Klassismus und Rassismus
Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA) hat zu diesem Thema einen Reader für Multiplikator:innen in der Jugend- und Bildungsarbeit herausgegeben, der sich in fünf Kapiteln und 24 Einzelbeiträgen auf 128 Seiten mit klassistischer und rassistischer Diskriminierung in der Bildungs-, Beratungs-, Jugend- und Sozialarbeit auseinandersetzt. Der Schwerpunkt wird nicht auf individuelle Formen von Diskriminierung, sondern ihre strukturellen Hintergründe gelegt. Es ist hier nicht möglich, sämtliche im Reader bearbeiteten Bereiche wie Verflechtung der Sozialen Arbeit mit Kolonialismus, Gesundheitswesen, Sport, Jugend, Flucht und Migration sowie Schule, Ausbildung und Recht darzustellen. Der Schwerpunkt soll auf Einzelbeispiele für institutionelle Ursachen von klassistischer und rassistischer Diskriminierung gelegt werden. Zunächst soll jedoch der Begriff „Klassismus“ näher betrachtet werden.
Klassismus
Klassismus als Diskriminierungskategorie ist erst vor wenigen Jahren aus der angloamerikanischen Literatur für den deutschen Bereich übernommen worden. Er wird definiert als „Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft, was sich auf die materiellen und immateriellen Ressourcen des Elternhauses bezieht, oder aufgrund der sozialen Position von Personen, d.h. die eigenen Bildungsabschlüsse, der Beruf sowie der Besitz von materiellem und immateriellem Kapital“ (Rezene, 4).
Das Konzept wird jedoch von einigen Autor:innen kritisiert, weil es von Armut und deren Bekämpfung im Sinne des Marxismus als eigentlichem Problem ablenke. Eine Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe gegen Obdachlosigkeit kritisiert zum Beispiel, dass es nicht das Ziel sein könne, Arme im Sinne von Antidiskriminierung höflicher zu behandeln, sondern Armut müsse abgeschafft werden. Casajus von der SJD - Die Falken schreibt: „Es braucht keine Wertschätzung von armen Lebensweisen, sondern ihre Abschaffung“ (99).
Genau hierzu kann die Konzeption des Klassismus aber einen wesentlichen Beitrag leisten, indem sie die Funktion klassistischer Abwertung von schlechter gestellten Menschen im Sinne der neoliberalen Ideologie als „dumm“ oder „faul“ aufdeckt und bekämpft.
Strukturelle Hintergründe klassistischer und rassistischer Diskriminierung
Hierzu liefert die Broschüre zahlreiche Beispiele. Soziale Brennpunkte und Kriminalitätsbelastete Orte (KbO) gehören ebenso dazu wie Schulen.
Soziale Brennpunkte sind Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit, unzureichender Infrastruktur, schlechter Wohnungsqualität und hohem Anteil von Menschen mit „Migrationshintergrund“. Defizitäre Zuschreibungen sind „Ghettos“ oder „Parallelgesellschaften“. Das Problem ist, dass negative Merkmale dadurch generalisiert werden und dies zu einer Form symbolischer Abwertung und einer imaginären Gruppenidentität führt.
Menschen mit Migrationshintergrund werden dadurch generell abgewertet und in die Nähe von „Clan-Kriminalität“ gerückt. Die Soziale Arbeit trägt zur pauschalen Abwertung dieser Menschen als „Andere“ bei, wenn sie ihnen generell Hilfsbedürftigkeit unterstellt.
„Maßnahmen wie „Aktivierungsstrategien“, die keine Aufdeckung benachteiligender und rassistischer Strukturen anstreben, haben eine diskriminierende Wirkung auf die Individuen, da dadurch die strukturellen Ursachen und Probleme allein bei der jeweiligen Zielgruppe verortet werden“ (Memertas, 113).
Die Ignorierung der institutionellen Rassismuserfahrungen ihrer Zielgruppen widerspricht auch dem Berufsethos der Sozialen Arbeit. Lebensweltorientierung bedeutet für die soziale Arbeit dagegen, auch die strukturellen Barrieren und Ausgrenzungen zu bearbeiten, denen sie ausgesetzt sind diese abzubauen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch die Zusammenarbeit mit der Polizei, weil die Soziale Arbeit dann nicht mehr primär im Interesse der Kinder und Jugendlichen unterwegs ist. Auch in der Zusammenarbeit mit der Jugendgerichtshilfe spricht man von einer „Zuschreibungskooperation“ (115), wenn die Soziale Arbeit sich den Kriminalisierungsnormen der Justiz anpasst.
Ähnliches gilt für Kriminalitätsbelastete Orte (KbO), in denen die Polizei dazu befugt ist, verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen (Schmid und Saggel, 47). Je häufiger kontrolliert wird, desto mehr Straftaten und Ordnungswidrigkeiten werden gefunden, die dann der „Clan-Kriminalität“ zugeordnet werden, obwohl es sich hier eher selten um organisierte Kriminalität handelt. Die Verfasser:innen stellen deshalb die Frage, ob nicht die Polizei das eigentliche Sicherheitsproblem der KbO ist.
Klassismus im deutschen Schulsystem hat zahlreiche Formen und Ursachen. Ein zentrales Moment ist dabei die frühe Selektion durch das dreigliedrige Schulsystem. Aldonani und Demir führen dazu aus: „Unser heutiges Schulsystem hat seine Ursachen im deutschen Kaiserreich von 1871. Darin war es vorgesehen, Untertanen zu konditionieren und nicht etwa seinen Bürger:innen kritisches Denken zu vermitteln. Vielmehr diente die Schule der Stabilisierung des des Klassensystems… Der Umbau des Bildungssystems (Gesamtschule) würde bedeuten, dass weißes Denken und Dominanzstrukturen in deutschen Gymnasien aufgelöst wären. Was wiederum die hiesige Klassenstruktur die destabilisieren würde“ (95). Dies erklärt den Widerstand gegen die Auflösung der Dreigliedrigkeit, obwohl die Lernerfolge in Gesamtschulsystemen wie zum Beispiel in Skandinavien höher sind.
Intersektionalität als wichtiger Ansatz zur Erklärung von Diskriminierung
Intersektionalität bedeutet nicht nur Mehrfachdiskriminierung, sondern gemeinsame Ursachen zu finden, vor allem soziale Ungleichheit und die Ideologien zu ihrer Rechtfertigung. Schon 1983 hat der Politikwissenschaftler Benedict Anderson geschrieben, „dass die Ideologien, in denen die Fantasien des Rassismus ihren Ursprung hätten, tatsächlich eher solche der Klasse als der Nation seien. Deutlich werde dies in den Ansprüchen der herrschenden auf ihr „Gottesgnadentum“ und der Aristokraten auf ihr „blaues Blut“ und ihre Herkunft (zit. n. Hamad 24f.).
Schwerpunktmäßig werden die Gemeinsamkeiten von Diskriminierung in der Arbeitswelt und im Bildungsbereich vor allem zwischen Klassismus und Rassismus untersucht. Hintergrund ist nach Mbarak, dass in Deutschland immer noch eine große Zahl von Menschen (49 %) an die Existenz menschlicher Rassen glaubt. 64 % sind sogar der Meinung, „dass gewisse ethnische Gruppen oder Völker von Natur als fleißiger seien als andere.“ „Daneben stimmen 27 % der Aussage zu, jede
Gesellschaft brauche „Gruppen, die oben sind und andere die unten sind“ (64).
Neben zahlreichen Beispielen für Diskriminierung in den Bereichen Arbeit und Bildung und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung wird im Bildungswesen der „Adultismus“ als besondere Unterdrückungsform behandelt. Er geht von hierarchischen Überlegenheitsvorstellungen von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen aus, die ein bestehendes Machtverhältnis und die damit verbundene soziale Ungleichheit reproduzieren. „Dies führt dazu, dass junge Menschen diszipliniert werden, anstatt mit ihnen zu kooperieren und ihnen Förderrechte, Beteiligungsrechte und Schutzrechte zu gewährleisten (Maywald 2016, zit. n. Paschalidou und Das, 117).
Diskussion
Die Broschüre mit ihren zahlreichen Artikeln gibt vielfältige Antworten zum Verständnis klassistischer und rassistischer Diskriminierung und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung. Berater:innen, Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen werden vor allem auf die institutionellen und ideologischen Hintergründe aufmerksam gemacht, die Konsequenzen für das eigene Berufsverständnis haben.
Der letztgenannte Unterpunkt „Adultismus“, den man auch als autoritäres Verhalten bezeichnen könnte, macht auf ein Problem aufmerksam, das in Deutschland im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit kaum diskutiert wird: unterschiedliche Anredeformen zwischen Erwachsenen und Kindern, die zum Beispiel in skandinavischen Ländern weitgehend abgeschafft sind. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich eine schwedische Schülerin darüber beschwert, dass sie zwar ihren Ministerpräsidenten, nicht aber ihre Lehrerin duzen dürfe. Für Deutschland öffnet sich hier ein Arbeitsfeld, das einen wesentlichen kulturellen Beitrag zur Reduzierung von sozialer Ungleichheit leisten könnte.
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