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Demokratie radikal demokratisieren – Ein Essay über Demokratie

Der vorliegende Text dient zur Selbstvergewisserung und stellt einen zu diskutierenden Zwischenstand dar. Kurz gefaßt geht es darum, daß Demokratie nicht als Volksherrschaft verstanden werden sollte, sondern als gesellschaftliche Organisationsform zur Überwindung von Herrschaft. Dabei wird Wert darauf gelegt, daß für die Demokratie vier Bedingungen erfüllt sein müssen: Politische Gleichheit, Soziale Gleichheit, Allgemeine Mitbestimmung über alle Ressourcen und Selbstermächtigung. Das Konkrete muß sich im gesellschaftlichen Streit entwickeln.

Wenn wir bei Attac gegen TTiP und CETA demonstrieren, warnen wir vor dem Untergang der Demokratie. Forderungen nach mehr Demokratie sind nicht nur bei uns Standardfloskeln. Aber außer mehr Volksentscheide und weniger Lobbyisten fällt den wenigsten etwas dazu ein. Daß die Parlamentarische Demokratie für uns kein Idealbild sein kann, wird spätestens dann klar, wenn man sieht wie sie sich bereitwillig in eine „marktkonforme Demokratie“ verwandeln will. Das Institut Solidarische Moderne (ISM) fordert dagegen mit seinem Aufruf “Mit der Demokratie neu beginnen”1 zurecht eine neues konkretes demokratisches Projekt ein. Hierbei geht es um die „sozial-ökologisch-kulturelle-materielle Transformation“. (Soak2016-Seminar mit T.Seibert und A. Ypsilanti) Aber auch hier wird die Frage „Was ist Demokratie?“ nicht beantwortet. Die Schulaufsatzübersetzung als „Volksherrschaft“ erklärt nichts. Schließlich stammt der Begriff ‘Demokratie’ aus dem Athener Sklavenhalterstadtstaat. Dies kann niemand ernsthaft als Ideal ansehen.

Momentan beantwortet die AfD die Demokratiefrage von rechts. Ihre Lösung heißt „Direkte Demokratie“, weniger Staat, mehr Polizei, weniger Steuern, mehr Verbote, weniger Gewerkschaften, mehr Nationalismus, weniger Offenheit, mehr Gottesfurcht. Letztlich ein Programm für mittelständische Familienunternehmer. Aber die Forderung nach mehr Demokratie auf eine reaktionäre Klassenkampfposition zu reduzieren ist zu kurz gesprungen. Und Demokratie als Herrschaftsform des Kapitals zu denunzieren zu billig. Schließlich gibt es real den Verdruß, das Unbehagen nicht gefragt zu werden, nicht gehört zu werden und verwaltet und fremd bestimmt zu sein.Das öffnet Tür und Tor für allerlei nationalchauvinistische und autoritäre Ideen sowie den krudesten Verschwörungstheorien.

Es geht mir auch nicht darum, ob die parlamentarische Demokratie, die Rätedemokratie, eine Basisdemokratie oder die Konsensdemokratie das richtige ist. Es beantwortet nämlich nicht die Frage was Demokratie ist und unter welchen Voraussetzungen sie sich entfalten kann.

Dabei liegt die Erklärung vor unseren Augen. Der Soziologe Thomas Wagner2 definiert Demokratie emphatisch „als gesellschaftliche Organisationsform, die ausgerichtet ist an der regulativen Idee einer Überwindung von Herrschaft“. Unter Herrschaft verstehe man hier ein „Sozialverhältnis…, in dem Befehl-Gehorsam-Strukturen institutionalisiert sind, also stabile Machtasymmetrien vorliegen.“ (nach Haude/Wagner)3 Und dies klar in Abgrenzung zur Macht, die jedem Menschen innewohnt und die nach John Holloway auch als „power to do“ bezeichnet wird. Herrschaft verhindert die Teilhabe aller und garantiert die Bevorzugung von Gruppen, Klassen und Einzelnen gegenüber dem Rest.

Es geht also nicht darum die Herrschaft zu legitimieren oder sie im Namen der Demokratie an sich zu reißen, wie es Erdogan gerade in der Türkei macht. Es geht um Herrschaftsüberwindung und somit Teilhabe aller in allen Bereichen des Lebens. Diese Herrschaftsüberwindung oder meinetwegen Herrschaftsreduzierung kann ein möglicher Gradmesser emanzipatorischer Bewegungen sein. Und wer sich die Demokratiegeschichte ansieht, wird erkennen, wie Herrschaft immer wieder bekämpft und reduziert wurde.

So ist die Abschaffung der absoluten Monarchie zugunsten einer parlamentarischen Demokratie ein Schlag gegen die feudale Klasse, das Frauenwahlrecht wurde dem Patriachart abgerungen und das allgemeine Stimmrecht in Deutschland war ein Schlag gegen preußische Junker. Und die Unternehmenswillkür wurde mit der Kolalitionsfreiheit, dem Streikrecht und dem Mitbestimmungsrecht in die Schranken verwiesen. Aber auch das Verbandsklagerecht der Umweltverbände ist eine Verringerung der Herrschaft von Unternehmen und technokratischen staatlichen Planungen.

Aber es reicht nicht! Denn damit Demokratie funktionieren kann müssen vier Bedingungen auf- und ausgebaut werden: Politische Gleichheit, Soziale Gleichheit, Allgemeine Mitbestimmung über alle Ressourcen und Selbstermächtigung.

Über politische Gleichheit dürfte es ganze Bibliotheken guter Bücher geben und einen allgemeinen Konsens. Gemeint ist hier die rechtliche Gleichstellung aller unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion bzw. Weltanschauung und die Presse-, Meinungs-, Rede- und Koalitionsfreiheit. Letztlich geht es um die universellen Menschenrechte.

Die soziale Gleichheit bedeutet, daß alle ein Leben ohne materielle Existenzangst führen können und ohne materiellen Aufwand am gesellschaftlichen-kulturellen-politischen Leben teilnehmen können. Dazu gehört auch kostenfreie Bildung. Unterschiede im materiellen Reichtum wird es wohl weiterhin geben. Auch weil die Bedürfnisse der Menschen verschieden sind.

Das Ganze wird nur über eine Rückverteilung von Reich nach Arm gehen. Eine reale Vermögenssteuer und eine reale Erbschaftssteuer sind hierfür notwendige Maßnahmen. Dabei können die ersten Schritte verschieden aussehen. Sei es eine sanktionsfreie Sozialhilfe und ein guter Mindestlohn sein, oder das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE), oder eine gute kostenfreie Gesundheitsversorgung.

Etwas sperriger wirkt die Forderung nach allgemeiner Mitbestimmung über alle Ressourcen. Zur Zeit haben wir eine amputierte parlamentarische Demokratie, in der alles für die Wirtschaft liberalisiert wird und keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegen darf. Aber wir müssen gemeinsam entscheiden, welche Wirtschaft wir haben wollen. Wie wollen wir mit den Rohstoffen, der Umwelt etc. umgehen? Schließlich sind dies unsere Gemeingüter (bzw. Commons) welche momentan selten gemeinschaftlich verwaltet werden. Es geht auch darum welche Produkte und Dienstleistungen wir haben wollen, bis hin zur Währungsfrage und den Banken. Konkret muß die Verfügungsgewalt über die Industrie, die Infrastruktur, das Bankenwesen, die Agrarindustrie usw. auf viele Schultern verteilt sein. Neben Eigentümern sollen auch die Belegschaft, die Verbraucher­organis­ation­en, kommunale Parlamente oder andere betroffene Menschen und deren Institutionen mitbestimmen. Dies kann nur Ergebnis gesellschaftlichen demokratischen Streites sein.

Die derzeit populäre Trennung von Politik und Wirtschaft unter dem Slogan: „Privat vor Staat“ ist nur den Kapitalinteressen der Industrie dienlich. Steuergerechtigkeit und Bekämpfung von Steuerflucht sind dabei erstmal notwendige Voraussetzungen, um Fragen der Ressourcen- und Klimagerechtigkeit und gerechten Welthandel gemeinschaftlich zu lösen.

Interessant sind die Ideen der wirtschaftsdemokratischen Diskussion der letzten 100 Jahre. Der Ausbau des Mitbestimmungsrechtes der Beschäftigten sind praktische Ansatz­punkte. Und nicht zu vergessen der Erfahrungsschatz der jahrhundertealten Genossen­schaftsbewegung und der Solidarischen Ökonomie. Einen spannenden Ansatz bietet Christan Siefkes4 mit dem Modell der Commons-based-Peer-Production. Das gesellschaftliche Eigentum, welches demokratisch verwaltet wird, sei es kommunale Betriebe, Genossenschaften, Gemeingüter usw. muss z.B. durch Gesetze gestärkt werden. Das bedeutet, dass sich die herausragende Rolle des Privateigentums an Produktionsmitteln zugunsten des Gemeinschaftseigentums reduziert wird.

Als vierte Bedingung steht die Selbstermächtigung. Was nützen all die demokratischen Strukturen, wenn nur wenige sie zu nutzen wissen? Was nützt es, wenn sie nicht als erhaltenswert erscheinen und gegen offene und schleichende Schleifung durch irgendwelche Interessengruppen nicht verteidigt werden? Alle sollen fähig sein und Spaß daran haben an demokratischen Prozessen mitzuwirken. Deshalb müssen sie immer wieder eingeübt werden. Leute müssen animiert werden mitzumachen und ihnen die Fähigkeiten vermittelt werden ihre Positionen zu entwickeln und im konstruktiven Streit in die Prozesse einzubringen. Und sie müssen auch sinnvolle Ergebnisse bringen. Es geht mehr als um die Höhe der Hundesteuer oder die Farbe der Parkbänke. Dazu gehört nicht nur eine allgemeine Bildung, sondern auch der Schutz und die Förderung von Minderheiten im jeweiligen Kontext. Ein wichtiger Punkt ist hierbei auch der Abbau der Bürokratie, z. B. der Zwang der EU-weiten Ausschreibungen für schon kleinste Bauprojekte. Letztlich dient die Bürokratie derzeit der Wirtschaftliberalisierung zuungunsten der Umwelt, der Menschen und der kommunalen Selbstständigkeit.

Dass die Bedingungen prozeßhaft zu sehen sind und in gesellschaftlichen Kämpfen ausgefochten werden, will ich hier nochmal klar stellen. Somit ist für mich die Frage offen, ob eine Parlamentarische oder Rätedemokratie oder Elemente Direkter Demokratie das richtige ist. Wenn die oben genannten Bedingungen nicht ausreichend erfüllt sind, führt jede Form zu einer undemokratischen Herrschaft.

Der Aufruf des ISM für „Politische Foren“ erscheint mir momentan die beste Option, um emanzipatorische Utopien mit dem „Dissidenten Drittel“ zu erarbeiten und zu erstreiten. Und Attac ist ein möglicher und guter Resonanzboden für solche Diskussionen.

Nun steht für mich die Frage, ob der hier aufgeführte Demokratiebegriff und deren Bedingungen für eine emanzipatorische Bewegung tragfähig ist.


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