Bedroht die geplante transatlantische Freihandelszone unsere Gesundheit?
Drei wesentliche Bereiche zeichnen sich ab, in denen die TTIP auf unsere Gesundheit einwirkt:
1) Das Niveau des Verbraucherschutzes würde – entgegen aller Beteuerungen – sinken. Auch präventive Maßnahmen, etwa Verbote für die Bewerbung ungesunder Produkte, würden unwahrscheinlicher, wenn – wie geplant – die Investitionen von ausländischen Unternehmen etwa durch eine Ausweitung von Konzernklagerechten gegen Staaten stärker geschützt werden (was immer zu Lasten der Steuerzahler und der Gestaltungsfreiheit der Regierungen geschehen wird). Außerdem lassen sich starke Lobbytätigkeiten aus der Wirtschaft beobachten, die als Ziel eine Schwächung des nur in Europa verankerten Vorsorgeprinzips haben.
2) Die (Teil-)Privatisierung und Kommerzialisierung von Unternehmen und Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge würde ausgeweitet werden, da die Organisation oder Erbringung von Dienstleistungen in öffentlicher Trägerschaft u. a. vermehrt unter Begründungsvorbehalte gestellt werden könnte (sog. „economic need test“). Hierunter fallen z. B. Bedarfsplanungen aller Art, die ausländische Anbieter diskriminieren könnten – wie beispielsweise die Krankenhausbedarfsplanung. Außerdem drohen die Ausdehnung des Patentschutzes (was Medikamente verteuert) sowie eine stärkere Bevorzugung der für die Bevölkerung teureren privatwirtschaftlichen Versicherungssysteme. Auch steuerliche Zuschüsse für die gesetzlichen Krankenversicherungen (Bundesbeteiligung am Gesundheitsfonds) könnten als Wettbewerbsverzerrungen und unerlaubte Subventionen bewertet und entsprechend von privaten (ausländischen) Anbietern beklagt werden.
3) Die Finanzierung von Solidarsystemen könnte weiter zurückgefahren werden, da es Ziel aller Freihandelszonen ist, den Standortwettbewerb zwischen den Ländern auszudehnen. Da das Absenken von Sozialbeiträgen oder Steuern zumindest kurzfristig billigere Produkte ermöglicht und so Wettbewerbspositionen verbessert, wird die TTIP die längst vorherrschende Richtung der Steuer- und Sozialpolitik zementieren: Zukunftsinvestitionen, gesellschaftlicher Ausgleich und Vorsorge werden noch weiter ausgedörrt, aufgrund weiter steigenden Preisdruckes wahrscheinlich mit zunehmender Geschwindigkeit.
Nichts Neues also, könnte man meinen. Ein Vergleich der Gesundheitssysteme zwischen den USA und Deutschland zeigt aber, dass unser Gesundheitssystem trotz aller Reformen und Sparprogramme der vergangenen 20 Jahre noch immer deutlich solidarische Elemente aufweist. Angefangen von Zuzahlungsbefreiungen bis hin zur beitragsfreien Mitversicherung von Kindern ließen sich die für unser Gesundheitswesen verwendeten und zumeist umverteilten Gelder mehr als bisher kürzen und vor allem die Profitmöglichkeiten von Privatunternehmen (etwa bei der Erbringung von Pflegedienstleistungen, der Medikamentenvermarktung oder dem Betreiben von Krankenhäusern oder Arztpraxen) erheblich erweitern. Denn alle diese Bereiche sind hoch reguliert und auf (mitunter zweifelhafte) Effizienzkriterien getrimmt, um Sozialversicherungsbeiträge niedrig zu halten. Erst durch eine umfassende Privatisierung von Versicherungsleistungen lässt sich diese Orientierung aufbrechen, wodurch der Kostendruck verschwinden könnte. Die Folgen sind in den USA längst zu beobachten und zeichnen sich bei uns erst in vergleichsweise geringem Umfang ab, obwohl beispielsweise gesetzlich versicherte Bürger schon heute die Auswirkungen einer Zweiklassenmedizin deutlich zu spüren bekommen. Auch der Einfluss einer Luxus- und Schönheitsmedizin, die Ärzte dazu verleitet, vor allem auch Profitables an einem Patienten zu versuchen, ist in Europa weniger ausgeprägt als in den USA. Das IGeL-System ist ein erster Ansatz in Deutschland in diese Richtung. Da privatisierte Dienstleistungen in der Regel ohne Berücksichtigung eines sozialen Ausgleichs angeboten werden, wird jede weitere Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen in unserer ungleicher werdenden Gesellschaft weniger wohlhabende Bevölkerungsschichten diskriminieren. Das könnte auch in Deutschland den Aufbau einer Armenversorgung zur Folge haben, wie sie in Gestalt des Medicaid-Systems in den USA längst dazu dient, die Basisversorgung von über 63 Millionen Menschen zumindest pro Forma aufrechtzuerhalten.
Konkrete Verhandlungsergebnisse (etwa der Form „Zuzahlungen werden um 50 % steigen“, „Grenzwerte für Schadstoffe in Käse werden dem US-Niveau angeglichen“ oder „Gentechnisch hergestellte Nahrungsmittelbestandteile unter einer Bagatellgrenze müssen nicht mehr gekennzeichnet werden“) können hier natürlich nicht benannt werden, da die Verhandlungen im geheimen ablaufen und längst noch nicht abgeschlossen sind. Viele Auswirkungen des Freihandelsabkommens werden unsere Gesundheit auch erst auf Umwegen beeinflussen. Laut Verhandlungsmandat sollen alle Dienstleistungen, die nicht ausschließlich von hoheitlichen Stellen erbracht werden, auf das höchste Niveau liberalisiert werden, das die USA oder Europa in irgendwelchen Freihandelsverträgen bereits umgesetzt haben.
Am wenigsten wahrscheinlich ist somit, dass die TTIP keine Folgen zeitigen könnte, und die Logik des Standortwettbewerbs wirkt in allen Bereichen der Gesellschaft in die Richtung, Solidarsysteme zu kommerzialisierten.
Bevor ein Freihandelsabkommen die weitere Kommerzialisierung und Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen aber überhaupt vorantreiben kann, musste das Gesundheitswesen sturmreif geschossen werden. Mit der Einführung von Fallpauschalen, durch die ein Krankenhaus auf der Basis der gestellten Diagnosen (und nicht der tatsächlichen entstandenen Kosten) eine bestimmte Geldsumme überwiesen bekommt, wurden ökonomische Anreizsysteme zur alles dominierenden Kultur innerhalb des Gesundheitswesens. Erst dieses System (in Verbindung mit einer beschämenden Privatpatienten-Präferenz) ermöglicht ausreichende Profitmöglichkeiten für private Klinikketten, die Renditevorstellungen ihrer Aktionäre zufrieden zu stellen. Diese Entwicklungen verliefen schleichend und werden von den meisten Menschen nicht wahrgenommen, solange sie nicht davon direkt betroffene Patienten sind. Erst wenn öffentliche Kliniken privatisiert werden, gibt es manchmal einen – berechtigten – öffentlichen Aufschrei.
Exkurs: Die Schliche renditeorientierter Klinikbetreiber
Wie gelingt es privaten Klinikbetreibern in Krankenhäusern Gewinne zu erwirtschaften, in denen öffentliche Träger vorher nur Verluste machten? Die Möglichkeiten sind erstaunlich vielfältig, denn Kreiskrankenhäuser sind in aller Regel Häuser der Grund- und Regelversorgung, die – wenn sie ihren eigentlichen Auftrag erfüllen – nicht Rosinen picken dürfen, ganz im Gegensatz zu privaten Unternehmen. Für das Wohl der Patienten und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten haben diese Freiheiten negative Auswirkungen. Hier ein Beispiel:
Krankenhaus A, seit Jahrzehnten vom Landkreis B betrieben, hatte die Aufgabe, die Grundversorgung der örtlichen Bevölkerung sicherzustellen. Dementsprechend wurden eine internistische, eine chirurgische und eine gynäkologisch-geburtshilfliche Abteilung betrieben. Die Bevölkerung in dem ländlichen Landkreis war mit dem Angebot zufrieden, auch wenn in den letzten Jahren jedes Jahr ein Defizit von mehreren hunderttausend Euro aus dem Haushalt des Landkreises gedeckt werden musste. Zwei politische Entscheidungen erzwangen dann aber den Verkauf des Hauses:
• Das Defizit wurde jährlich größer, da das Krankenhaus nicht die Produktivität hoch spezialisierter Kliniken erreichen konnte, woran sich aber die Fallpauschalen als Grundlage der Krankenhausfinanzierung orientieren.
• Es wurde eine Schuldenbremse für alle öffentlichen Haushalte beschlossen.
Trotz heftiger Proteste der lokalen Bevölkerung bot der Landkreis seine Klinik zum Verkauf, sie wurde von einem privater Krankenhausbetreiber übernommen. Eine Jobgarantie für alle Mitarbeiter für ein Jahr wurde als Erfolg des Kreises in den Verhandlungen gepriesen.
3 Jahre später war aus dem unerträglichen Defizit ein satter Gewinn für den neuen Klinikbetreiber geworden – was war geschehen?
Nach Ablauf des Garantiejahres waren im Rahmen einer Umstrukturierung 30 Mitarbeiter entlassen worden. Die geburtshilfliche Abteilung war geschlossen worden, weil die Zahl von 400 Geburten pro Jahr eine profitable Fortführung dieses wohnortnahen Angebotes nicht mehr zuließ. Dafür und auf Kosten der internistischen und chirurgischen Stationen wurde die orthopädische Abteilung aufgewertet. Ein auf Gelenkersatz für Hüft- und Kniegelenke spezialisierter neuer Chefarzt bescherte dem Haus lukrative Diagnosen und hohe Fallzahlen.
Dagegen wurden die Kapazitäten und das Personal der Intensivmedizin nicht aufgestockt, so dass an Wochenenden und bei schwerwiegenden Komplikationen Patienten in das nächste öffentliche Krankenhaus verlegt werden mussten. Alle Mitarbeiter des Reinigungsdienstes und der Küche waren nach einem Jahr in ein konzerneigenes Tochterunternehmen übergeleitet worden, wo das Lohnniveau um 20% abgesenkt wurde. Die im öffentlichen Dienst übliche betriebliche Zusatzrente wurde dagegen weiterhin aus dem Kreisetat bezahlt, neu eingestellte Mitarbeiter erhielten dieses Angebot nicht mehr.
In aufwändig renovierten Zimmern wurden Privatpatienten untergebracht, was zu Engpässen insbesondere in der Allgemeinchirurgie führte, sodass Patienten für einfache Operationen wie Blinddarmentfernung in das nächste Kreiskrankenhaus verwiesen wurden. Dort kam es zu einer Zunahme dieser im Fallpauschalensystem schlecht bewerteten Operationen. Gleichzeitig wurde ein Oberarzt, der für seine Erfahrung in Gelenkersatzoperationen bekannt war, von der orthopädischen Abteilung der neuen Privatklinik abgeworben, was die Möglichkeiten des benachbarten Kreiskrankenhauses beschnitt, wirtschaftlich unprofitable mit profitablen Patienten zu verrechnen.
Nach 6 Jahren hatte sich der Erlös verdoppelt, die Personalkosten waren gleichzeitig um 25% gesunken, allerdings hatte sich die Fluktuation insbesondere im Bereich Pflege und Service um 60% erhöht. Parallel dazu hatte das Defizit des Kreiskrankenhauses im Nachbarkreis weiter zugenommen.
TTIP: Den Zielkonflikt weiter verschärfen
Diese zutiefst unmenschlichen, aber in höchstem Maße ökonomischen Entwicklungen wird die TTIP weiter forcieren. Das Beispiel illustriert eindrücklich, an wie vielen Schrauben gedreht werden kann, um Krankenhäuser in Profit-Center zu verwandeln. Die ethischen Grundlagen der Behandlung eines Kranken kommen zwangsläufig unter die Räder, wenn damit Profite oder Verluste gemacht werden können. Falls unter TTIP die Investitionen von Konzernen noch besser geschützt werden und sie etwa Staaten auf entgangene Gewinne verklagen können, wäre das profitorientierte Gesundheitssystem in Stein gemeißelt. Um Reformen durchzusetzen, brauchen Politiker Gestaltungsspielräume, die ihnen durch die TTIP genommen werden. Die vordringlichste Reform, ein Vergütungssystem im Gesundheitswesen, das Patienten nicht mehr in ökonomisch attraktive und nicht attraktive selektiert und die medizinische Behandlungsentscheidung von ökonomischen Anreizsystemen entlastet wäre vereitelt.
Wohin sollte es gehen? Ziel aller Gesundheitspolitik sollte sein, Menschen ein gesundes Leben bis ins hohe Alter zu ermöglichen, d.h., gesundheitliche Risiken zu minimieren und die Kosten von Krankheit abzufedern. Optimale Prävention hilft, Nachsorge zu minimieren. Dies erfordert eine Stärkung und keine Schwächung des Vorsorgeprinzips. Der (vorsorgende) Verbraucherschutz hat so hoch wie möglich zu sein; Produkte mit zweifelhaften Auswirkungen auf Mensch und Umwelt müssen auch bei uneinheitlicher Datenlage und bei deutlichen Hinweisen auf Schäden verboten werden können, nicht erst wenn das Grundwasser verseucht oder gesundheitliche Schäden bei den Menschen bereits eingetreten sind. Studienschlachten zwischen unternehmensabhängigen und -unabhängigen Wissenschaftlern können Jahrzehnte dauern, wie z. B. bei DDT und Asbest, weshalb ein Beharren auf eindeutige wissenschaftliche Ergebnisse vor allem bedeutet, Gewinninteressen über gesundheitliche Belange zu stellen – das ist nicht nur im Gesundheits- und Ernährungsbereich entschieden abzulehnen, sondern auch etwa im Chemikalienbereich. Jede Annäherung der europäischen an die US-amerikanische Kultur wird immer ein weiteres Zurückdrängen des Vorsorgeprinzips zur Folge haben.
Keine Zeit für den Burn-Out-Patienten
Eine Verdichtung von Arbeitsprozessen aufgrund höherer Gewinnerwartungen oder steigendem Kostendruck findet sich überall in unserer Gesellschaft – aus der zunehmenden Überforderungen der Menschen resultieren Depressionen, Suchterkrankungen, Angststörungen und Burn-Out. Die im Gesundheitswesen Beschäftigten leiden aus denselben Gründen unter denselben Folgen. Die stete Beschleunigung unserer Arbeits- und Lebenswelt verursacht Stress, dessen Ursache härter werdende Konkurrenzbeziehungen sind, die durch eine transatlantische Freihandelszone weiter vertieft werden. Also werden wir unseren Arbeitstakt weiter erhöhen. Der weiteren Zunahme an Burn-Out-Patienten wird noch stärker gestresstes Pflegepersonal gegenüberstehen. Es ist genau das Ziel der TTIP, Märkte zu vergrößern und mehr Konkurrenz herzustellen. Das wird die Gesellschaften weiter beschleunigen und so das Gegenteil einer gesundheitsdienlichen Entwicklung befördern. Gleichzeitig wird die TTIP das Gesundheitssystem weiter auf Kommerzialisierung und Privatisierung festlegen und dabei die Zweiklassen- und Luxusmedizin vertiefen, und das ist das genaue Gegenteil eines solidarischen Gesundheitswesens.
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