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Aufbruch in eine Zukunft für alle

Nachdem 2022 der neue Bericht an den Club of Rome „Earth for All“ veröffentlicht wurde, der 50 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“ eine erneute Bilanz der Klima- und sonstigen ökologischen Veränderungen zog, erscheinen nun nach und nach Publikationen, die Entwicklungen im nationalen Rahmen betrachten.

Nach Kenia und Österreich liegt nun auch der Bericht für Deutschland vor. Verfasst wurde er von einem Team aus Wissenschaftler*innen des Wuppertal Instituts, das die Nachhaltigkeitsdebatte in Deutschland von Beginn an geprägt hat.

Die Autor*innen folgen im Wesentlichen dem Ansatz des Welt-Berichts, das heißt, sie modellieren ein Szenario, was voraussichtlich passieren würde, wenn alles so weitergeht wie bisher („to little, too late“), und ein zweites, was mit einem „großen Sprung“ („giant leap“) zu erreichen wäre (S. 61). Die Ergebnisse dieser Modellierung werden im Buch nur sparsam dargestellt, es konzentriert sich auf die „fünf ausschlaggebenden Hebel“, die Earth4all identifiziert hatte: „Armut, Ungleichheit, Empowerment, Ernährung, Energie“ (S. 38). Ich werde im Rahmen dieser Besprechung die dort vorgestellten Ergebnisse nicht im Einzelnen wiedergeben, sondern nur punktuell darauf eingehen. Die fünf Kapitel sind recht unterschiedlich konkret, das Anliegen der Autor*innen ist offensichtlich weniger Betrachtung und Bewertung aktueller Politik, ihrer Akteure und Absichten, als vielmehr die Darstellung der Möglichkeiten, die dafür sprechen, den großen Sprung noch schaffen zu können. 

Es werden Narrative entwickelt und präsentiert, wie man die Verfolgung dieses Anliegens positiv und freundlich gestalten kann; Beispiel: „Es geht bei der Energiewende um nichts anderes als einen unausgesprochenen Generationenvertrag: Die heutige Generation finanziert mit der Energiewende den Spielraum vor, durch den auch künftige Generationen ihren Spielraum behalten können. Der Klimawandel würde begrenzt, Naturkatastrophen wären weitgehend ausgeschlossen, Energiepreisschocks unwahrscheinlich, Umweltzerstörungen und kriegerische Konflikte um Öl und Gas würden der Vergangenheit angehören.“ (S. 209) Diesen Ton, diese Haltung finden wir oft im Buch und es ist angenehm, das zu lesen, vielleicht gelegentlich sogar zu angenehm, sodass man sich fragt, ob man einer falschen Wahrnehmung erlegen ist, wenn man sieht, dass tatsächliche Regierungspolitik aber auch so gar nichts von all dem betreibt. Aber wenn man überzeugt ist, dass „für die anstehenden ökologischen und ökonomischen Wenden … Solidarität und sozialer Zusammenhalt“ (S. 146) erforderlich sind, dann ist es wohl vorrangig, deren Möglichkeit und Vorteile zu betonen. Dass „etwas (nicht) stimmt in Deutschland“ (S. 45), merken die Menschen von alleine.

Trotzdem wird das nicht verschwiegen. Schon im Vorwort des Club of Rome wird betont, dass „sechs von neun planetaren Grenzen, die das Leben auf der Erde unterstützen, überschritten“ sind (S. 9). Und auch die zu erwartenden politischen Konflikte werden nicht kleingeredet: „Widerstände wird es vor allem bei denen geben, die umfassende Privilegien, übermäßigen Ressourcenverbrauch, unermessliches Vermögen, riesigen Reichtum und ein enormes Macht- und Manipulationspotenzial auf sich konzentrieren konnten.“ (S. 14) So blieben „die Probleme, und sie nehmen zu: Ungleichheit und Naturzerstörung wuchsen. Nichts wirklich Substanzielles wurde dagegen unternommen. Das gilt besonders für die soziale Ungleichheit: Eine weltweite Agenda zu ihrer Bekämpfung fehlt überall.“ (S. 26) Und das bedeutet, dass es „höchste Zeit“ ist, „die soziale Ungleichheit zu begrenzen“, das ist „zwingend, wenn die Transformation zur Treibhausneutralität gelingen soll“ (S. 44).

Dass die soziale Frage der Schlüssel zur ökologischen Transformation ist, hatte schon der Welt-Bericht betont, und im vorliegenden Buch wiederholen es die Autor*innen immer wieder. Das ist nicht überflüssig oder ermüdend, sondern dringend notwendig, ist doch sowohl das Handeln der Politiker*innen wie die Aufmerksamkeit der Wähler*innen komplett „vom Silodenken und isolierten Maßnahmen einzelner Ressorts“ geprägt. Nötig wäre dagegen „Schluss mit dem Denken in kleinen, schrittweisen Verbesserungsschritten und der Vernachlässigung von Wechselwirkungen, Synergiepotenzialen, aber auch Konfliktpotenzialen. Interdisziplinäres und systemisches Denken und ressortübergreifende Aktion erschweren unter dieser Voraussetzung nicht etwa die Politik, sondern erleichtern und beschleunigen ihre Wirkung.“ (A. 39)

Auch diese Aussage kennen wir schon aus dem früheren Bericht und sie kommt wie ein Mantra immer wieder: Die Transformation wird nur erfolgreich gestaltet werden können, wenn alle fünf Wenden gleichzeitig angegangen werden, und die Ungleichheitswende ist zentral. Dabei zeigen die modellierten Szenarien, dass dies für Deutschland noch mehr gilt als global, da hierzulande „gerechte Steuer- und Sozialpolitik besondere Mangelware“ sind. „Wenn“ aber, so die Autor*innen, „Klima und Ressourcenschutzmaßnahmen die Ungleichheit im Land verschärfen, kann die Akzeptanz für die ökologischen Wenden in einer ernsthaften Transformationsblockade enden.“ (S. 42) Später werden sie das am Beispiel des Kommunikationsdesasters um das Gebäudeenergiegesetz noch einmal konkretisieren (S. 191).

Insgesamt haben wir also ein Buch vor uns, in dem wir mehr allgemeine Aussagen finden als konkret benannte Einzelpunkte. Das heißt freilich nicht, dass Wollen, Ziele, Einschätzungen der Autor*innen im Vagen bleiben. Sie nennen durchaus sehr konkrete Maßnahmen, wie „Schuldenerlass armer Länder“ (S. 87) oder „bedingungsloses Grundeinkommen“ (S. 96), vor allem aber sind sie überzeugt, dass vieles nur gelingen kann, wenn es eine breite Beteiligung gibt. „Ein Giant Leap muss aus unserer Sicht einen breiten gesellschaftlichen Diskurs einschließen.“ (S. 225) „Harte demokratische Aushandlungsprozesse über mehrheitsfähige Lösungen sind notwendig.“ (S. 239) Man möge mir den Hinweis verzeihen, aber schon 2011 in Vorbereitung des Kongresses „Jenseits des Wachstums“ hatte die Attac-AG genug für alle für eine umfassende demokratische Debatte darüber plädiert, „was denn die Produkte und Dienstleistungen wären, die für ein gutes Leben aller Not-wendig sind, … was wir produzieren wollen und wie“, und ich freue mich, dass diese Überlegung nun auch im wissenschaftlichen Diskurs angekommen ist.

Man kann also feststellen, das Buch beschönigt die Probleme keineswegs, richtet aber den Blick auf die ermutigenden Aspekte. Die Autor*innen scheuen sich nicht, mögliche Konflikte anzusprechen und eventuell mit ihren Positionen und Forderungen auch zuzuspitzen. Sie sprechen auch die individuelle Verantwortung in aller Klarheit an: „Wer nicht absichtsvoll verschleiern möchte und wer es wissen will, für den ist zweifelsfrei feststellbar: Wir haben ein Klimawandelproblem, und zwar ein gewaltiges.“ (S. 15) Dabei erheben sie „in keiner Weise den Anspruch, bereits einen abgeschlossenen Politikmix vorzulegen und alle Antworten geben zu können. Die Leser*innen erwartet ein Diskussionsangebot, welches zur Weiterentwicklung und Vertiefung der Ansätze einlädt.“ (S. 12)

Diese Einladung möchte ich dann an einem besonderen Punkt annehmen. Ich hatte schon bei der Besprechung des Welt-Berichts kritisch angemerkt, dass das Kapitel über die Agrarwende defizitär ist. Insbesondere die Nichtzurkenntnisnahme des Weltagrarberichts, in dem schon 2008 über 400 Wissenschaftler*innen aus über 70 Ländern gangbare Wege zu einer nachhaltigen Landwirtschaft, die durchaus 10 Milliarden Menschen ernähren könnte, aufgezeigt hatten, war ein großer Mangel. Das ist im vorliegenden Buch zu Deutschland noch viel schlimmer geworden. Es gab noch unter der Großen Koalition die Zukunftskommission Landwirtschaft, in der alle wichtigen an Landwirtschaft und Ernährung beteiligten Akteure Konsense über zukünftige Aufgaben erreicht hatten, ebenso wie die Tierwohlkommission unter dem ehemaligen CDU-Agrarminister Borchert für den speziellen Bereich Tierhaltung. Wie schon die aktuelle Bundesregierung nimmt auch Earth4all Deutschland davon keinerlei Kenntnis. Die Autor*innen kennen keine vermachteten weltweiten Agrar- und Lebensmittelmärkte, keine in großem Stil Agrarland aufkaufenden Finanzinvestoren und erzählen die gängigen Geschichten über vegetarische Ernährung und wachsende Weltbevölkerung, ohne von der Rolle des Graslandes für die Nahrungssicherung je gehört zu haben. Bei ihnen gibt es keine weltweit gut organisierten, vernetzten und kämpfenden Bewegungen von mehr als zweihundert Millionen Bäuerinnen und Bauern und auch deren Konzept von Ernährungssouveränität ist ihnen unbekannt. Das ist mehr als enttäuschend, das ist peinlich.

Dennoch ändert das nichts daran, dass das Buch unbedingt zur Lektüre gehören muss, wenn man die aktuelle Debatte um die planetaren Grenzen in Deutschland mit führen will.

Club of Rome & Wuppertal Institut (Hrsg.)
Earth for All Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle
oekom verlag, München 2024
280 Seiten, 26,00 Euro (E-Book 20,99)
ISBN: 978-3-98726-111-4


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