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Kulturelle Dimensionen sozialer Ungleichheit mit dem Schwerpunkt der Anredeformen

Soziale Ungleichheit wird als Einkommens- und Statusungleichheit definiert. Sie hat jedoch nicht nur finanzielle, sondern auch kulturelle Aspekte, die den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden. Für das Ziel höherer Gleichheit ist es notwendig, beide Dimensionen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu analysieren und daraus Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen.

In diesem Beitrag wird dies am Beispiel unterschiedlicher Anredeformen („Du“ und „Sie“) vorwiegend im Bereich der Pädagogik verdeutlicht. Nach einem historischen Überblick über die Entwicklung dieser Anredeformen und ihrer Funktionen wird anschließend ihre Bedeutung am Beispiel der Grundschulen veranschaulicht. Abschließend werden Konsequenzen für die pädagogische und politische Arbeit erläutert.

1. Historische Entwicklung der Anredeformen und ihre Bedeutung

Sprache war schon immer ein Mittel, zwischenmenschliche Beziehungen auszudrücken. Dabei spielen Alter, Verwandtschaftsbeziehungen und Rangordnungen eine wichtige Rolle[1] . Letztere prägen die Kommunikation seit feudalistischen Zeiten. Niedere Stände redeten Angehörige höherer Stände zunächst mit „Ihr“, später mit „Sie“ an. Sie selbst wurden von den höheren Ständen geduzt. Infolge der französischen Revolution hat sich letzteres geändert. Die Angehörigen unterer Stände verlangten von den höheren nun auch die Anrede „Sie“. Asymmetrisches Duzen unter Erwachsenen ist seither verpönt.

Die mit der Revolution verbundene Brüderlichkeit führte zu einer weiteren Verbreitung des „Du“ innerhalb eines Standes. Diese Entwicklung erhielt neuen Auftrieb durch die Studentenbewegung der 60er Jahre. Während sich bis dahin - von persönlichen Freundschaften abgesehen - die Studierenden Siezten, ging zunächst von den Angehörigen der linken Vereinigungen eine Duzwelle aus, die in kurzer Zeit alle Studierenden erfasst hat.

In den skandinavischen Ländern hat dies – ebenfalls von Schulen und Universitäten ausgehend – zu einer allgemeinen Einführung des „Du“ geführt. Bekanntes Beispiel ist das Möbelhaus Ikea, dass das Duzen auch in ausländischen Filialen eingeführt hat. Auf die Frage, ob das für alle Mitarbeiter*innen des Unternehmens geltende „Du“ nicht Autoritätsprobleme schaffe, antwortete der Ikea-Chef Deutschlands in einem Interview mit der „Bunten“ im März 1988: „Überhaupt nicht. Es ist alles einfacher, wenn man du sagt. Und Autorität liegt bei uns nicht in der Anrede, sondern in der Persönlichkeit begründet“. (zit. n.  Hadwiger 2001, o. S.). Durch dieses Zitat wird deutlich, dass Respekt gegenüber anderen Menschen nicht durch die Anrede zum Ausdruck gebracht werden muss, sondern durch Akzeptanz der persönlichen und fachlichen Kompetenz. Anreden wie „Frau/Herr Doktor oder Professor“ sind deswegen ebenso Relikte vergangener Zeiten wie die Anreden von Adligen oder Bischöfen mit Titeln.
Die skandinavischen Länder sind nicht nur in der Abschaffung von Hierarchien in der Anrede Beispiel für die Reduzierung sozialer Ungleichheit. In ihnen ist auch die Einkommens- und Vermögensungleichheit sehr viel geringer als in Deutschland. Hier zeigt sich, dass Ungleichheit sowohl auf der finanziellen als auch auf der kulturellen Ebene bekämpft werden muss, wenn eine demokratische Gesellschaft von Gleichberechtigten geschaffen werden soll.

Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von mehr Gleichheit auf kultureller Ebene können Schulen leisten, die im nächsten Kapitel näher betrachtet werden.

2. Anredeformen und der Grundschule und ihre Bedeutung

Den Zusammenhang zwischen Anredeformen und Pädagogik hat Wolfgang Steinig in dem Band „Grundschulkulturen“ (2017) analysiert. Während asymmetrisches Duzen unter Erwachsenen heute verpönt ist, ist es in Schulen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen nach wie vor verbreitet, obwohl es seit den siebziger Jahren in vielen Grundschulen in Westdeutschland als Folge der Studentenbewegung reduziert wurde. In Ostdeutschland setzte dieser Wandel erst nach 1989 ein.

In der Einführung des Duzens zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen in Grundschulen gibt es erhebliche regionale Unterschiede, die eng mit kulturellen Traditionen und politischer Orientierung zusammenhängen. Von einer ostfriesischen Insel bekam die Untersuchungsgruppe des Verfassers im Rahmen einer Befragung die Antwort, dass sich Kinder und Erwachsene auf dieser Insel grundsätzlich alle Duzen und es deswegen keine Sie-Anrede in der Grundschule gehen könne. Im Westen und Norden der BRD ist das Duzen häufiger als im Süden und Osten. In von SPD und Grünen geprägten Milieus ist das Duzen häufiger als in von CSU, CDU und Linken dominierten Bereichen. Letztere sind durch die autoritären Strukturen in der DDR geprägt.

Als Begründung für das Duzen zwischen Lehrkräften und Kindern wird vor allem angeführt, dass es dadurch mehr Nähe zwischen diesen Personengruppen gebe.

Als Gründe für das Sitzen werden dagegen Respekt und die Gewöhnung an formelle Strukturen angegeben. Für das Duzen steht deswegen die Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder im Mittelpunkt. Zusammenfassend beschreibt der Autor die daraus resultierenden Kulturen als „f“- und „i“-Kulturen. „f“ steht für „formell“, „formal“ oder „förmlich“ und „i“ für „informell“. Der Unterschied wird im folgenden zusammenfassenden Zitat deutlich: „In den i-Schulen wird das pädagogische Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als vertrauensvoll dargestellt. Die Interessen und Bedürfnisse des Kindes stehen im Vordergrund“ (126). „f-Schulen sehen sich hingegen als Institutionen, die einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen haben, nämlich Kinder in angemessener Form auf die Welt der Erwachsenen vorzubereiten“ (126).

Mit den i-Kulturen ist eine Kompetenzorientierung verbunden, die sich auf eine möglichst freie Entfaltung des Individuums konzentriert und „mehr Eigeninitiative, Empathie, Kreativität, Engagement und demokratisches Bewusstsein“ (224) anstrebt. In den f-Kulturen steht dagegen die Wissensvermittlung im Mittelpunkt.

Am Beispiel von Lesen und Rechtschreibung werden die Unterschiede verdeutlicht, die hier nicht im Detail dargestellt werden sollen Leistungstests haben ergeben, dass die Lese - und Rechtschreibfertigkeit mit den f - Strukturen schneller und effizienter vermittelt werden können. Steinig plädiert deswegen für letztere, obwohl er in den siebziger Jahren die I-Kultur begrüßt habe. Er befürchtet auch, dass die mit Individualisierung und Selbstverwirklichung verbundene Flexibilisierung den neoliberalen Anpassungsbestrebungen zu sehr entgegenkomme, wenn nicht ein ausreichendes Maß an Wissen vermittelt werde.

Kritik an Elementen der i - Kultur ist sicher berechtigt, muss aber nicht zu ihrer Abschaffung führen, die vor allem mit Offenem Unterricht verbunden ist. Hier sind sicher Verbesserungen durch eine partiell stärkere Strukturierung möglich. Sie muss aber nicht zur Abschaffung des Duzens führen, weil dies zur Aufrechterhaltung klassistischer Gesellschaftsstrukturen beiträgt. Klassismus als Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft dient der Beibehaltung undemokratischer Ungleichheit – ebenso wie der Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems, dessen Einführung 1871 der Stabilisierung des Klassensystems diente.

Diskriminierung durch Klassismus bedeutet unter anderem, dass die Ursachen von Problemen der jeweiligen benachteiligten Gruppe zugeschrieben werden, nicht jedoch den strukturellen gesellschaftlichen Hintergründen. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Adultismus, der von hierarchischen Überlegenheitsvorstellungen der Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen ausgeht und diese diszipliniert statt mit ihnen zu kooperieren und ihnen Förder - und Beteiligungsrechte einzuräumen.

3. Handlungsmöglichkeiten

Der Abbau klassistischer und adultistischer Diskriminierung in der Pädagogik ist nicht nur durch die Abschaffung überkommener hierarchischer Strukturen und Kommunikationsformen im Unterricht notwendig. Er muss durch eine Demokratisierung auf höherer Ebene (Schulleitung und Verwaltung) ermöglicht und begleitet werden. Auch hier können die skandinavischen Länder Vorbild sein, die auch eine wesentlich stärkere Beteiligung der Eltern vorsehen.

Zentrales Thema ist der Abbau des dreigliedrigen Schulsystems, das im Sinne der neoliberalen Ideologie den schulischen Misserfolg auf mangelnde Anstrengungen der einzelnen Schüler*innen und nicht auf strukturelle Benachteiligung zurückführt. Ungleiches darf nicht gleichbehandelt werden, sondern kann nur durch gezielte Maßnahmen zur Schaffung von Gleichheit überwunden werden, wie sie zum Beispiel die Individualisierung des Unterrichts für Kinder mit Beeinträchtigungen vorsieht.[2]

Die Abschaffung asymmetrischer Anredeformen in der Schule kann auch einen wichtigen Beitrag zur Förderung sozialer Gleichstellung leisten – insbesondere dann, wenn sie in den politischen Zusammenhang mit Hierarchieabbau und Demokratisierung in Politik und Wirtschaft gestellt wird. 
Förderung von Gleichheit und Demokratie in der Pädagogik sollte darüber hinaus in den politischen Zusammenhang mit Abbau von sozialer Ungleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen – insbesondere Einkommen und Vermögen – gestellt werden. Erforderlich ist hierzu eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene.

[1] Daniela Hadwiger (2001) hat hierzu in einer Seminararbeit eine gute Zusammenfassung geschrieben.

[2] Das oben angeführte Beispiel der ostfriesischen Insel macht deutlich, dass asymmetrische Anredeformen nicht nur zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen aufgehoben werden sollten, sondern generell zwischen Kindern und Erwachsenen, weil dadurch die adultistische Diskriminierung aufgehoben wird.

Literatur
Hadwiger, Daniela (2001): das Duzen und Siezen. Seminararbeit. GRIN Verlag, 2001. ISBN, 364002799X, 9783640027996. Export Citation, BiBTeX EndNote RefMan ...
Steinig, Wolfgang (2017): Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik. Erich Schmidt-Verlag, Berlin


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