Das doppelte Gesicht der Individualisierung
1. Individualisierung und Pluralisierung
Individualisierung im Sinne einer Befreiung von sozialen (Gruppen-) Zwängen, größerer persönlicher Autonomie und wachsenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten basiert auf funktionaler Differenzierung der Gesellschaft. Während bis zum 15./16. Jahrhundert die Ständegesellschaft in hierarchisch geordnete Teile bzw. Schichten wie Klerus, Adel und Bauernschaft gegliedert und die soziale Zugehörigkeit einer Person weitgehend durch Geburt festgelegt war, setzte seit dem 16. Jahrhundert die Herausbildung von gesellschaftlichen Teilsystemen ein, die nicht mehr durch undurchlässige Schichten, sondern gesellschaftliche Funktionen (Politik, Religion, Pädagogik, Privatsphäre, Recht, Wirtschaft…) geprägt sind. Diese Funktionssysteme haben eine relative Unabhängigkeit voneinander. Funktionale Differenzierung bietet zahlreiche unterschiedliche Rollen an, die individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnen. In dieser funktionalen Differenzierung ist die Freiheit gewachsen (Wansing 2005, 31ff.). Einen Schub hat diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein Mehr an Einkommen, Bildung, Recht, Mobilität, Wissenschaft und Massenkonsum erhalten (Beck 1986, 205ff.). Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung durch die 68er, deren größte Erfolge in den Veränderungen kultureller Rahmenbedingungen lagen.
Individualisierung hat zu einer Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensstilen geführt, von der insbesondere sozial benachteiligte Gruppen wie Frauen, Migrant*innen, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen profitiert haben. Für sie wurde dadurch die Basis für Akzeptanz und individuelle Lebensgestaltung geschaffen.
Besonders deutlich wird dies in der Pädagogik, wo durch Binnendifferenzierung und Individualisierung die Basis für Inklusion von Kindern mit Behinderungen und Migrationshintergrund geschaffen wird. In Individualisierung bedeutet hier, dass die Lernangebote auf jedes einzelne Individuum zugeschnitten sind und von ihm selbst gewählt werden können.
Diese positiven Aspekte der Individualisierung werden jedoch durch ihre Einbeziehung in die neoliberale Ideologie konterkariert.
2. Individualisierung und Neoliberalismus
Reckwitz (2017, 9) stellt dem Individualisierungsbegriff im Sinne von Beck (Entbindung der Subjekte aus sozialen Vorgaben und Entlassung in die Selbstverantwortung) die „Singularitäten“ gegenüber: „Zentral ist ihr das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“. Wichtig ist für ihn die soziale Fabrikation von Singularitäten, die nicht nur Subjekte betrifft, sondern auch Gegenstände oder zum Beispiel Orte, deren Einzigartigkeit zentrales Merkmal für ihre Vermarktung ist. Auf „kulturellen Singularitätsmärkten“ konkurrieren Subjekte, Objekte, Orte und Ereignisse, die in ihrem kulturellen Einzigartigkeitswert erkannt und anerkannt werden wollen (107).
Mit der Eingebundenheit in den Markt wird die Wandlung von Individualisierung deutlich: nicht mehr die individuelle Freiheit zur Selbstverwirklichung steht im Mittelpunkt, sondern der gesellschaftliche Zwang zur Selbstoptimierung und der Kampf um Anerkennung durch besondere individuelle Merkmale.
Individualisierung bedeutet im Neoliberalismus auch individuelle Verantwortung für den eigenen beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg. Sie ist verbunden mit einem Anstieg des Egoismus und Vernachlässigung des „Allgemeinen“ – sowohl der Bedürfnisse von Mitmenschen als auch gesellschaftlicher Belange. Wenn nur individueller Erfolg und Gewinn zählen, ist kein Platz zum Beispiel für die Berücksichtigung ökologischer Belange. Durch Individualisierung ist es nach Nachtwey (2016, 109) nicht nur zu einer gesteigerten Autonomie und größeren Vielfalt an Lebensformen gekommen, sondern Arbeitslosigkeit, Armut und geringe Aufstiegschancen werden nun von einem Klassenschicksal zu individueller Definition (109). Selbst Terrorismus kann zur Folge dieser Sichtweise werden. Wer im beruflichen und gesellschaftlichen Konkurrenzkampf abgehängt wird, braucht zur Selbstaufwertung Alternativen, die sie/er in islamistischen oder rechtsradikalen Gruppen finden kann.
Auch in der Pädagogik setzt sich die Erkenntnis durch, dass Individualisierung nicht nur eine notwendige Reaktion auf individuelle Unterschiede ist, sondern mit neuen Zwängen verbunden ist, wenn ein Mehr an Flexibilität, Engagement und Eigeninitiative zu Produktionsfaktoren werden (Häcker 2017, 279)
3. Konsequenzen
Individualisierung und in der Folge Pluralisierung von Lebensformen und -stilen sind für eine moderne offene Gesellschaft unverzichtbar. Die negativen Auswüchse im Neoliberalismus können deswegen nicht – wie von Rechtspopulisten vorgeschlagen wird – durch Abschaffung von Individualisierung und Rückkehr zu traditionellen Gesellschaftsformen behoben werden, weil dies die Abschaffung von Vielfalt bedeuten würde. Notwendig ist vielmehr eine Selbstbefreiung von durch den Neoliberalismus geschaffenen Zwängen z.B. der Selbstoptimierung und -vermarktung.
Zusätzlich ist eine stärkere Berücksichtigung des „Allgemeinen“ auf gesellschaftlicher und pädagogischer Ebene notwendig. Die individuelle Freiheit findet im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant, der Freiheit, Vernunft und Moral miteinander verbindet, dort ihre Grenzen, wo die Bedürfnisse anderer und das Gemeinwohl beeinträchtigt werden.
In der Schule müssen Individualisierung und Differenzierung durch „kooperatives Lernen“ (Zusammenarbeit in kleinen Gruppen mit gegenseitiger Unterstützung beim Lernen) ergänzt werden, um gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt zu fördern (Häcker 2017, 80).
Literatur
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere moderne. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Häcker, Thomas (3017): Individualisierter Unterricht. In: Thorsten Bohl, Jürgen Budde & Markus Rieger-Ladich (Hrsg): Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn 2017, 275 – 290
Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp Verlag Berlin
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag Berlin
Wansing, Gudrun (2005): Teilhabe an der Gesellschaft. Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. VS Verlag Wiesbaden
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