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Steffen Stierle: Strategische Agenda für die Union in Zeiten des Wandels

Im Schatten der medienwirksam ausgetragenen Personaldebatte um Jean-Claude Juncker haben die Staats- und Regierungschefs der EU wichtige strategische Weichenstellungen vorgenommen. Zentral war dabei die Annahme der von Präsident Herman Van Rompuy vorgeschlagenen „Strategischen Agenda der Union in Zeiten des Wandels“ (Anhang 1 der Schlussfolgerungen des Juni-Gipfels) – einer neoliberalen, unsozialen, autoritären und aggressiven Agenda.

Radikalisierung der neoliberalen EU-Agenda

Wirtschaftspolitisch will die EU demnach weiter die Agenda von „Jobs, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ verfolgen. Diese Schlagworte standen bereits im Zentrum der politischen Reaktionen der EU auf die Krise (ESM, Fiskalpakt etc.). Faktisch handelt es sich um eine Verarmungs- und Rezessionspolitik, die auf neoliberalen Strukturreformen, Privatisierung und Sozialabbau beruht. Um diese Agenda weiterzuentwickeln sollen u.a. der gemeinsame Binnenmarkt weiter vertieft und ein „Klima des Unternehmergeistes“ gefördert werden. Die wirtschaftspolitische Koordination soll weiter verstärkt und transnationale Wirtschaftsabkommen wie TTIP (mit den USA) sollen rasch verabschiedet werden. Einer Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, wie von Frankreich und Italien in die Debatte gebracht, erteilt der Rat eine Absage. Weitere „Strukturreformen“ sollen forciert werden.

Dieser Teil der strategischen Agenda ist ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung und Intensivierung der bisherigen, neoliberalen und sozial desaströsen EU-Wirtschaftspolitik sowie zu weiteren Stärkung undemokratischer EU-Strukturen.

Auch im Bereich der Sozialpolitik sieht der Rat Handlungsbedarf: „Die Europäer haben von den Chancen profitiert, die integrierte Volkswirtschaften mit offenen Grenzen bieten, aber die Vorteile sind nicht immer für alle unmittelbar spürbar.“ Ja, für jene 60% der jungen SpanierInnen und GriechInnen, die weder Job noch Perspektive haben, für die 300.000 zwangsgeräumten Familien, für die über 800.000 Arbeitslose in Griechenland, die über keinerlei Krankenversicherung mehr verfügen und für die Millionen prekär im Niedriglohnsektor beschäftigten Deutschen sind die Vorteile der ganzen Veranstaltung wohl nicht „immer unmittelbar spürbar“.

Ähnlich zynisch wie diese Lagebeschreibung ist der angestrebte Ausweg: Die Mobilität der Arbeitskräfte soll befördert werden, sprich: Junge Menschen ohne Jobperspektive im eigenen Land sollen in andere EU-Länder auswandern. Die Folge liegt auf der Hand: In den südeuropäischen Ländern wird die wirtschaftliche Entwicklung weiter gebremst, weil die Fachkräfte fehlen. Im Norden werden die Löhne gedrückt, weil die Konkurrenz um Arbeitsplätze zunimmt. Die viel gepriesene Personenfreizügigkeit im gemeinsamen Binnenmarkt soll also weiter im Sinne wirtschaftlicher Interessen ausgebaut werden – um gleich dort wieder eingegrenzt zu werden, wo diese Interessen nicht bedient werden. So soll „das Recht der Bürger, sich frei zu bewegen“ dadurch erhalten werden, dass es vor „Missbrauch oder betrügerischer Geltendmachung von Ansprüchen“ geschützt wird. Auf Bayerisch: „Wer betrügt, der fliegt“.

Beachtenswert ist auch die genannte Priorität, die Sozialsysteme „effizient, fair und zukunftsfähig“ zu machen. Vom EU-Sprech ins Deutsche übersetzt heißt das in etwa: mehr Zugang für private Anbieter zu sozialen Versicherungsdienstleistungen, stärkere Koppelung der Sozialleistungen an vorherige Erwerbstätigkeit, insgesamt niedrigere Leistungen.

Abschottung und Aufrüstung

Bezüglich der Rolle der EU in der Welt fokussiert die Strategie darauf, “mehr Stärke” aufzubauen. Drei strategische Elemente sind dabei hervorzuheben: mehr Abschottung nach außen; ein neuer Sicherheits- und Terrorismusdiskurs; eine koordinierte Aufrüstungspolitik:

Abschottung: Während man gezielt Fachkräfte anwerben will, soll „irreguläre Migration entschiedener angegangen“ werden. Was das heißt, deuten die Gipfelbeschlüsse bereits an. So soll bspw. Frontex „als ein Instrument europäischer Solidarität“ (sic!) seine Aktivitäten intensivieren. Zudem soll das „Grenzmanagement auf eine kosteneffiziente Weise modernisiert“ werden (Schlussfolgerungen, Absatz 9). Beides deutet darauf hin, dass Flüchtlingsströme noch aggressiver geblockt und das Humanität im Mittelmeerraum ein noch geringeres Gewicht bekommen sollen.

Sicherheitsdiskurs: Das Strategiepapier widmet der Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität viel Aufmerksamkeit. Als passende Antwort auf derartige „Bedrohungen“ wird u.a. eine stärkere juristische Harmonisierung präsentiert. Einige Mitgliedsstaaten sind bereits in den letzten Jahren zu einem deutlich autoritäreren Regierungsstil übergegangen und haben Gesetze erlassen, die regimekritische Proteste kriminalisieren und die OrganisatorInnen mit drakonischen Strafandrohungen abzuschrecken versuchen. Der gegenwärtige strategische Ansatz der EU zielt offenbar darauf ab, dieses Vorgehen zu europäisieren. Dies passt gut zum Prozess der autoritären Transformation der bereits im Zuge der Finanzkrise begonnen hat.

Aufrüstung: Ein neuer Aufrüstungsdiskurs wurde im Kontext des Ukraine-Konflikts bereits begonnen. Unmissverständlich war auch die Marschrute, die Bundespräsident Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz vorgab, als er forderte, dass Deutschland wieder mehr Verantwortung übernehmen solle. Nun wird es offizieller Bestandteil der EU-Strategie, die Rüstungsindustrie zu stärken, die „militärischen Fähigkeiten“ auszubauen und die Kräfte der Armeen stärker zu bündeln. Spätestens mit diesem Papier hat die EU den Anspruch, eine Friedensmacht zu sein, endgültig verwirkt.

Ein weiterer strategischer Schwerpunkt liegt im Bereich der Energiepolitik. Dabei wird vor allem darauf abgezielt, mehr Unabhängigkeit zu erreichen. Hierzu soll die Energieversorgung diversifiziert und die Effizienz erhöht werden. Zugleich soll die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie durch niedrige Energiepreise gesichert und die unterstellte Führungsrolle der EU in Sachen Klimaschutz behauptet werden.

Fracking und Atomkraft könnten so an Bedeutung gewinnen werden. Dazu passt auch die erneute Benennung von Günther Öttinger als Energie-Kommissar. Zugleich könnten Investitionen in erneuerbare Energien Teil dieser Strategie werden. Zu befürchten ist indes, dass das deutsche Modell der massiven Subvention von Unternehmen zu Lasten der Haushalte europaweit an Bedeutung gewinnt.

Fazit

Mit dieser Strategie für die kommenden fünf Jahre intensiviert die EU ihren aggressiven, anti-demokratischen und neoliberalen Kurs. Deutlich wird einmal mehr, dass ein soziales, friedliches und demokratisches Europa nicht in der EU, sondern nur gegen sie durchgesetzt werden kann.

Dieser Beitrag erschien am 28. Juni 2014 im Blog "transit europe". Steffen Stierle ist Volkswirt und Mitglied von Attac. Er engagiert sich in der Attac-Projektgruppe "Eurokrise".