Kissinger war gestern
Solche Akzentverschiebungen machen deutlicher denn je, dass mit ihnen auch eine Krise der geopolitischen Routinen einhergeht. ‚Routinen der Krise – Krise der Routinen’ nennt sich denn auch der kommende Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in der Karl-Marx-Stadt Trier. Auf der Weltbühne agieren auf einmal, neben den traditionellen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen, die seltsamsten Figuren und Konfigurationen: geldmächtige Individuen, milliardenschwere Technikgurus und ‚Philanthropen’, ‚Märkte’ bzw. deren Vertreter, sich verselbständigende Geheimdienste, Warlords mit Krawatte.
Die politische Klasse hingegen macht, trotz allen Pomps und allen medialen Hypes, eine zunehmend unglückliche Figur; sie selbst ist verunsichert, macht den Eindruck, als blicke sie nicht mehr durch, lässt sich bestechen, bringt ihre Schäfchen und sonst nichts ins Trockene. Demokratie ist käuflich geworden und immer öfter, nicht zuletzt in den USA, stecken Netzwerke von Superreichen dahinter, die beispielsweise 20 000 Lobbyisten nach Washington schicken können, während ‚das Volk’ es gerade mal auf rund 600 Abgeordnete bringt. Staatliche Regulierung hat sich weitgehend aus der Kontrolle des privaten Sektors, so er nur geldmächtig genug ist, zurückgezogen, die Gewaltenteilung wird durch Korruption zur Farce.
Privatisierung ist hier zweifellos das Schlüsselwort, von der Privatisierung des Krieges bis zur Privatisierung der Kunst. Vor den schönsten Flecken unseres Planeten stehen die Schilder ‚Privat – Betreten verboten’. Wenige tausend Privatpersonen, umgeben von ein paar hunderttausend Helfern (vom Vermögensverwalter bis zum Bodyguard), verfügen über jeweils mehr als 1 Milliarde (und bis zu 60 Milliarden) Dollar Privatvermögen. Hinzu kommen ca. 10 Millionen Millionäre. Viel Geld - die Schätzungen gehen bis 50 Billionen Dollar - ist über den ganzen Planeten in Offshore-Nischen geparkt. Indivíduen wie Bill Gates können mit ihrem Geld die Weltgesundheitspolitik stärker beeinflussen als es der WHO je möglich war. Privatisierung, die alle Grenzen übersteigt, bedeutet, dass der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, allmählich in einen ‚Transkapitalismus’ mit neo-feudalen Strukturen, in ein oligarchisches System überzugehen beginnt.
Privateigentum dieser Größenordnungen kann durch keine Rechts- oder Völkerrechtsordnung eingebunden werden. Bei allen konstruktiven Möglichkeiten, die es birgt, wirkt es letztlich destruktiv – u.a., weil es innerhalb dieser Welt der Milliardäre auch viele Gegensätze und Feindschaften gibt, die tendenziell mit allen, aber auch allen Mitteln ausgetragen werden und damit das eigentliche Milieu des unbeschränkten Privateigentums, das Chaos, erzeugen.
Andererseits sind durch Privatinitiativen von Tüftlern und Bastlern, welche die digitale Revolution in Gang gebracht haben, unendlich viele Möglichkeiten einer datenbasierten, wissenschaftlichen Gestaltung der Zukunft unseres Planeten eröffnet worden. ‚Im Prinzip’ also könnte das drohende Chaos verhindert und Milliarden von Menschen eine friedliche Zukunft gesichert werden. Dazu aber wäre es – ob nun mit oder ohne Nerd-Milliardäre – notwendig, alle Daten, alles Wissen, das sich heute in weitgehend privaten Denkfabriken, Planungsstäben etc. angesammelt hat, öffentlich zugänglich zu machen. Dem System der privaten Ausbeutung von Informations- und Wissensvorsprüngen (mit denen viel Geld, allzu viel Geld gemacht werden kann) muss die Praxis einer Befreiung aller demokratie- und planungsnützlichen Daten entgegengesetzt werden.
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