Bericht über den Kongress Solidarische Ökonomie und Transformation vom 10. – 13. September in Berlin
Wir können auch anders! – war der Slogan des Kongresses mit dem Kurznamen „Solikon 2015“. Er wurde federführend vom Forum Solidarische Ökonomie organisiert, weitere Veranstalter waren ripresseurope und das Zentrum Technik und Gesellschaft. Das Projekt wurde von weiteren 68 Kooperations- und Medienpartnern und 4 Förderorganisationen unterstützt. Dem Kongress war eine „Wandelwoche“ vorgeschaltet, bei der in 30 Touren 70 Projekte und Initiativen in Berlin und Brandenburg besucht wurden, die alternative Konzepte leben und versuchen im bestehenden System zu agieren. Zu den besuchten Projekten gehörten Genossenschaftliche Produktions- und Servicebetriebe, landwirtschaftliche Projekte und auch Initiativen von Einzelpersonen. Die Touren wurden mit Fahrrädern, öffentlichen Verkehrsmitteln und in einigen Fällen mit gecharterten Bussen durchgeführt. Sie waren alle gut besucht, in einigen Fällen konnten sogar nicht alle Anmeldungen akzeptiert werden.
Auf dem Kongress trafen sich über 1400 TeilnehmerInnen in 32 Foren und Podien und 142 Workshops, um Ideen für eine solidarische, eine „enkeltaugliche“ Ökonomie auszutauschen und zu überlegen, wie die Solidarische Ökonomie (SÖ) aus der Nische herauskommt. Prominente Gäste waren unter anderen Prof. Rosangela Alves de Oliveira, Vorkämpferin für Solidarische Ökonomie in Brasilien und Prof. Paul Singer, brasilianischer Staatssekretär für SÖ., die in ihren Beiträgen eine alternative Perspektive auf ihr Land zeichneten. Brasilien, das in unserer Wahrnehmung geprägt ist von expandierender wirtschaftlicher Entwicklung, rücksichtsloser Umweltzerstörung und riesiger sozialer Ungleichheit, hat zugleich Soilidarische Ökonomie auf die staatliche Ebene gehoben als Antwort auf eine extrem prekäre Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundene Krise der Sozialsysteme. Von Brasilien lernen – wäre das auch eine mögliche Antwort auf die Herausforderungen, die mit den Flüchtlingsströmen auf uns, die EU zukommen?
Bei 3 Konvergenz-Foren war der Wille aller TeilnehmerInnen, enger zusammenzuarbeiten, sehr ausgeprägt. Die 56 TeilnehmerInnen des ersten Forums mit nur deutschsprachigen TeilnehmerInnen kamen aus 25 verschiedenen Organisationen, die kurz vorgestellt wurden. Interessant war die Vorstellung einer Genossenschaft, die einen Service zur Digitalen Vernetzung aber auch zu gelegentlichen physischen Treffen anbieten wird. Sie ist unter www.wechange.de im Netz zu finden. Konkrete Beschlüsse und Absprachen gab es jedoch (noch) nicht. Ähnlich, aber nicht so zielgerichtet verlief das zweite, internationale Konvergenzforum, das von einem Vertreter von ripesseurope moderiert wurde. Etwas enttäuschend verlief das dritte Konvergenzforum, bei dem leider viel zu wenig die Ergebnisse der ersten beiden Foren dargestellt und deshalb die Chance verpasst wurde, konkrete Absprachen für eine enge Kooperation zu treffen.
Über die vielen Workshops kann natürlich nur sehr eingeschränkt berichtet werden. Es gab Workshops, in denen konkrete Vorschläge vorgestellt und diskutiert wurden, es gab aber auch Workshops, bei denen die TeilnehmerInnen dazu animiert wurden, neue Ideen zu erarbeiten, so z.B. bei dem Workshop mit dem Titel: Solidarische Ökonomie und Macht. Dazu wurden für 4 Fragestellungen Ideen gesammelt:
- Was verleiht Macht
- Wer hat Macht
- Was stabilisiert Machtverhältnisse und
- Wie kommt die Solidarische Ökonomie aus der Nische heraus.
Zu den ersten 3 Fragen wurden sehr viele Ideen gesammelt, für die entscheidende 4 Frage blieb dann allerdings nicht mehr genügend Zeit, es wurde aber klar, dass es „ohne viele Menschen, die so denken wie wir“ nicht gehen wird, dennoch sind auch kleine Projekte wichtig, da wir sonst (vorläufig) „ohnmächtig“ sind.
Ein anderer Workshop stellte die Frage nach der Macht noch grundsätzlicher. Ist der Weg über die Macht überhaupt der richtige zu einer künftigen solidarischen Gesellschaft? Wäre nicht das Konzept des Anarchismus das viel adäquatere Gesellschaftsmodell? Kann man Macht abbauen, indem man sie gewinnt? Aber auch: Ist nicht Anarchismus schon wieder ein Widerspruch in sich, da jeder –ismus eine Form von Herrschaft begründet? Vielleicht öffnet sich dieser Weg, wenn wir lernen, herrschaftsfrei zu denken. Viele Orientierungsfragen wurden auf dem Kongress angerissen wie z.B.: Wirtschaftliche/gesellschaftliche Transformation als ordnungspolitische Aufgabe oder als selbstbestimmt anarchischer Evolutionsprozess einer herrschaftsfreien Gesellschaft? Wirtschaften mit Geld in einem veränderten System oder muss auch das Geld verändert werden oder gleich ganz ohne Geld? Was bedeutet es, wenn wir von “Uns” sprechen, wer gehört dazu und wer vielleicht nicht? Wollen, ja können wir überhaupt Gesellschaft verändern, ohne alle zu integrieren?
Anzutreffen war eine große Bandbreite von Formen neuer Subsistenz über Kollektive, deren innere Solidarität auch nach außen durchfärbt, Projekte politischer “Streetworker” und Basisaktivisten bis hin zu Organisationen politisch transformatorischer Arbeit. Für jeden hatte der Kongress etwas zu bieten: von Anleitungen und Anregungen für die Praxis über Erfahrungsaustausch, Planung neuer Projekte bis hin zu Konzepten und Strategien makropolitischer Gestaltung und Einflussnahme, wobei dieses Letztere in den großen Foren und Podien des Kongresses per se vorherrschend war. Ob das nur auf dem Kongress so war, oder ob diese Orientierung die weitere Entwicklung generell prägen wird, wird für die Zukunft der Solidarischen Ökonomie ganz sicher von Bedeutung sein. Welche Entwicklung freilich die Vorteilhaftere wäre, ist eine noch offene Frage.
Summa summarum: Der Kongress war ein weiterer wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum noch nicht klar definierten Ziel für die Zeit nach der Epoche des neoliberalen Kapitalismus, der Wurzel für globale Armut, Flucht und ökologischer Krise.
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