Bourdieu „Über den Staat“ – eine Rezension
Vorstellen und diskutieren will ich zwei Bücher von Pierre Bourdieu. Erschienen ist im Jahre 2014 der Band „Über den Staat“, ein ziemlich dicker Schinken mit ca. 650 Seiten. Einige werden sich fragen, wieso 2014 erschienen, Bourdieu ist doch schon 2002 gestorben?
In der Tat handelt es sich nicht um ein neues Werk, sondern um eine Transkription von Vorlesungen, die Bourdieu zwischen 1989 und 1992 am College de France gehalten hat. Das rechtfertigt es, einen anderen Text daneben zu legen, nämlich das im Jahre 1998 in Deutschland erschienene Buch „Praktische Vernunft – zu Theorien des Handelns“, aus dem der Abschnitt interessant ist, der überschrieben ist mit „Staatsgeist, Genese und Struktur des bürokratischen Feldes“ – ein Text von knapp 30 Seiten. Warum ist es interessant, diesen kurzen Text neben das ausführliche Werk zu legen? Man ahnt es, die wesentlichen Thesen der Vorlesung finden sich auch in dem kurzen Text, aber – das muss jetzt natürlich kommen – die Vorlesung enthält neben der staatstheoretischen Diskussion ausführliche und spannende Passagen zur Methode und zum Denkstil von Bourdieu. Zweitens werden die wesentlichen strukturtheoretischen Thesen ausgeführt und expliziert, was insbesondere für Menschen hilfreich ist, die sich noch nicht eingehend mit Bourdieus gesellschaftstheoretischen Ansätzen, der Beziehung von Struktur und Habitus, auseinandergesetzt haben. Drittens finden sich eine Fülle von Ex- und Diskursen, von Rand- und Nebenbemerkungen, die an sich spannend genug sind, genügend Stoff zum reflektieren enthalten und die die geistige Fülle ausmachen, die in diesem Buch steckt und die Bourdieu ohne Zweifel zu den großen Denkern am Ende des letzten Jahrhunderts ausweisen.
Hier kann eine kleine Kritik anschließen: Bourdieu weiß darum, er weiß, dass er zu den führenden Intellektuellen Frankreichs, eher der Welt zählte und das schimmert in den Vorlesungen manchmal durch; es wird fast Alles niedergemacht, was sich auf dem Gebiet der Staatstheorie bewegt hat und es gerät zur Koketterie, wenn Bourdieu seine mangelnden historischen Kenntnisse hervorhebt. Niedergemacht werden vor allem die Marxschen und marxistischen Auffassungen des Staates, die – da verkürzt Bourdieu bis zur Unkenntlichkeit – den Staat ausschließlich als Gewaltapparat und funktionalistisch denkten. Gleich zu Beginn der Vorlesung grenzt sich in Bourdieu ab: Für die marxistische Vorstellung sei der Staat „ein Zwangsapparat, ein Apparat zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, freilich zu Gunsten der Herrschenden. Anders gesagt, die marxistische Tradition stellt nicht das Problem der Existenz des Staates; stattdessen löst sie es im Handstreich mit der Bestimmung der Funktionen, die er erfüllt. Von Marx bis Gramsci und Althusser, ja noch über diesen hinaus bemüht sie sich immer, den Staat durch das zu charakterisieren, was er tut und durch die Leute, für die er es tut, was er tut, ohne sich nach der Struktur der Mechanismen zu fragen, die angeblich das hervorbringen, was ihm zu Grunde liegt. Natürlich kann man den Akzent entweder auf die ökonomischen Funktionen des Staates oder auf seine ideologischen Funktionen legen; man spricht dann mit Gramsci von ‚Hegemonie’ oder mit Althusser vom ‚ideologischen Staatsapparat’, doch immer liegt die Betonung auf den Funktionen, und man umgeht die Frage nach dem Sein und dem Tun dieses Etwas, das man als Staat bezeichnet“ (21 f). Der Funktionalismus-Vorwurf ist an vielen Stellen sicher nicht unberechtigt, aber er ist wohlfeil und beispielsweise mit Blick auf Gramsci oder Althusser kaum nachvollziehbar. Dass Marx-bashing war 1989 nach dem Zusammenbruch der DDR angesagt – die Linke verzweifelte am Zusammenbruch eines Systems, das sie grundsätzlich kritisiert hatte. Am Ende übernimmt Bourdieu von Althusser mehr als er zugeben möchte und als seine Polemik gegen diesen vermuten lässt.
Bourdieu ist zuzustimmen, wenn er sagt: „das alte Schema Basis/Überbau – ein Schema, das viel Unheil in der Sozialwissenschaft angerichtet hat – muss verworfen werden; wollte man es aber beibehalten, müsste es zumindest umgekehrt werden. Muss man nicht, um ein Wirtschaftswunder zu verstehen, von den symbolischen Formen ausgehen?“ (286 f). Aber die Umkehrung des Basis/Überbau Schemas ist Bourdieu selbst suspekt, so schreibt er später: „Der Begriff des symbolischen Kapitals dient dazu, eine materialistische Theorie des Symbolischen zu ermöglichen. Wenn man dem, was ich vorhabe, unbedingt ein Etikett verpassen will, so könnte man sagen, dass ich einen erweiterten Materialismus entwickeln möchte“ (340).
Was er nämlich vor hat, ist eine Genese des Staates zu entwickeln, wobei er seine Methode als „genetischen Strukturalismus“ (175) bezeichnet, der sich von einfacher Geschichtsschreibung dadurch unterscheide, dass die impliziten Regeln des Feldes aufgedeckt werden. Er vergleicht das Feld mit einem Spiel, etwa im Schachspiel, das explizite Regeln kennt, dann aber auch implizite wie etwa die, dass auf jedem Feld nur eine Figur steht. „In einem Feld sind die Regeln implizite Regularitäten, Üblichkeiten; nur ein ganz kleiner Teil der Regularitäten wird in einen expliziten Zustand überführt“ (176). Deshalb seien die wirksamsten Verträge diejenigen, über die nicht gesprochen werde, die der Einigung unbewusst zugrunde liegen. Diese interessieren Bourdieu, nicht der Gesellschaftsvertrag, die Verfassung mit den expliziten Regeln.
Den Staat bestimmt Bourdieu durch eine Erweiterung der berühmten Definition von Max Weber so: „Wenn ich eine vorläufige Definition dessen geben sollte, was man ‚Staat’ nennt, würde ich sagen, dass derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als ‚administratives Feld’ oder ‚Feld der öffentlichen Verwaltung’ bezeichnen kann, derjenige Sektor, an den man in erster Linie denkt, wenn man ohne nähere Präzisierung vom Staat spricht, sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert“ (18). In „Praktische Vernunft“ lautet die Definition so: Der Staat ist ein „X, das mit Erfolg das Monopol auf den legitimen Gebrauch der physischen und symbolischen Gewalt über ein bestimmtes Territorium und über die Gesamtheit der auf diesem Territorium lebenden Bevölkerung für sich beansprucht“ (PV99). Man ahnt es, Bourdieu interessiert sich nicht so sehr für die Genese des physischen Gewaltmonopols, sondern für das Monopol der symbolischen Gewalt. Dabei lässt er ungeklärt, was legitime symbolische Gewalt wohl sein könnte. Durch die Legitimität des Gewaltmonopols unterscheidet Weber den Staat von einer Räuberbande, etwa von der Mafia, die das Monopol zu bestimmten Zeiten ebenso effektiv in Anspruch nahm wie der italienische Staat. Legitime symbolische Gewalt erscheint dagegen als Tautologie oder freundlicher ausgedrückt als Pleonasmus. Bourdieu geht es darum, den Unterschied zwischen Staat und Räuberbande zu klären, also die Legitimität des Gewaltmonopols zu untersuchen, ihre Genese zu verstehen. Sein wichtigster Baustein für die Analyse der Legitimität des Staates ist das „symbolische Kapital“. (Ob es einen unterschied zur symbolischen Gewalt gibt, über die Bourdieu den Staat definiert, bleibt ungeklärt.) Neben vielen Explikationen des symbolischen Kapitals gibt es an einer Stelle auch eine Definition: „Unter symbolischem Kapital verstehe ich diejenige Kapitalform, die aus der Beziehung zwischen einer beliebigen Kapitalsorte und den Akteuren entsteht, die so sozialisiert sind, dass sie diese Kapitalsorte erkennen und anerkennen. Das symbolische Kapital hat seinen Platz, wie das Wort sagt, in der Ordnung des Erkennens und Anerkennens“ (337). Kurz: beim symbolischen Kapital geht es darum, dass die Menschen den Staat als solchen erkennen und anerkennen – eben das war einer der zentralen Gedanken auch von Althusser. Die Menschen kennen den Unterschied zwischen der Mafia, die Schutzgeld erpresst, und dem Staat, der Steuern eintreibt. Dieser Unterschied macht die Legitimität. Will man nicht tautologisch bleiben, müssen die Bedingungen, Voraussetzungen und die Entstehungsgeschichte des symbolischen Kapitals, bzw. das Monopol des Staates auf das symbolische Kapital und seine Reproduktion erklärt werden.
Die Frage ist also: wie wurde das Monopol des Staates über das symbolische Kapital produziert und wie reproduziert es sich? Bourdieu setzt den Beginn der europäischen Staatenbildung im zwölften Jahrhundert an, d.h. er stimmt mit der inzwischen wohl herrschenden Auffassung überein, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation kein Staat war. Setzt man modern vor den Staat, kann man sich die Diskussion schenken ob der Staat nur so aussehen kann, wie derjenige der bürgerlichen Gesellschaft. Unter Rezeption vor allem von Elias, Tillich, Kantorowicz und Lorrigan/ Sayer begreift Bourdieu die Herausbildung des modernen Staates als Monopolisierungs- oder Konzentrationsprozess zunächst der physischen Gewaltmittel, also der Armee, und gleichzeitig des ökonomischen Kapitals mittels Steuererhebung. Beide Prozesse konnten nur Hand in Hand laufen, denn nur über eine effektive Steuerverwaltung ließ sich eine Armee rekrutieren und bezahlen, die derjenigen anderer Fürsten überlegen war, so dass sich die Macht beim König konzentrierte und die Adeligen – so die französische Sicht – in die Rolle der Hofstaffage gerieten, weil sie ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Kriegsdienst zu leisten, verloren hatten. Soweit stimmen die meisten Analysen mit etwas theoretischem Anspruch überein – verweisen kann man etwa noch auf Sombart oder Gerstenberger.
Die Konzentration der Gewaltmittel und von ökonomischem Kapital konnte – das ist Bourdieus zentrale These – nur gelingen, weil der König gleichzeitig das symbolische Kapital akkumulierte und schließlich monopolisierte. Zunächst habe der Titel „König“ das Seine dazu beigetragen, dass sich Gewaltmittel und symbolisches Kapital bei ihm und keinem anderen Fürsten konzentrierte. „Also eines der Erklärungsprinzipien für den Aufstieg des Königs hängt schlicht daran, dass er der König ist, das heißt, dass er innerhalb des Spiels einen besonderen Platz einnimmt, nämlich den des Königs – und deshalb bezeichne ich diesen Gegenstand als: Platz des Königs“ (439). Das passt gut zu England und Frankreich, aber weniger zur Geschichte in Deutschland, wo sich am Ende der preußische gegen andere Könige durchsetzte und „Kaiser“ der Titel für das Zentrum des römischen Reiches Deutscher Nation gewesen war.
Wichtiger erscheint deshalb ein anderer Faktor, nämlich die Rolle der Juristen. „Juristen sind Leute, die das offizielle bekräftigen, selbst in jenen Grenzfällen, in denen man offiziell das Offizielle überschreiten muss (108) – welch eine wunderbare Beschreibung. Juristen waren es – so Bourdieu –, die durch die Rezeption des römischen und kanonischen Rechts die königlichen Macht von der privaten, personalen Herrschaft in den Staat überführten, zur öffentlichen Angelegenheit erklärten, die öffentlich verhandelt wurde und über Systeme der Legitimierung die Administration zu einer öffentlichen und bürokratischen gemacht haben. Bourdieu schreibt: „Tatsächlich verweist die Beschreibung des Offiziellen auf die Genese des Offiziellen, des Staates, der das Offizielle hervorgebracht hat. Kantorowicz arbeitet über die Juristen, die am Ursprung des Offiziellen standen. Ich vereinfache, denn man kann nicht sagen, dass es die Juristen und die Kanonisten waren, die den Staat hervorgebracht haben, aber sie trugen weitgehend dazu bei. Ich glaube, man kann keine Genealogie des abendländischen Staates entwickeln, ohne die mit dem römischen Recht groß gewordenen Juristen eine bestimmende Rolle dabei spielen zu lassen; sie waren es, die diese fiktio juris, diese Rechtsfiktion hervorzubringen vermochten. Der Staat ist eine von den Juristen hervorgebrachte Rechtsfiktion, die sich als Juristen hervorgebracht haben, indem sie den Staat hervorbrachten“ (110, ähnlich 674). Dabei beschreibt Bourdieu die Herausbildung des modernen bürokratischen Staates auch als Differenzierungsprozess, der mit der Konzentrationen der Gewaltmittel verbunden und notwendig war, an dem die Juristen aber auch ein Interesse hatten, weil dieser Prozess ihre Stellung gegenüber derjenigen der Adeligen stärkte. Der König war in der guten Situation das bürokratische gegen das aristokratische – Bourdieu spricht vom dynastischen – Element ausspielen zu können. Die Juristen konstruieren den Staat, machen das private zu einem öffentlichen Amt und schaffen mit den theoretischen Konstruktionen des Staates – von Machiavelli bis (vielleicht) Hegel – die Grundlage für den Anspruch auf das Monopol des symbolischen Kapitals.
Die Anerkennung, die mit dem symbolischen Kapital verbunden ist, liegt vor der Akzeptanz, der bewussten Zustimmung. Sie liegt in der körperlichen Einübung von Verhaltenscodes, einem Habitus, der die Orientierung in einer (nationalen) Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Bourdieu führt als Beispiel mehrfach an, dass Kalender verwendet werden, die Uhrzeit akzeptiert oder besser unhinterfragt genutzt wird. Er fasst so zusammen: „Kultur stiftet Einheit: der Staat trägt zur Vereinheitlichung des kulturellen Marktes durch die Vereinheitlichung sämtlicher Regelwerke – Recht, Sprache, Maße und Gewichte – und die Homogenisierung der – insbesondere bürokratischen (Formulare, Vordrucke usw.) – Kommunikationsformen bei. Mit Hilfe der Klassifizierungssystemen (vor allem nach Alter und Geschlecht), die im Recht, den bürokratischen Verfahren, den Strukturen des Bildungssystems und … in den sozialen Ritualen festgeschrieben sind, formt der Staat die mentalen Strukturen, setzt gemeinsame Wahrnehmung- und Gliederungsprinzipien durch, Formen des Denkens, die für das gebildete Denken das darstellen, was die von Durkheim und Mauss beschriebenen primitiven Formen der Klassifizierung für das ‚wilde Denken’ sind, und trägt damit zur Konstruktion dessen bei, was man gemeinhin als nationale Identität oder, in einer eher traditionellen Sprache, als Nationalcharakter bezeichnet“ (PV 106 f). Es sind diese Regularien, die den expliziten Regeln des Staates, d.h. dem Recht vorgelagert sind. Es sind die Voraussetzungen der expliziten Regeln – ähnlich dem Schachspiel –, welche die Stabilität der Institutionen sichern. Das ist schon wieder beinahe tautologisch, weil Bourdieu Institutionen als „organisiertes, automatisierte Vertrauen“ (78) definiert. Es sind also gerade diese Institutionen, welche die Stabilität des Gesamtsystems re-produzieren. Das heißt natürlich nicht anderes, als dass die Institutionen und der Staat durch das handelnde Akteure produziert und reproduziert wird.
Bourdieu schreibt: „Die soziale Welt ist im Modus der doxa gegeben, jener Art von Glauben, die sich selbst nicht als Glauben wahrnimmt. Die soziale Welt, ein historisches Artefakt, ein Produkt der Geschichte, das Dank einer Amnesie der Genese, die alle sozialen Schöpfungen betrifft, in seiner Genese vergessen ist. Der Staat wird als historischer verkannt und mit uneingeschränkter Anerkennung, die die Anerkennung der Verkennung ist, anerkannt. Es gibt keine vollkommenere Anerkennung als die Anerkennung der doxa, weil sie sich als Anerkennung nicht wahrnimmt. Doxa heißt eine Frage bejahen, die ich nicht gestellt habe. Die Bindung an die doxa ist die vollkommenste Bindung, die eine soziale Ordnung erreichen kann, weil sie sich noch jenseits der Konstitution der Möglichkeit, anders zu handeln, ansiedelt“ (326).
Nun müssen die Akteure sich dieses vorgelagerte Vertrauen noch aneignen, das symbolische Kapital des Staates muss produziert werden. Bourdieu verbindet diese Re-Produktion des symbolischen Kapitals mit der Nationenbildung oder der Konstituierung des Staates als Nationalstaat. Die Nationenbildung sei – jedenfalls in der französischen Denktradition, die er hier von der Deutschen unterscheidet, – kein dem Staat vorangehendes Phänomen. Die Nation wird vom Staat gebildet, nämlich erfunden, indem mit dieser Nation einheitliche Codes oder Schemata verbunden werden, was in Deutschland als gemeinsame Sprache, Kultur oder gemeinsame Schicksal (Otto Bauer) dem Staat vorgelagert wird. Der Staat universalisiert, so Bourdieu, durch sein Monopol auf das symbolische Kapital die Bewertung und Wahrnehmungsschemata seiner Untertanen und macht sie damit zu Staatsbürgern – die sich als solche erstmals anerkennen, wenn sie Steuern zahlen (356). Wie macht der Staat das? Die Antwort in den Vorlesungen erscheint manchmal etwas simpel: durch die Schule. Ein Beispiel: „der Staat ist in der Lage, diese Wahrnehmungskategorien innerhalb der Grenzen eines Territoriums zu universalisieren. Nach dieser Logik ist eine Nation ein Ensemble von Leuten, die die gleichen staatlichen Wahrnehmungskategorien haben und, nachdem sie die gleichen Prozeduren der Konditionierung und Einimpfung durch den Staat, d.h. durch die Schule, durchlaufen haben, mit [gemeinsamen] Wahrnehmungs- und Einteilungsprinzipien zu einer Reihe von ziemlich ähnlichen grundlegenden Problemen ausgestattet sind“ (604).
In seiner Abhandlung zur praktischen Vernunft klingt das etwas umfassender und differenzierter: „In unseren Gesellschaften hat der Staat an der Produktion und Reproduktion der Instrumente zur Konstruktion der sozialen Realität einen entscheidenden Anteil. Als Organisationsstruktur und Regulierungsinstanz der Praktiken übt er, vermittelt über die körperlichen und mentalen Zwänge und Disziplinierungen, die er sämtlichen Akteurin gleichermaßen auferlegt, permanent eine Wirkung aus, die zur Bildung von dauerhaften Dispositionen führt. Er sorgt außerdem für die Durchsetzung und Verinnerlichung aller grundlegenden Klassifizierungsprinzipien – nach Geschlecht, Alter ‚Kompetenz’ usw. – und ist der Ursprung der symbolischen Wirksamkeit aller Setzungsriten, all derer beispielsweise, auf denen die Familie beruht, aber auch all derer, die vom Bildungssystem vollzogen werden. … Die Konstruktion des Staates geht einher mit der Konstruktion eines gemeinsamen historischen, all seinen ‚Subjekten’ immanenten Transzendentalen. Durch den Rahmen, den er den Praktiken setzt, sorgt der Staat für die Einführung und Verinnerlichung der gemeinsamen Wahrnehmungsformen und -kategorien sowie Denkformen und -kategorien, der sozialen Rahmen von Wahrnehmung, Vernunft oder Gedächtnis, der mentalen Strukturen, der staatlichen Formen der Klassifikation. Damit schafft er die Voraussetzungen für eine Art unmittelbarer Abstimmung der Habitus, welche selber die Grundlage einer Art Konsensus über jenes Ensemble der von allen geteilten Selbstverständlichkeiten bildet, das den common sense ausmacht“ (PV 117). In dieser Fassung, in der die Wahrnehmung- und Bewertungsschemata Ergebnis der Sozialisation sind, lässt sich nicht mehr begründen, warum der Staat das Monopol auf das symbolische Kapital hat. Und hier beginnen die Einwände gegen Bourdieus Analysen.
Das symbolische Kapital und seine Re-produktion – das geht bei Bourdieu meist ineinander über – sind in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs beim Start monopolisiert. Der Staat ist ein wichtiger, vielleicht auch der größte Player, aber zwei weitere große Player produzieren offenbar auch symbolisches Kapital, nämlich die Kirche und die Kulturindustrie, wobei beide wohl in den Plural gesetzt werden müssen. Daneben gibt es natürlich weitere kleinere Mitspieler. Die Kirchen werden von den Gläubigen, ihren Mitgliedern, auch anerkannt, nämlich etwa als „Gottes Stellvertreter“ oder „Übermittler der Botschaft“ und was auch immer. Ohne diese Anerkennung könnte die Kirche ihre Rolle nicht erfüllen, was bei starken Säkularisierungstendenzen deutlich wird. Die Kulturindustrie, etwa das Fernsehen, wird in einem weniger umfassenden Sinne anerkannt, etwa als Produzent objektiver Nachrichten – aber es ist mindestens so wie die Schulen an der Produktion symbolischen Kapitals beteiligt. Nun könnte man Kulturindustrie und Kirchen kurzerhand einem Begriff des „erweiterten Staates“ subsumieren. Damit verschwinden aber gerade die Unterschiede, die für Bourdieu wichtig sind und die Analyse wird postmodern beliebig oder stalinistisch, nach dem Motto „Alles hängt mit allem zusammen.“
Verwirft man das Monopol des Staates auf die symbolische Gewalt, stellt sich die Frage nach der Legitimität und sie stellt sich anders als beim legitimen Monopol auf physische Gewalt. Dieses Monopol beansprucht der Staat explizit und andere Formen physischer Gewalt – auch solche die effektiv sind und Herrschaft beanspruchen wie bei der Mafia – werden vom Staat und von den Bürgern, selbst von der Mafia, als illegitim angesehen. Das heißt: das Erkennen des Staates als Staat verschafft ihm – zunächst mit Blick auf das Gewaltmonopol – einen Legitimitätsvorsprung und zwar unabhängig davon, welche Staatsform besteht, ob der Modus der Herrschaft eher auf Gewalt beruht oder eher sozial integrativ ist. An einer Stelle spricht Bourdieu von Protolegitimität (309), die er von der Legitimität unterscheidet aber nicht wirklich abgrenzt und expliziert. Als Protolegitimität könnte man den Zustand fassen, in welchem der Staat als solcher anerkannt wird, als Institution die berechtigt ist, Pässe, Zeugnisse, (Heirats-)Urkunden usw. auszustellen, Grundbücher zu führen oder den Gerichtsvollzieher vorbei zu schicken. Trotzdem kann der einzelne Bürger, ja sogar eine Mehrheit den Staat für illegitim halten. Der Unterschied wird deutlich, wenn man die sogenannten failing states in Afrika mit der DDR des Jahres 1988 vergleicht. In den failing states wird der Staat nicht mehr als solcher anerkannt. Im Zweifel besinnen sich die Menschen auf Stammesstrukturen und entsprechende Riten, wenn sie beispielsweise heiraten wollen. In der DDR des Jahres 1988. funktionierte der Staat im Wesentlichen – er war unbestritten zuständig für die oben genannten Handlungen, aber eine Mehrheit der Bürger bezweifelte seine Legitimität, wünschte sich nicht nur eine andere Regierung, sondern eine andere Staatsverfassung und gesellschaftliche Konstitution – was auseinanderfallen kann, wofür die DDR wiederum ein gutes Beispiel lieferte. Der DDR, die sogar versuchte, das symbolische Kapital zu monopolisieren, gelang es zwar, genügend symbolisches Kapital zu akkumulieren, um als Staat anerkannt zu werden. Ihr gelang es aber nicht mehr, so viel symbolisches Kapital zu akkumulieren, um Legitimität, d.h. faktische Zustimmung oder mindestens Akzeptanz, bei der Mehrheit der Bürger zu gewinnen, um sich als legitimer Staat oder als legitime Herrschaft zu stabilisieren. Protolegitimität, die der doxa entspringt, unbewusst oder vorbewusst bleibt, so kann man Bourdieu weiter entwickeln, schafft ein gewisses Prä für den Staat, für die bestehende Ordnung und deren Legitimität. Dieses kann aber verloren gehen, oder überspielt werden, wenn die Herrschaft sich nicht legitimieren oder stabilisieren lässt; die Legitimität der Herrschaft und des Staates wird dann infrage gestellt, was nicht heißen muss (es aber kann), dass der Staat nicht mehr als Staat anerkannt wird; es kann auch einfach heißen, dass die Regierung stürzt, die Staatsform reformiert oder revolutionär verändert wird. Im Ergebnis muss man Bourdieu um verschiedene Modi der Legitimation von Herrschaft ergänzen wenn man die Frage beantworten will: warum fügt sich die große Mehrheit einer Herrschaft, von der vor allem Andere, eine Minderheit, profitieren? Aber Bourdieus Verdienst ist es unzweifelhaft, diese tiefe Struktur der doxa der Anerkennung des Staates als Staat ans Tageslicht geholt und expliziert zu haben. Und „Über den Staat“ lohnt sich auch zu lesen, um den geschichtlichen Entstehungsprozess des modernen Staates theoretisch – jenseits des symbolischen Kapitals – zu durchdringen.
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