Lieferketten-Kapitalismus
Globale Lieferketten sind in der Pandemie zumindest zeitweise unterbrochen worden; Engpässe und verzögerte Lieferungen haben Zweifel an der Versorgungssicherheit gesät. Es besteht die Vorstellung, Lieferketten seien ein „gigantisches weltweites Förderband“, „bei dem zunächst Rohstoffe und Energie aufgeladen, unterwegs in Güter verwandelt und hinten als Geld einerseits und Müll andererseits wieder abgeladen werden.“ Dieses weltweite Förderband stottert. Just-in-Time-Lieferungen kommen out of time, notwendige Güter für das Gesundheitswesen, wie Medikamente, Masken, Schutzkleidung, Gerätschaften bleiben aus, Regale leer und Beschäftigte im globalen Süden verlieren Arbeit und Lohn.
Das „Förderband“ Lieferkette bewegt die Güter von der Rohstoffgewinnung zu den Verbrauchern. Der Ausdruck „Wertschöpfungskette“ benennt diesen Güterstrom unter dem Wertgesichtspunkt. Das Geld strömt in die Gegenrichtung, von den Verbrauchern zu den Produzenten.
„Globalisierung der Lieferketten“ meint ihre Ausdehnung über die Staatengrenzen hinaus. Handelspolitik nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) verwandelt die beteiligten Staaten in „Standorte“, die miteinander im Wettbewerb stehen. Die Europäische Union verlangt in ihrer Handelspolitik den unbeschränkten Zugang zu Rohstoffen ihrer Handelspartner, z.B. durch die Abschaffung von Exportbeschränkungen. Lieferketten werden darüber hinaus durch die Standorte gelenkt, in denen die Anforderungen an Umweltschutz und Löhne niedrig sind und die Infrastruktur gute Bedingungen bietet. Das Bestreben der Staaten ist, die Lieferketten durch den eigenen Standort zu lenken, möglichst mit den jeweils höherwertigen Wertschöpfungen. So ist der natürliche Reichtum eines Landes der Beginn einer Kette und häufig Anlass für die Verwüstungen der Natur durch Rohstoffförderung oder für ausgeräumte Landschaften durch Monokulturen der Agrarindustrie.
Diese niedrigste Stufe der Wertschöpfung und auch die Weiterverarbeitung als zweite Stufe bringt den Beschäftigten, wie Landarbeiter:innen, Näher:innen, Monteur:innen und Seeleuten, keine existenzsichernde Entlohnung. Die „verlängerten Werkbänke“ der Textilindustrie und Montagewerke erhöhen das Bruttoinlandsprodukt (so in einigen asiatischen Ländern, z.B. China, Taiwan), sie sind aber in der Regel eine Sackgasse, wenn es nur dabei bleibt (z.B. wie in Kambodscha) oder gar nur Rohstoffe geliefert werden. Dann bleibt auch der Anreiz für höhere Qualifikationen für die Jugend aus. Auf einer dritten Stufe sind qualifiziertere Tätigkeiten in Forschung und Entwicklung, z.B. von Software und Marketing häufiger, die auch besser bezahlt sind.
Der Geldstrom der Wertschöpfung fließt um so spärlicher, je näher er an den Anfang der Lieferkette kommt, ein typisches Merkmal des „Lieferkettenkapitalismus“ Die Lieferkette verbindet produzierendes Kapital mit weiteren, formell selbstständigen Akteuren bis zu Menschen in informellen Beschäftigungen (z.B. Kinderarbeit in Afrika).
Betrachtet man die beteiligten Unternehmen, so verläuft etwa ein Drittel der Lieferketten innerhalb global agierender Konzerne, ein weiteres Drittel zwischen transnationalen Unternehmen und nur das restliche Drittel ist von kleineren und mittleren Unternehmen aufgebaut.
Käufer- oder Produzentenfirmen erstrecken ihre Macht über die gesamte Lieferkette und erzielen damit erheblich höhere Profitraten. Das gilt sowohl in traditionellen "käufergesteuerten Ketten" (wie z. B. der Konfektionsbranche, Möbel und Spielzeug) als auch bei "produzentengesteuerten Ketten" (z. B. Elektronik, Autos und Smartphones). Das ist eine Folge der vielfältigen Anforderungen an die Organisation einer Lieferkette, wie eine umfangreiche Literatur zum Management unter den Überschriften „supply chain mangement“ oder „sustainable supply chain management“ deutlich macht. Die aktuelle Situation in der Pandemie zeigt es, wenn es gilt, Unterbrechungen zu organisieren oder wieder aufzuheben und dabei die eigenen Erträge zu sichern.
Das Verhalten, die Wettbewerbsfähigkeit und die Geschäftspraktiken von Zulieferfirmen werden durch Lieferverträge, das Gesellschaftsrecht in den Heimatstaaten der Käuferfirmen, Vorschriften oder Verhaltenskodizes, private Industriestandards,3 und weitere Vorgaben geregelt. Die dominierenden Firmen einer Kette im globalen Norden verfügen über „geistiges Eigentum“, wie Lizenzen, Logos, rechtlich geschützte Geschäftsgeheimnisse, Patente und Marken. „In den USA und England übersteigen die Investitionen in immaterielle Güter mittlerweile die in Sachgüter“, stellt Katharina Pistor in „Der Code des Kapitals“ fest.
Die WTO-Regeln und die Handelspolitik der Staaten begünstigen diese Dominanz und die Standortkonkurrenz der Staaten erlaubt ihnen, die Profite mit minimalen Steuerpflichten zu organisieren. Die Zulieferer sind regelmäßig in einer schwachen Position, weil sie den Regeln der Auftraggeber unterworfen sind, die auch auf andere lokale Zulieferer oder solche in anderen Teilen der Welt zurückgreifen können. Beispiele sind Kaffee, Kakao oder auch Baumwolle, die bei hohen Preisen durch Chemiefasern ersetzt wird. Der Anfang der Lieferkette besteht aus Kindern, die Seltene Erden in Eimern anliefern oder Kakaobohnen ernten; Kleinbauern z.B. sind unmittelbare Produzenten, die auch kein „Kapital“ verwerten.
Friederike Spiecker hält den Schutz von Menschenrechten und Umwelt durch ein Lieferkettengesetz nur für möglich, wenn die Löhne mit der Arbeitsproduktivität steigen ( „goldene Lohnregel“). Dominante Unternehmen in der Lieferkette ziehen aber die Wertschöpfung so sehr an sich, dass für die Steigerung der Produktivität im Globalen Süden nicht viel bleibt.
„Lieferketten“ sind weniger linear, wie der Ausdruck nahelegt, vielmehr bilden sie ein Netzwerk von Produktionsstätten und Transportverbindungen. Unternehmen gliedern einzelne Geschäftsaktivitäten aus (Outsourcing), „sie verringern die Fertigungstiefe“. Das ist möglich, weil die Auftragnehmer sich spezialisieren oder mit geringeren Löhnen oder sonstwie kostengünstiger arbeiten können. Transporte in der Containerschifffahrt kosten fast nichts mehr, wenn man die Kosten auf die transportierten Stückzahlen oder Gewichte bezieht; und die Digitalisierung erlaubt die sichere Koordination dieser Prozesse, die Just-in-Time Produktion schaltet die Lagerkosten aus. So haben End-Produkte regelmäßig riesige Strecken zurückgelegt, bevor sie an der Ladentheke landen (Jeans z.B. 50 000 km, Erdbeer-Yoghurt 6000 km).
Mittlerweile lässt sich seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007 eine verlangsamte Globalisierung (Slowbalisierung) beobachten. Der Warenverkehr wuchs, aber langsamer als die globale Wirtschaftsleistung. Es gibt Störungen mit steigender Tendenz in der Lieferkette. Die Industrie plant die Rückverlagerung der Produktion (reshoring) dennoch nur, wenn die Automatisierung das ohne zusätzliche Beschäftigung möglich macht.
Technische und organisatorische Innovationen finden in aller Regel in den regionalen Konzentrationen von Unternehmen sowohl gleicher als auch verschiedener Branchen
statt, wie z.B. im Rhein-Ruhrgebiet oder im Silicon Valley. Die unmittelbaren Produzenten in Textilfabriken, Minen, Steinbrüchen oder auf Baumwollfeldern, Bananen- oder Kakaoplantagen haben kaum Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. Der Wert ihrer Produkte sinkt fortlaufend, Lohnsteigerungen begünstigen unmittelbar die Wettbewerber im globalen Süden und unterbleiben daher. Mindestlöhne werden regelmäßig unterschritten. Eigene Innovationen eines Konzerns in Form von Verbesserungen der Produktionsprozesse, der Arbeitseffizienz oder der Qualifikation der Arbeiter:innen werden im Wettbewerb über die globalen Ketten verteilt und stärken damit nicht die Position der Produzenten von Agrargütern und anderen Vorprodukten
Lieferketten werden nicht nur durch Handels- und Investitionsschutzabkommen abgesichert, sondern eventuell auch militärisch: Nachdem Alt-Bundespräsident Köhler in einem Interview auf die Notwendigkeit militärischer Einsätze zum Schutz freier Handelswege hingewiesen hatte und sich zu Unrecht dem Vorwurf ausgesetzt sah, mit der Aussage gegen die Verfassung zu verstoßen, war er Ende Mai 2010 zurückgetreten.
Nicht erst das Weißbuch der Bundeswehr von 2016 sieht jedenfalls die Notwendigkeit zu einem militärischen Schutz „unserer“ Lieferketten. Danach hängen Wachstum und Wohlstand von der ungehinderten Nutzung „globaler Informations-, Kommunikations-, Versorgungs-, Transport- und Handelslinien sowie von einer gesicherten Rohstoff- und Energiezufuhr ab. Eine Unterbrechung des Zugangs zu diesen globalen öffentlichen Gütern zu Lande, zur See, in der Luft … birgt erhebliche Risiken für die Funktionsfähigkeit unseres Staates ...“ Bedeutsam sei, dass verschiedene Staaten in Fähigkeiten investierten, Dritten den Zugang zu bestimmten Regionen zu verwehren. Die Verringerung von solchen Abhängigkeiten könnten den militärischen Aufwand sehr vermindern.