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Die Weimarer Reichsverfassung – Lehren für die Gegenwart? – Teil 2

2019 brachte große Wahlerfolge für die neue Rechte in den fünf östlichen Bundesländern der Republik. Die AfD entsendet Parlamentarier in alle Länderparlamente und in den Bundestag.

Ein Teil der AfD ist eindeutig rechtsradikal. Der Anführer des rechten „Flügels“, Höcke, hat vergeblich dagegen geklagt, „Faschist“ genannt zu werden. Diese Entwicklung legt es nahe, in einem Vergleich mit der Weimarer Verfassung (WRV) zu prüfen, ob das Grundgesetz (GG) ein Abgleiten in ein autoritäres Regime effektiv verhindern kann. Da Verfassungsvergleiche relativ aufwendig sind, geschieht das in zwei Teilen. Dies ist der zweite Teil. Der erste Teil findet sich hier: theorieblog.attac.de/die-weimarer-reichsverfassung-lehren-fuer-die-gegenwart-teil-1/

Kommen wir zur Stellung des Präsidenten in der WRV. Die Entmachtung des Präsidenten wird als eine der wichtigen Lehren aus Weimar bezeichnet. In der Tat war die Stellung des Reichpräsidenten in der Weimarer Republik deutlich stärker als diejenige des Bundespräsidenten. Der Reichspräsident wurde direkt vom Volke gewählt, er war Oberbefehlshaber der Wehrmacht und konnte ohne Begründung den Reichstag auflösen (Art. 25); er ernannte den Reichskanzler (Art. 53). Vor allem: Er konnte gegen eine Landesregierung mit der Armee vorgehen, wenn diese ihre Pflichten nicht erfüllte, sich also z.B. nicht an Gesetze hielt. Wenn „die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet“ war, konnte er alle „nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls, mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ (Art. 48 II WRV). Mit Maßnahmen ist auch der Erlass von Rechtsvorschriften gemeint. So stützen sich die berühmten Notverordnungen des Rechtspräsidenten auf Art. 48 WRV.

Der Bundespräsident wird nicht direkt gewählt, sondern von parlamentarischen Vertretern in der Bundesversammlung. Er kann den Bundestag nur auflösen, wenn der Kanzler bei einer Vertrauensfrage keine absolute Mehrheit erhält (Art. 68 GG) oder kein Kanzler mit absoluter Mehrheit gewählt wird. In der Geschichte der BRD hat der Präsident den Bundestag zwei Mal aufgelöst: das erste Mal nach dem Koalitionswechsel durch Kohl, dann nach der verlorenen Wahl in NRW als Schröder Kanzler war. Rechtsvorschriften kann der Bundespräsident in keinem Fall erlassen, nur die Ausfertigung verweigern, wenn er das Gesetz für verfassungswidrig hält – auch das kam gelegentlich vor.

Wenn ein Land Bundesgesetze missachtet, wenn beispielsweise eine schwarz-blaue Regierung in Sachsen die Bundesgesetze nicht mehr anwenden würde, wird nach dem GG ein aufwendiges Verfahren in Gang gesetzt, bei dem zum Schluss die Landesverwaltungen den Weisungen des Bundes unterworfen werden. Als ultima ratio sieht Art. 37 I GG den Bundeszwang vor. Die Bundesregierung kann die nötigen Maßnahmen ergreifen, wozu auch der Einsatz der Polizei (nach Art. 91) gehört. Die Bundeswehr kann aber wohl nur gegen Aufständische (Art. 87 a GG) nicht gegen eine verfassungsfeindliche Regierung eingesetzt werden. Im Ergebnis kann man sagen, dass nicht nur der Bundespräsident, sondern der Bund insgesamt im Vergleich zur WRV schwach aufgestellt sind, wenn Länder separatistische Tendenzen zeigen.

Nun war die politische Situation am Ende der Weimarer Republik mit Hindenburg als Reichspräsidenten so, dass – auch ohne die Regierungsbeteiligung der Nazis − von der Demokratie nur Reste übrig waren. Durch die Direktwahl des Reichspräsidenten sicherte ihm die Verfassung eine Stellung, in der er sich auf demokratische Legitimität berufen konnte, wenn er das Parlament umging oder ausschaltete − und das geschah zum Ende der Republik immer öfter. Carl Schmitt, wohl der einzige Juraprofessor, der nach dem Krieg nicht mehr lehren durfte, hat mitgeholfen die Weimarer Republik zu zerstören, indem er den Reichspräsidenten gegen das Parlament ausspielte. Den „Willen des Volkes“ könne ebenso gut eine Person kennen wie das unfähige Parlament, das eh nur ein liberales Relikt sei. Demokratie sei auch ohne Parlament möglich, behauptete Schmitt. Victor Orbán knüpft hier an, wenn er eine „illiberale Demokratie“ für Ungarn propagiert. Das ist natürlich Unsinn − eine illiberale Demokratie ist wie ein schwarzer Schimmel oder − wie der Lateiner sagen würde − eine contradictio in adjecto. Und so waren die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit Recht skeptisch gegenüber der Direktwahl des Präsidenten. Ihre Nachfahren haben den Gedanken nicht begriffen. Folgerichtig hätte man nämlich in den 1990er Jahren die Kommunalverfassungen nicht vereinheitlichen und überall die Direktwahl des Bürgermeisters einführen dürfen, der nun auf kommunaler Ebene gegenüber dem Rat den Takt angibt. Wenn man aus der starken Stellung des Reichspräsidenten schließt, dass die Weimarer Republik zumindest am Ende keine Demokratie mehr war, dann muss man konsequenterweise überlegen, ob die USA keine Demokratien mehr ist. Das heißt nicht, dass nicht Einiges für erhebliche Zweifel spricht.

Hindenburg hat Hitler nicht verhindert, obwohl er es hätte können. Art. 53 WRV sah vor, dass der Reichspräsident den Kanzler ernennt, dem das Parlament (Art. 54) das Vertrauen entziehen kann, den es aber nicht wählen kann. Bei beiden Reichtagswahlen im Jahre 1932 wurde die NSDAP stärkste Partei. Die sog. „Weimarer Koalition“ aus Zentrum und Sozialdemokratie kam im Juli 1932 zusammen auf 36 %, die NSDAP allein auf 37 % der Stimmen.

Im Juni 1932 wurde von Papen, der aus dem Zentrum ausgetreten war und parteilos war, von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Er hatte ebenso wie sein Nachfolger von Schleicher, ebenfalls parteilos und auch kein ausgemachter Demokrat, keine Mehrheit im Reichstag. Schleicher versuchte eine Querfront aus SPD und NSDAP zu bilden, was scheiterte. Darauf wurde Hitler am 30.1.1933 zum Kanzler ernannt. Die reaktionären Strippenzieher hofften, Hitler durch eine Mehrheit von DNVP-Ministern einzurahmen, d.h. ihn politisch in Schach zu halten, einnorden zu können. Das misslang bekanntlich. Die nächste und letzte Wahl im März 1933 war keine freie, demokratische mehr. Hindenburg war kein Anhänger der Demokratie und gewiss, „die Wirtschaft“, wie man heute sagen würde, und Reichswehr machten Druck, Hitler zum Kanzler zu ernennen.

Aber wie sähe das Ergebnis unter dem Grundgesetz aus? Das merkwürdige Ergebnis: Die Wahl Hitlers zum Kanzler wäre wahrscheinlicher als nach der WRV. Er wäre möglicherweise schon im Juni 1932 Kanzler geworden. Unterstellen wir einen Bundestag in der Zusammensetzung wie die des Reichstag im Juni 1932. In den ersten beiden Wahlgängen hätte niemand die absolute Mehrheit erhalten. Der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen, wenn der Bundeskanzler im dritten Wahlgang nur mit einfacher Mehrheit gewählt wurde – muss es aber nicht. Im dritten Wahlgang reicht nach Art. 63 IV GG die einfache Mehrheit, also die meisten Stimmen. Der Bundespräsident hat dann die Wahl: entweder ernennt er den neuen Kanzler oder er löst den Bundestag auf. Letzteres kann man aber auch nicht endlos wiederholen, solange bis die Ergebnisse stimmen. Kurz: Die Regeln des Grundgesetzes zur Kanzlerwahl verhindern allein keine autoritäre Wende, keine mögliche Machtergreifung der AfD. Es hilft nur die politische Kultur, d.h. eine klare Abgrenzung der demokratischen Parteien gegen völkischen und autoritären Mist und die Bereitschaft mit demokratischen Parteien zusammenzuarbeiten, auch wenn sie eine antikapitalistische Rhetorik pflegen.

c) Wesentlichkeitstheorie und Volksentscheid

Das Ermächtigungsgesetz von 1933 gilt als wesentlicher Schritt, mit dem Hitler den Reichstag genauso entmachtete wie den Reichspräsidenten, weil nun über Regierungsverordnungen „Recht“ gesetzt wurde. Das GG sieht deshalb vor, dass Rechtsverordnungen der Regierungen nur aufgrund eines Gesetzes erlassen werden können, das „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ der Ermächtigung bestimmt. Eine Generalermächtigung oder ein Ermächtigungsgesetz soll damit ausgeschlossen sein. Das Wesentliche, so eine Ausformung des Demokratieprinzips in der Rechtsprechung des BVerfG, soll im Gesetz stehen. Das ist in der Praxis aber keineswegs immer der Fall. Das Wesentliche des Emissionsschutzrechts, nämlich die konkreten Grenzwerte für Lärm- und Luftverunreinigung, findet man in ca. vierzig Rechtsverordnungen. Ähnliches gilt für die StVO, auch eine ministeriale Verordnung mit einer vergleichsweise dünnen gesetzlichen Ermächtigung. Nun sind diese Beispiele weit entfernt von Hitlers Ermächtigungsgesetz, aber sie zeigen, dass die Grenzen des Art. 80 GG nicht prinzipiell vor Machtkonzentrationen bei einer (autoritären) Regierung schützen.

Das GG kennt – anders als alle Landesverfassungen der Bundesrepublik – und anders als die WRV keine Volksgesetzgebung, also Volksbegehren und Volksentscheid. Zur Begründung erklärt eine große Zahl von Jura-Professoren: Die WRV sei an zu viel direkter Demokratie gescheitert, den Fehler wolle man nicht wiederholen. Über das Problem des Reichspräsidenten, der direkt gewählt wurde, sprachen wir schon. Das ist aber meist nicht gemeint, wenn vor zu viel direkter Demokratie gewarnt wird. Gemeint ist immer nur die Volksgesetzgebung. Damit haben wir ein Beispiel für fake news, die sich lange halten. Auf Reichsebene gab es sieben Anläufe für eine Volksgesetzgebung, vier wurden als unzulässig verworfen, die anderen drei scheiterten an den Abstimmungsquoren.

KPD und SPD unterstützen ein Volksbegehren für die Fürstenenteignung. Der Initiative hätten 50 % der Wahlberechtigten zustimmen müssen. Diese Hürde wurde nicht genommen. Es stimmten zwar 14,4 Millionen Menschen für die Enteignung und nur 600.000 dagegen. Aber die Gegner hatten mit Erfolg zum Abstimmungsboykott aufgerufen, die Wahlbeteiligung blieb unter dem Quorum von 50 %. Hegel soll bemerkt haben, dass sich in der Geschichte die Tragödie nur als Farce wiederholt. Als Farce muss man hoffentlich den Versuch der Hohenzollern aus dem Sommer 2019 bewerten: sie forderten Entschädigungen für zurückliegende Enteignungen ein.

Zurück nach Weimar: Die KPD scheiterte mit der Initiative gegen den Panzerkreuzerbau schon im Volksbegehren. Der von NSDAP und DNVP initiierte Volksentscheid gegen den Young-Plan scheiterte wiederum am 50 % Quorum. Kurz: Die Weimarer Republik ist sicher nicht an der Volksgesetzgebung gescheitert. Oder allgemeiner formuliert: Die Weimarer Republik ist sicher nicht an zu viel Demokratie gescheitert, sondern − das hat sich inzwischen herum gesprochen − an zu wenigen Demokraten. In der Bundesrepublik ist die Mehrheit der Zivilgesellschaft und sind die „Eliten“ in Verwaltung und Wirtschaft mehrheitlich (noch?) demokratisch eingestellt, so dass die Kräfteverhältnisse anders sind als in Weimar.

4. Die Wirtschaftsverfassung der WRV

a) Gesellschaftliche Kohärenz und Demokratie

Klügere Köpfe argumentieren, dass Volksabstimmungen zu einer Polarisierung führten, die die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen unterminiere und Demagogen begünstige. In der Tat braucht Demokratie ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Kohärenz in der Gesellschaft, was übermäßige Ungleichheit ebenso ausschließt wie krasse Egomanie. Demagogie fällt auf fruchtbaren Boden, wenn soziale Verunsicherung und große soziale Ungleichheit besteht. Hermann Heller (1891 – 1933), der es 1932 endlich, aber zu spät geschafft hat, eine ordentliche Professur zu bekommen, hat diesen Gedanken formuliert. Von Heller kann man lernen, dass Demokratie nur funktionieren kann, wenn ein gewisses Maß an (sozialer) Gleichheit in der Gesellschaft besteht. 1)

Heller schreibt: „Ein bestimmtes Maß sozialer Homogenität muß gegeben sein, damit politische Einheitsbildung überhaupt möglich sein soll. Solange an die Existenz solcher Homogenität geglaubt und angenommen wird, es gäbe eine Möglichkeit, durch Diskussion mit dem Gegner zur politischen Einigung zu gelangen, solange kann auf die Unterdrückung durch physische Gewalt verzichtet, solange kann mit dem Gegner parliert werden.“ 2) Oder anders gesagt: Wenn die Ungleichheit in einer Gesellschaft zu groß wird, gibt es für die Armen keine Veranlassung, Mehrheitsbeschlüssen im Interesse der Reichen zu folgen und umgekehrt. Heller nimmt hier den Begriff der Homogenität von Carl Schmitt auf. Anders als dieser meint er aber keine ethnische, sondern eine soziale Homogenität. Und er knüpft an reale Widersprüche an, konstruiert sie nicht, um die Demokratie zu zerstören. Und Heller will keine Einheitlichkeit, sondern nur ein gewisses Maß an sozialer Gleichheit, die in einer sozialen Demokratie herzustellen ist. Weil das so ist und um sich klar von Schmitt abzugrenzen, halte ich es besser von Kohärenz statt von Homogenität zu sprechen. Kohärenz ist Voraussetzung der Demokratie und erschwert Demagogen oder − wie man heute sagt − Populisten die Hetze.

b) Soziale Rechte

Die Weimarer Verfassung hat soziale Demokratie nicht nur zugelassen, sondern die Grundlagen dafür gelegt. Über die Wirtschaft heißt es grundsätzlich: „Artikel 151. Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.“ Es wurde ein Recht auf Wohnung, Arbeit und Versicherungsschutz normiert. Für Bildung sollte durch staatliche Bildungsanstalten gesorgt werden. Insbesondere die Wohnungsfrage ist wieder hochaktuell. Das GG kennt − anders als die Landesverfassungen der BRD − keine sozialen Grundrechte. Das GG sollte ja nur ein Provisorium sein und nach der Vereinigung mit der DDR sollte eine neue Verfassung erarbeitet und vom Volk abgestimmt werden − Kohl hat das bekanntlich verhindert.

Im Grundgesetz finden wir nur das Sozialstaatsprinzip, das zu Beginn der Republik sehr umstritten war. Wolfgang Abendroth vertrat die Auffassung, dass ein demokratischer Sozialstaat nur in einer sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen sei, das Grundgesetz also eine sozialistische Wirtschaftsordnung gebiete. Ernst Forsthoff meinte dagegen, dass Sozial- und Rechtsstaat unvereinbar seien, weshalb sozialstaatlichen Interventionen der Politik vom Grundgesetz enge Grenzen gesetzt würden. Abendroth konnte sich nicht durchsetzen. Forsthoff gelang es immerhin, den Sozialstaat zum Staatsziel herunter zu definieren, während Demokratie und Rechtsstaat immer als Staatsstrukturprinzipien galten. Mit dem Hartz IV Urteil hat das BVerfG ein Minimum an Sozialstaat mit einem Grundrecht verbunden, so dass ein subjektiver Anspruch und Klagemöglichkeiten bestehen. Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde verdichten sich in der Rechtsprechung des BVerfG zu einem Grundrecht auf ein „soziokulturelles Existenzminimum“. Gesellschaftliche Kohärenz ist durch dieses Minimum keineswegs hergestellt – die reale Entwicklung läuft in die umgekehrte Richtung.

Das BVerfG betont in ständiger Rechtsprechung außerdem, dass die Wirtschaftsordnung durch das GG nicht vorgegeben ist. Die Verfassung schreibe weder einer sozialistische Wirtschaftsordnung noch eine kapitalistische Marktwirtschaft vor, sondern sei wirtschaftspolitisch neutral. Art. 15 GG ermöglicht die Vergesellschaftung von Produktionsmittel und eine Gemeinwirtschaft, die demokratisch konstruiert ist. Aber der Artikel gebietet die Vergesellschaftung nicht – anders als etwa die Hessische Landesverfassung. Verfassungsrealität ist weder der Artikel im Grundgesetz, noch der Artikel in der Hess. Landesverfassung geworden. Die Alliierten haben letzteren gleichsam schnell entsorgt. Art. 15 GG hält aber die Möglichkeit für eine andere Wirtschaftsweise offen, nämlich für eine solidarische und demokratische Gemeinwirtschaft. Vergesellschaften bedeutet keineswegs verstaatlichen – da sind viele andere Formen denkbar. Aktuell ist die Vorschrift 2009 in der Bankenkrise geworden und neuerdings angesichts der Preissteigerungen am Wohnungsmarkt. Auch in diesem Sinne ist das Grundgesetz neutral, es lässt die Möglichkeit, die Wirtschaft anders als kapitalistisch zu organisieren, eben auch sozialistisch.

Der Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes hat einen Vorläufer in der WRV. Diese sah in Art. 156 vor, dass der Staat durch Gesetz „für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen“ kann. Die Vorschrift ging also weiter als diejenige des Grundgesetzes. Es geht in dem Artikel aber weiter: „Zum Zwecke der Gemeinwirtschaft“ heißt es dort, können „durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der Grundlage der Selbstverwaltung“ zusammen geschlossen werden. Das Ziel wurde auch formuliert, nämlich „die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile“. Die WRV hat also − anders als das GG den Zweck der Gemeinwirtschaft genauer beschrieben und diese als Beteiligung der Beschäftigung an Unternehmensentscheidungen begriffen. Die Beteiligung „aller Volksteile“ geht darüber noch hinaus, denn das sind ja nicht nur die Beschäftigten, sondern können auch Konsumenten oder Umweltschützer sein.

Nun lässt sich offenkundig trefflich darüber streiten, wie eine sozialistische Wirtschaftsordnung denn wohl aussehen könnte. Aus der Geschichte der Arbeiterbewegung kann man jedenfalls lernen, dass Wirtschaftsdemokratie ein zentraler Baustein eines demokratischen Sozialismus sein muss. Wurde Wirtschaftsdemokratie zu Beginn des letzten Jahrhunderts vor allem sozialpolitisch begründet, weiß man heute, dass man sie auch ökologisch begründen muss. Die voranschreitende Zerstörung der natürlichen Umwelt gebietet es, dass für die Frage „Was, Wie, Wo, Weshalb und Wann produziert wird“, demokratische Entscheidungsstrukturen geschaffen werden sollten, in denen auch die sozialpolitische Komponente aufgehoben ist. Das wäre eine sozial-ökologische Transformation, die über schwarz-grüne Marktlösungen hinausgeht. Wirtschaftsdemokratie durchkreuzt die Verwertungslogik der kapitalistischen Wirtschaft.

Etwas Weiteres kann man aus den Geschichten der Arbeiterbewegung lernen: Wirtschaftsdemokratie kann sich nicht auf eine demokratische, aber zentralistische Planung beschränken, dazu ist das Leben zu bunt. Sie kann sich aber genauso wenig auf betriebliche oder unternehmerische Mitbestimmung beschränken, weil Gewerkschaften und Betriebsräte von den Zwangsgesetzen des Marktes eingeholt werden. Wirtschaftsdemokratie muss als demokratische Koordinierung im Gegenstromprinzip gedacht werden. Das ist keineswegs etwas Neues, sondern man findet das Prinzip schon im Raumordnungsgesetz von 1965. Gemeint ist die Abstimmung von unten nach oben und von oben nach unten, mit gegenseitiger Beteiligung, Rücksichtnahme und Beachtung.

Während das GG zur Wirtschaftsdemokratie schweigt, findet man weitere Vorschriften in der WRV. Sie schrieb vor, dass zur Beratung in Angelegenheiten der Eisenbahnen und der Wasserstraßen Beiräte gebildet werden, also die Zivilgesellschaft an der Verwaltung beteiligt wird.

Zentral ist aber der Art. 165 WRV, der zunächst die betriebliche Mitbestimmung garantiert. Außerdem etabliert er Arbeiterräte und Wirtschaftsräte, auf betrieblicher Ebene, auf Bezirks- und auf Reichsebene. Die WRV gebot also eine Form von Wirtschaftsdemokratie. Leider lässt sich nichts aus der Praxis dieser Wirtschaftsräte lernen, denn es gab sie nicht. Bezirkswirtschaftsräte wurden gar nicht gegründet. Der Reichswirtschaftsrat blieb ein vorläufiger und wurde von den Unternehmern und der Verwaltung boykottiert. So wird das eigentliche Problem sichtbar: eine demokratische Verfassung funktioniert nur mit gelebter Demokratie und braucht Demokraten, die sich in sozialen Auseinandersetzungen an demokratische Regeln halten. Oder: Demokratie braucht Demokraten insbesondere in den gesellschaftlichen Eliten. Eine Verfassung allein sichert die Demokratie nicht, das gilt für die Weimarer Verfassung und das GG ebenso wie für die US-Verfassung oder die Verfassungen der europäischen Nachbarländer. Der Normtext allein sichert nicht gegen autoritäre Wendungen, es braucht eine demokratische Kultur. Diese fehlte in der Weimarer Republik. Die Eliten der Bundesrepublik stehen noch zum demokratischen Konsens aber dieser zerfasert in ganz Europa, weil durch den Marktradikalismus die gesellschaftliche Kohärenz angegriffen wurde. Eine Umorientierung ist dringend erforderlich, denn der Marktliberalismus untergräbt seine eigenen Voraussetzungen und setzt das Autoritäre frei.

 

1) Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), Ges. Schr. II, S. 425.

2) Heller, H., Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: Gesammelte Schriften Bd. II (Leiden 1971) S. 426.


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