechanismus zu aktivieren, um Corona-Impfstoffe vom kanadischen Pharmahersteller Biolyse kaufen zu können. Im Februar 2021 übermittelte der Anden-Staat dem TRIPS-Rat eine Notifizierung, dass es den Zwangslizenz-Mechanismus als Importland zu nutzen beabsichtigt. Nachdem Biolyse den US-Multi Johnson&Johnson vergeblich um eine freiwillige Lizenz für dessen Corona-Vektorimpstoff gebeten hat, versucht das Unternehmen seither, von der kanadischen Regierung eine Zwangslizenz zu erhalten. Kanadas Regierung weigert sich aber, Biolyse die Zwangslizenz zu gewähren, damit es den Johnson&Johnson-Impfstoff für die Belieferung Boliviens produzieren kann. Obgleich die kanadische Regierung die Export-Zwangslizenz selbst seit Monaten blockiert, erklärt sie in der WTO, der Artikel 31bis-Mechanismus sei flexibel und funktionsfähig.
Der Gesundheitsjurist Matthew Herder kritisiert, dass die kanadische Regierung mit ihrer Blockade vor der Pharmalobby einknickt. Sie fürchte offensichtlich, „dass die nächsten Impfstofflieferungen sinken werden, wenn sie die Patente aussetzt“. Kanada macht folglich den gleichen Fehler wie Deutschland und die übrigen EU-Mitglieder. Statt Zwangslizenzen und Benutzungsanordnungen zu erteilen, um die lokale Produktion auszubauen, liefern sich die Regierungen bewusst der Willkür einer Handvoll Pharmakonzerne aus, die die Impfstoffproduktion monopolisieren.
Deutschland: Wichtigster Blockierer im EU-Rat
Um den von der großen Mehrheit der WTO-Mitglieder unterstützten TRIPS-Waiver durchzusetzen, muss die Obstruktion der EU gestoppt werden. Ihre menschenverachtende Verschleppungstaktik kann die EU-Kommission nur so lange durchsetzen, wie sie dafür ausreichend Rückhalt durch die Mitgliedsstaaten im Rat der Europäischen Union erhält. Doch über dessen Waiver-Diskussion herrscht mittlerweile strikte Geheimhaltung. Diese wird in den offiziellen Rats-Dokumenten nicht einmal mehr erwähnt, wie die Organisation Corporate Europe Observatory herausfand.
Die Geheimhaltung des Rats ist allerdings wenig verwunderlich, da sich die EU mit ihrem harten Widerstand gegen den Waiver international immer mehr isoliert. Der Weltöffentlichkeit wird zunehmend deutlich, wie kompromisslos die EU Pharmaprofite über die Gesundheit stellt. Die EU ist auch weit davon entfernt, Corona-Impfstoffe als „universelles Gemeingut“ zu behandeln, wie Ursula von der Leyen es zu Beginn der Pandemie noch vollmundig ankündigte. Ganz im Gegenteil verteidigt die EU verbissen die privaten Monopole auf geistiges Eigentum, die sich profitmaximierende Konzerne sichern konnten.
Wichtigste Stütze der unsolidarischen EU-Politik bleibt die Bundesrepublik. Während andere EU-Mitglieder wie Spanien, Frankreich, Italien oder Polen immerhin eine Offenheit für die Waiver-Forderung signalisieren, stellt sich die schwarz-rote Bundesregierung stur. Während CDU-Politiker*innen wie Angela Merkel bei ihrer strikten Ablehnung bleiben, betreibt die SPD ein doppeltes Spiel. Während ihre Bundestagsabgeordneten am 6. Mai gemeinsam mit Union, AFD und FDP gegen einen Antrag zur Unterstützung des Waivers votierten, stimmten ihre Europaabgeordneten am 20. Mai in einer Parlamentsresolution für den indisch-südafrikanischen Vorschlag. Das heißt: In der Bundesregierung, wo ein Kurswechsel besonders wichtig wäre, versagt bisher auch die SPD.
TRIPS-Waiver sorgt für größere Rechtssicherheit
Die Außerkraftsetzung von Teilen des TRIPS-Abkommens, wie sie die Mehrheit der WTO-Mitglieder fordert, ist ohne Zweifel ein wichtiger Schritt, um die notwendige Ausweitung der Produktion unentbehrlicher medizinischer Güter in aller Welt voranzutreiben. Nicht nur Patente, sondern alle relevanten geistigen Eigentumsrechte wie Urheberrechte, industrielle Designs und Geschäftsgeheimnisse würden auf internationaler Ebene ausgesetzt.
Damit würden nicht nur Zwangslizenzen zur Versorgung des Binnenmarkts und für den Export erleichtert, sondern auch staatliche Interventionen, die kooperationsunwillige Pharma- und Gesundheitskonzerne zum Teilen von Testdaten und Produktionswissen zwingen. Mit größerer Rechtssicherheit könnten Regierungen geistige Eigentumsrechte aussetzen und internationale Technologietransfers durchsetzen. Denn der Drohung mit Handelssanktionen wäre die völkerrechtliche Grundlage entzogen. Auch nationale Gerichte und Patentbehörden bekämen größeren Spielraum, um Klagen und Widersprüche der Pharmaindustrie gegen die Aussetzung geistiger Eigentumsrechte abzuwehren.
Zugleich sollte ein TRIPS-Waiver in der WTO durch weitere Maßnahmen ergänzt werden. So müsste die EU ebenfalls ihre hoch problematischen Regeln über das geistige Eigentum in ihren bilateralen Handelsabkommen aussetzen, zumal diese noch über das WTO-Recht hinausgehen. Handelsabkommen, die derartige Klauseln enthalten, dürfen nicht mehr ausgehandelt und ratifiziert werden. Ebenso müssten Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsstaaten mit den Partnern ihrer bilateralen Investitionsschutzabkommen wenigstens ein Moratorium auf alle pandemiebezogenen Investitionsklagen vereinbaren, besser noch ein Ende dieser nicht mehr zu rechtfertigenden Sonderklagerechte.
Produktionswissen vergesellschaften
Die öffentliche Förderung der Pharmaindustrie muss mit der Auflage verbunden werden, ihre Technologie und ihr Know-how international zu teilen, etwa mit dem Technologiepool C-TAP oder den geplanten mRNA-Technologiezentren der WHO. Ähnliche Anforderungen zum Technologietransfer sind auch in künftige Vorabverträge der EU mit den Pharmakonzernen zum Impfstoffkauf zu integrieren, zumal den Unternehmen damit jegliches Geschäftsrisiko abgenommen wird.
Nicht zuletzt sollte auch die medizinische öffentliche Grundlagenforschung an die Bedingung geknüpft werden, Datentransparenz über Forschungsergebnisse herzustellen und offene Lizenzierungen zu ermöglichen. Eine Monopolisierung öffentlicher Forschungsergebnisse durch Exklusivlizenzen an einzelne Unternehmen muss künftig verhindert werden.
Denn die Erfahrung der Pandemie zeigt überdeutlich: Die privaten Wissensmonopole blockieren die Ausweitung der Produktion und den freien Zugang aller Menschen zu unentbehrlichen medizinischen Gütern. Diese Monopole müssen aufgebrochen und das Wissen vergesellschaftet werden.
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