Die Weimarer Reichsverfassung – Lehren für die Gegenwart? – Teil 1
Ein Teil der AfD ist eindeutig rechtsradikal. Der Anführer des rechten „Flügels“, Höcke, hat vergeblich dagegen geklagt, „Faschist“ genannt zu werden. Diese Entwicklung legt es nahe, in einem Vergleich mit der Weimarer Verfassung (WRV) zu prüfen, ob das Grundgesetz (GG) ein Abgleiten in ein autoritäres Regime effektiv verhindern kann. Da Verfassungsvergleiche relativ aufwendig sind, geschieht das in zwei Teilen. Dies ist der erste Teil. Der zweite Teil findet sich hier: theorieblog.attac.de/die-weimarer-verfassung-lehren-fuer-die-gegenwart-teil-2/
1. Lehren aus Weimar
Identitäre, Autoritäre, Nationalisten, Rassisten und Faschisten kriechen in den kapitalistischen Zentren, Europa und den USA, aus ihren Löchern. Sie machen sich breit im öffentlichen Diskurs und ätzen, hetzen und stänkern in den so genannten sozialen Medien gegen alles, was aufrechten Menschen gut und teuer und jeden, der den Vorschein einer besseren Welt nicht aufgegeben hat. Sie kotzen das aus, was Sie schon immer einmal loswerden wollten, was aber selbst in wenig guter Gesellschaft nicht erwünscht war. Mit etwas Verspätung erzielten die autoritären Nationalisten auch in Deutschland und den USA Erfolge. In den USA besetzten sie gar das Präsidentenamt. In Deutschland wurden sie nach 2015 auch von den mainstream Medien – vermutlich zu großen Teilen ohne gar gegen die Intention – aufgewertet und hoch geschrieben. Plötzlich saßen AfD-Nationalisten in jeder Talkshow. In Österreich sind die autoritären Nationalisten der FPÖ ministrabel und in Brasilien hat das Volk mit Mehrheit einen Präsidenten gewählt, Bolsonaro, der sich positiv auf die Diktaturen der Jahre 1964 bis 85 bezieht. Angesichts dieser Entwicklung wird vielen demokratisch gesinnten Menschen Angst und Bange. Die historisch Interessierte zieht Vergleiche mit der Weimarer Republik und erinnert sich wehmütig an den Satz „Bonn ist nicht Weimar“, weil sie sich fragt, ob das denn wohl auch für Berlin gelte. Gefürchtet wird die Zerstörung von Rechtsstaat und Demokratie der Bundesrepublik und bei den näheren und entfernteren Nachbarn.
Das Grundgesetz, so die Intention der Verfasser und die weitgehend konsensuale Auslegung soll Schutz vor einer Zerstörung der Demokratie und des Rechtsstaates bieten. Deshalb wurde in Art. 79 III GG die Ewigkeitsklausel aufgenommen, die unsere Verfassung vor Änderungen schützt, mit denen Demokratie und Rechtsstaat beseitigt werden. Und deshalb steht der Schutz der Menschenwürde an erster Stelle des Grundgesetzes, markiert seinen obersten Wert. Das war und ist die Antwort auf die Entmenschlichung und die Zerstörung der Subjektivität in den deutschen Konzentrationslagern. Bruno Bettelheim, der gewissermaßen Glück im Unglück hatte und „nur“ zwei Jahre in Dachau und Buchenwald geschunden wurde, hat seine persönlichen Erfahrungen mit der Entwürdigung in seinem Aufsatz „Individual and Mass Behavior in Extreme Situations“ 1943 zusammengefasst. Er habe die Situation nur ertragen können, weil er sich selbst überzeugte, “that these horrible and degrading experiences somehow did not happen to ‘him’ as a subject, but only to ‘him’ as an object. The importance of this attitude was corroborated by statements of other prisoners. They couched their feelings usually in such terms as, ‘The main problem is to remain alive and unchanged.’” Er habe bei sich eine Persönlichkeitsspaltung festgestellt in eine Person, denen die schrecklichen Dinge passieren und eine Person, welche all das nur beobachtet.1) Kurz: Die Person wurde als Subjekt zerstört und zum Objekt degradiert. Das sollte nie wieder passieren und deshalb gebietet Art. 1 GG die Achtung der Menschenwürde, die ebenfalls mit der Ewigkeitsgarantie versehen wurde.
Über den siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes, das als Erfolgsgeschichte gefeiert wird, auf der einen und über den hundertsten Geburtstag der einzigen erfolgreichen deutschen Revolution auf der anderen Seite ist die Weimarer Reichsverfassung beinahe vergessen worden. Dabei sind beide Geburtstage ohne sie nicht vollständig. Das Ergebnis der Revolution war die Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919. Das Grundgesetz (GG) ist ohne WRV und vor allem ohne deren Scheitern nicht zu denken.
2. Verfassungskompromisse
Verfassungen werden seit Hobbes als Gesellschaftsvertrag gedacht. Bei Hobbes ist der Gesellschaftsvertrag ein Unterwerfungsvertrag, bei Kant ist er Maßstab für die politische Verfasstheit einer Gesellschaft. Der „ursprüngliche Kontrakt“ ist bei Kant nicht als historische Tatsache der Ursprung einer Verfassung, sondern er bleibt Idee, um die Legitimität der Verfassung zu prüfen. Der ursprüngliche Kontrakt verbirgt in sich – selbst bei Hobbes – einen demokratischen Gedanken, weil zumindest am Anfang jeder zustimmen muss. Für die Aufklärer, die im guten Sinne Liberale waren, blieb der Kreis derjenigen, die zustimmen mussten, klein. Er beschränkte sich auf die wohlhabenden Männer. Abhängig Beschäftigte und Frauen galten − Kant etwa schreibt das explizit − nicht als stimmberechtigt. So war es überhaupt denkbar, dass jeder, jedes einzelne Individuum der Verfassung zustimmen kann. Der Klassenwiderspruch wurde schlicht wegdefiniert und die Demokratie wurde gedacht als Veranstaltung einer relativ homogenen Gruppe von honorigen Bürgern.
Bei Marx hört sich das anders an, er schreibt: „Verfassungen wurden früher gemacht und angenommen, sobald der gesellschaftliche Umwälzungsprozess an einem Ruhepunkt angelangt war, die neu gebildeten Klassenverhältnisse sich befestigt hatten und die ringenden Fraktionen der herrschenden Klasse zu einem Kompromiss flüchteten, der ihnen erlaubte, den Kampf unter sich fortzusetzen und gleichzeitig die ermatteten Volksmassen von demselben auszuschließen.“ 2)
Nun, die Weimarer Verfassung war das Ergebnis eines gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses. Deutschland war in die Reihe der hoch industrialisierten Weltmächte aufgerückt – das war die ökonomische Umwälzung. Hinzu kam die politische Umwälzung: der Kaiser und die Monarchie hatten ausgedient. Ich treibe leichten Schindluder mit Marx, indem ich suggeriere, das Zitat sei jünger als die Weimarer Verfassung. Tatsächlich stammt es aus dem jahre 1850. Seine Aussage „früher waren die Verfassungen Kompromisse zwischen den herrschenden Klassen“ passt allerdings nicht auf die Weimarer Verfassung (WRV); weil sich der Klassenkompromiss verändert hatte. Die WRV war kein Kompromiss mehr zwischen den herrschenden Klassen; sie war ein Kompromiss zwischen den alten Eliten in Politik und Ökonomie und Vertretern der Arbeiterbewegung. Und das Wort Kompromiss ist ganz wörtlich zu nehmen. Die WRV beruhte auf den Abkommen zwischen Ebert und Groener, sowie dem Pakt zwischen Stinnes und Legien.
Am 9. November, der irgendwie ein Schicksaltag in Deutschland geworden ist und eigentlich das Datum des Nationalfeiertages sein müsste, hätten deutsche Regierungen nicht zu viel Angst vor dem eigenen Volk und vor der Revolution − also am 9. November 1918 hatten die Matrosen in Kiel die Revolution ausgerufen. Einen Tag später, also am 10. November 1918, vereinbarten Groener als Vertreter der obersten Heeresleitung und faktischer Befehlshaber des Heeres und Friedrich Ebert die Zusammenarbeit mit dem Zweck eine bolschewistische Umwälzung in Deutschland zu verhindern. Ebert sicherte zu, dass das Heer nicht aufgelöst wird, Groener versprach dafür Hilfe, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Groener schilderte die Vereinbarung so: „Am Abend rief ich die Reichskanzlei an und teilte Ebert mit, daß das Heer sich seiner Regierung zur Verfügung stelle, daß dafür der Feldmarschall und das Offizierskorps von der Regierung Unterstützung erwarteten bei der Aufrechterhaltung der Ordnung und Disziplin im Heer. Das Offizierskorps verlange von der Regierung die Bekämpfung des Bolschewismus und sei dafür zum Einsatz bereit. […] Das Bündnis hat sich bewährt.“3) Letzteres lässt sich historisch nicht halten: bei den Weihnachtskämpfen mit revolutionären Truppen in Berlin trat das ordentliche Militär den Rückzug an. Ein blutiges Gemetzel unter den Revolutionären in Berlin, München und Bremen richteten die präfaschistischen Freikorps an – in Berlin bekanntlich unter Führung des Sozialdemokraten Gustav Noske. Das Bündnis war ein unguter Start für die Republik.
Der Putschversuch des Freikorps, der sog. Kapp-Putsch wiederum wurde maßgeblich durch einen Protagonisten des zweiten Paktes beendet, nämlich durch Carl Legien, der nach dem Putsch 1920 zum Generalstreik aufrief, so dass die Putschregierung nicht arbeiten konnte und aufgab. Als Stinnes/ Legien Pakt wird ein Abkommen der Gewerkschaften, vertreten u.a. durch Legien, mit den Unternehmerverbänden, vertreten u.a. durch Stinnes, bezeichnet, das am 15. November 1918 geschlossen wurde. Mit dem Abkommen wurden die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner anerkannt. Vereinbart wurde die Bildung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben und der Achtstundentag. Dafür verzichteten die Gewerkschaften auf umfassende Sozialisierung der Unternehmen. Beschlossen wurde die Einrichtung eines paritätisch besetzten Zentralausschusses, über den es heißt: „Dem Zentralausschuß liegt ferner die Entscheidung grundsätzlicher Fragen, soweit sich solche namentlich bei der kollektiven Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ergeben, sowie die Schlichtung von Streitigkeiten, die mehrere Berufsgruppen zugleich betreffen, ob. Seine Entscheidungen haben für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindliche Geltung, wenn sie nicht innerhalb einer Woche von einem der in Frage kommenden beiderseitigen Berufsverbände angefochten werden.“ 4) Das war noch keine paritätische Unternehmensmitbestimmung, weil die Beschlüsse angefochten werden konnten, aber doch sicher ein Vorläufer dieser und es war die Vorwegnahme der Wirtschafts- und Sozialräte, die mit der WRV etabliert werden sollten, was noch genauer zu beleuchten ist.
Wolfgang Abendroth hat in der Bundesrepublik auf den Klassenkompromiss im Grundgesetz hingewiesen, der die Struktur unserer Verfassung recht offensichtlich bestimmt. Das Grundgesetz garantiert die Religionsfreiheit und bestimmt, dass die Kirchen den Inhalt des Religionsunterrichts bestimmen; es verfügt, dass die Schule unter der Aufsicht des Staates steht und erlaubt Privatschulen, solange dies nicht zu einer Klassenbildung führt; es garantiert die Meinungsfreiheit und verpflichtet auf „die Vorschriften über die ‚Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus’ (Art. 132, 139); es erlaubt die Wehrpflicht und die Kriegsdienstverweigerung und schließlich: Es garantiert das Eigentum (Art. 14 I) und erlaubt die Enteignung (Art. 14 III) und Sozialisierung von Produktionsmitteln und Grund und Boden (Art. 15). Bevor aber die Wirtschaftsverfassung in Weimar und Bonn zu vergleichen ist, will ich die Konzeptionen von Rechtsstaat und Demokratie in GG und WRV betrachten. Mich interessiert dabei vor allem: Hat die WRV die Machtübernahme der Nazis wirklich erleichtert und verhindert das GG eine ähnliche Entwicklung?
3. Die Verfassung als Sicherung vor autoritärem Roll-Back?
„Bonn und Berlin sind nicht Weimar“ heißt es oft. Gemeint ist nicht selten, dass das GG ein Abgleiten in die Barbarei ausschließt, dass das GG die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen hat und die Machtübernahme autoritärer Parteien verhindert. Die Frage stellt sich also, ob wir mit dem Grundgesetz ausreichend gegen ein autoritäres Roll-Back gesichert sind. Mir scheint, dass da Vorsicht geboten ist.
a) Verfassungsgericht und Verfassungsbeschwerde
Die Menschenwürde und die Grundrechte stehen im Grundgesetz vorn, in der WRV standen sie im zweiten Hauptteil, der mit Art. 109 begann, also relativ weit hinten. Das hat zunächst nur eine symbolische Bedeutung. Die Geltung der Artikel ist unabhängig von ihrer Nummerierung. Aber Symbolik ist in der Politik bekanntlich oft entscheidend und die Nazis waren Meister der Symbolik. Eine ganz andere Symbolik kommt dem Art. 109 GG heute zu. Mit der Zustimmung zu seiner Änderung im Jahre 2011 hat sich die SPD selbst ihre wirtschaftspolitische Konzeption zerstört und läuft in dieser Beziehung bis heute ziemlich orientierungslos durchs Land. Keynesianische Wirtschaftspolitik ist mit der Schuldenbremse, die in Art. 109 GG normiert wurde, kaum noch möglich.
Zurück zu den Grundrechten. Sie machen den materiellen Kern des Rechtsstaates aus. Rechtsstaat bedeutet die Bindung aller staatlichen Gewalt an das Recht und auch an die Grundrechte. Die Grund- oder Menschenrechte waren in Weimar anders formuliert als im GG, aber darauf kommt es nicht an. Wichtiger ist, dass mit der Verfassungsbeschwerde ein mächtiges Instrument geschaffen wurde, um Grundrechte gegen den Staat einzufordern. Das unterscheidet das GG von der WRV.
In der WRV war ein Staatsgerichtshof vorgesehen, der nur bei bundesstaatlichen Konflikten entscheiden sollte (Art. 19 WRV), ansonsten wurden seine Kompetenzen dem einfachen Recht überlassen. So bestand eine formelle Prüfungskompetenz des Staatsgerichtshofes, d.h. er sollte und durfte prüfen, ob die Kompetenz- und Verfahrensregeln beim Zustandekommen von Gesetzen eingehalten wurden. Anders als im GG gab es keine Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde, die in der BRD oft genutzt wird und oftmals zu Korrekturen des Gesetzgebers und der staatlichen Praxis führt. Und die Gerichte konnten Gesetze nicht auf ihre materielle Verfassungskonformität prüfen, also ob ein Gesetz gegen Grundrechte verstößt.
Das Bundesverfassungsgericht gilt uns heute als selbstverständlich und hat einen ziemlich guten Ruf. In der Weimarer Republik war das anders. In der später als „Streit um das richterliche Prüfungsrecht“ bekannt gewordenen Debatte bezogen die fortschrittlichen Juristen der Weimarer Republik Position gegen die Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre Verfassungskonformität. Argumentiert wurde positivistisch: Die Verfassung kenne eine Verwerfungskompetenz der Gerichte nicht. Die konservative Seite dagegen plädierte für eine richterliche Kompetenz, Gesetze auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen. Dahinter standen unterschiedliche poltische Einschätzungen. Das Parlament war tendenziell progressiver als die weiterhin eher monarchistisch und reaktionär durchsetzte Justiz.
Franz Neumann, Syndikus der Baugewerkschaft und des SPD-Vorstandes in der Weimarer Republik, formulierte die Position so: "Die Arbeiterklasse ist zu einer gewissen Macht gelangt. Auf sozialem Gebiet hat sie ein hohes Maß von Errungenschaften zu verzeichnen. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet erhebt sie neue Forderungen, die auf Ausbau der Kartell- und Monopolkontrolle, auf öffentliche Bewirtschaftung der Eisenerzeugung, auf Verstärkung des Arbeitnehmereinflusses in der Kohlen- und Kaliwirtschaft gehen. Die sozialen Verhältnisse haben sich grundlegend gewandelt, und - von dieser optimistischen Grundauffassung gehen wir im folgenden aus -: sie werden sich von Jahr zu Jahr zugunsten der Arbeiterklasse verschieben. In einer solchen Situation aber muß die Anerkennung des weiten richterlichen Ermessens notwendig reaktionär wirken, und es ist kein Wunder, daß gerade der reaktionäre Flügel der deutschen Staatsrechtslehrer aus Bekämpfern des Prüfungsrechts zu seinen leidenschaftlichen Vertretern geworden ist." 5)
Das Poblem ist ein prinzipielles: Verfassungsgerichte müssen tendenziell konservativ sein, den alten gesellschaftlichen Zustand bewahren – sie exekutieren die Herrschaft der Toten über die Lebenden, denn von den Verfassungsvätern und -müttern lebt bekanntich niemand mehr. In fortschrittlichen Zeiten ist das ein Problem für die gesellschaftliche Linke. In den 1970er hat das BVerfG sozialliberale Politik behindert. Es erklärte die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs ebenso für verfassungwidrig 6) wie die Streichung der sog. Gewissensprüfung bei der Kriegsdienstverweigerung 7). Bekannt ist der Ausspruch von Herbert Wehner: "Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputt machen!" In finsteren Zeiten ist die bewahrende Funktion des Gerichts dagegen zu begrüßen. Als Anfang der 1990er Jahre die Bundesregierung erstmals deutsches Militär ins Ausland schickte, hat das BVerfG immerhin eine Zustimmung des Bundestages eingefordert. Allerdings hat es sich gescheut, das Verbot des Angriffskrieges im Grundgesetz durchzusetzen; entsprechende Klagen wurden als unzulässig verworfen.
Übrigens: Das scharfe Schwert der Verfassungsbeschwerde fand man 1949 nicht im Grundgesetz. Sie wurde erst 1969 im Zuge der Notstandsgesetzgebung in den Katalog der Klagerechte aufgenommen. Das riecht nach einem Kuhhandel: Erweiterung der Souveränität der BRD verbunden mit der Möglichkeit Grundrechte im Notstand einzuschränken einerseits − Einführung der Verfassungsbeschwerde andererseits. Die USA als inzwischen führende Besatzungsmacht hatte dabei sicherlich ein Wörtchen mitzureden. Denn Hessen hatte die Grundrechtsklage von Beginn an in der Landesverfassung, NRW dagegen nicht. Das Vorbild der Besatzungsmacht USA, des Supreme Courts, spielte wohl eine größere Rolle als die Lehren aus Weimar.
Der Kampf um die Kompetenzen und Bedeutung des Verfassungsgerichts ist heute wieder voll entbrannt – nicht bei uns, sondern bei unserem Nachbarn Polen. Das Verfassungsgericht als bewahrende Institution ist der regierenden PiS-Partei bei ihrer reaktionären, illiberalen Wende ein Dorn im Auge. Deshalb wurden Richter ausgetauscht und unter anderem festgesetzt, dass das Gericht nur mit 2/3 Mehrheit Gesetze verwerfen kann. Damit wird es vermutlich entscheidungsunfähig. Das hat die EU veranlasst, gegen Polen ein Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit einzuleiten.
Eine der ersten Maßnahmen von Trump war es, einen stockkonservativen Richter an den Supreme Court zu berufen, nachdem die Justiz seine Einreiseverbote gegen ganze Nationen für rechtswidrig erklärt hatte. Folglich kann man Zweifel haben, dass ein Verfassungsgericht vor einer autoritären Wendung effektiv schützen kann. Am Ende kann sich ein Gericht nicht mit (Polizei-)Gewalt gegen eine autoritäre Regierung durchsetzen. So muss plötzlich der demokratische Souverän das Gericht verteidigen und nicht das Gericht die Demokratie. Im Vorfeld könnte das BVerfG allerdings verhindern, dass autoritäre oder Nazi-Parteien an die Regierung kommen und das Grundgesetz verunstalten. Das GG überträgt dem BVerfG die Aufgabe, verfassungswidrige Parteien zu verbieten. Das gilt als Ausdruck der „wehrhaften Demokratie“. Das Instrument hat sich das BVerfG mit dem NPD-Urteil jüngst selbst aus der Hand geschlagen. Verfassungswidrige Parteien will es nur noch verbieten, wenn sie Chancen haben, ihre Politik durchzusetzen. In einem solchen Moment könnte es jedoch schon zu spät sein.
1) Bettelheim, Bruno, Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, in: Journal o f Abnormal and Social Psychology 38 (1943), S. 417-452; Reprint als Monographie in der Reihe Irvington Reprint Series in Sociology 1969/1991; siehe dazu: Fleck, C./ Müller, A., Bruno Bettelheim (1903-1990) und die Konzentrationslager, in: A. Barboza, & C. Henning (Hrsg.), Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale: Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft (Bielefeld 2006), S. 180-231.
2) Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEaW II, S. 45.
3) General Groener über seine Übereinkunft mit Friedrich Ebert [Ebert-Groener-Pakt], 9. November 1918, www.1000dokumente.de/index.html.
4) Reichsarbeitsblatt Nr. 12 Organisation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer − Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden vom 15. November 1918, www.zaar.uni-muenchen.de/download/doku/historische_gesetze/mo-nr_35_reichsarbe.pdf.
5) Neumann, Gegen ein Gesetz über Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen, in: Die Gesellschaft 1929, S.521f
6) BVerfGE 39, 1 - Schwangerschaftsabbruch
7) BVerfGE 48, 127 - Wehrpflichtnovelle
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