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Aufruf des wissenschaftlichen Beirats von Attac

 

Stoppt die neoliberale Krisenpolitik – enteignet die Krisengewinner!

Wir erleben die tiefste Krise des Kapitalismus seit der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre – und die europäischen Regierungen gießen ständig weiteres Öl ins Feuer! Besonders die deutsche Regierung hat eine solidarische Lösung der Krise in Europa von Anfang an verhindert und ist maßgeblich für ihre Verschärfung verantwortlich. Im Herbst 2008 blockierte sie ein substanzielles Konjunkturpaket auf europäischer Ebene. Kaum war der Tiefpunkt der Rezession in Deutschland im Jahr 2009 erreicht, predigte die Bundesregierung, nun sei eine harte Sparpolitik notwendig. Die „Schuldenbremse“ wurde im Grundgesetz verankert: Eine von neoliberaler Ideologie geprägte Selbstentmachtung der Politik. Die Sparmaßnahmen der Bundesregierung trafen vor allem die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, während die Reichen, die Banken und Konzerne ungeschoren davon kamen. Im Frühjahr 2010 blockierte die Bundesregierung lange die Hilfe für Griechenland, so dass der Anstieg der griechischen Staatsverschuldung sich beschleunigte und eine Lösung dieser Krise immer schwieriger und immer teurer wurde. Die Kreditzusagen für Griechenland und andere Krisenländer wurden mit unsinnigen Auflagen verbunden, die die Krise weiter verschärfen mussten. So trägt beispielsweise die Senkung des griechischen Mindestlohns nicht zur Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ bei, da das Land ohnehin kaum über international konkurrenzfähige Industrien verfügt. Stattdessen zerstört die Senkung des Mindestlohns weiter den griechischen Binnenmarkt, im Ergebnis brechen die Steuereinnahmen weg und die Staatsverschuldung steigt weiter an. Das Beispiel macht deutlich: Die gegenwärtige Krisenpolitik schreibt die Umverteilung von den Lohnabhängigen zu den Kapitaleignern ohne Rücksicht auf gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen fort. Die griechischen Löhne sind bereits um 20-30% und mehr gesunken, Hunderttausende verlieren ihren Arbeitsplatz, mehr als 10.000 Schulen wurden geschlossen, Krankenhäuser bekommen keine Medikamente mehr, Kinder hungern. Ähnliche Entwicklungen drohen auch in Portugal und weiteren Ländern Europas.

Die neoliberale Politik, deren Scheitern in der Krise offenkundig wurde, wird nochmals radikalisiert. So zielt der „Fiskalpakt“, den die Staats- und Regierungschefs von 24 Staaten der Europäischen Union am 2. März 2012 beschlossen haben, darauf ab, die neoliberale Sparpolitik für alle Zukunft gesetzlich festzuschreiben. Eine „Schuldenbremse“ nach dem deutschen Vorbild soll europaweit verankert werden. Staatliche Haushaltsdefizite sollen zukünftig auf maximal 0,5% des Bruttoinlandsprodukts begrenzt werden. Was dabei übersehen wird: Schon der in den 1990er Jahren vereinbarte „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, der noch ein Haushaltsdefizit von 3% des Bruttoinlandsprodukts zugelassen hat, hielt der Realität einer von Krisen geprägten kapitalistischen Gesellschaft nicht stand. Das Defizit von 3% wurde regelmäßig überschritten. Doch der „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“, wie der Fiskalpakt offiziell heißt, ist mehr als das Resultat der realitätsfremden Spinnerei neoliberaler Ökonomen und Politiker. Weitere Wellen der Privatisierung, der Vernichtung von Arbeitsplätzen, der Einschränkung öffentlicher Dienstleistungen, des Sozialabbaus und der Lohnsenkung sind europaweit vorprogrammiert. Und das alles, um die Profite einer kleinen Gruppe von reichen Vermögensbesitzern zu sichern.

Die europäische Krisenpolitik führt zu einer zunehmenden Aushöhlung und Entwertung der Demokratie. Nicht zuletzt durch internationalen Druck wurden Regierungen in Griechenland und Italien abgesetzt und durch Regierungen von „Technokraten“ ersetzt, um „die Märkte“ zu beruhigen. Diese Regierungen treffen weit reichende Entscheidungen, ohne durch Wahlen legitimiert zu sein. Eine angekündigte Volksabstimmung zur Sparpolitik in Griechenland wurde auf Druck herrschender Kräfte kurzerhand wieder abgesagt. Wahlen werden sinnlos, wenn die großen Parteien wie zuletzt in Portugal und Spanien im Wesentlichen die gleiche Politik vertreten. Kompetenzen werden von der nationalen auf die EU-Ebene verlagert, ohne dass eine adäquate demokratische Kontrolle der Tätigkeit von EU-Institutionen wie der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank oder des Europäischen Gerichtshofs möglich ist. Wir beobachten mit großer Sorge das Erstarken nationalistischer, rassistischer und faschistischer Kräfte in verschiedenen Ländern Europas.

Doch die herrschende Politik ist nicht alternativlos. Eine substanzielle Alternative ist allerdings nur möglich, wenn die Ursachen der Krise richtig erkannt werden. Die staatliche Verschuldungskrise ist nur ein Aspekt der gegenwärtigen Krise in Europa. In ihr überlagern sich die Widersprüche der europäischen Integration (ungleiche Entwicklung, gemeinsame Geldpolitik ohne gemeinsame Lohnpolitik, Steuerpolitik und Industriepolitik) mit einer strukturellen Überakkumulation von Kapital. Es gibt zu viel Kapital, gemessen an den Möglichkeiten, Arbeit und Natur noch weiter auszubeuten.
Eine alternative Strategie der Krisenbekämpfung müsste zunächst folgende Elemente umfassen:

Keine Ratifizierung des Fiskalpaktes

Der Fiskalpakt bedeutet eine weitere Entdemokratisierung, schreibt neoliberale Politik fest und verschärft die Krise.

Streichung der Staatsschulden

In einem öffentlichen Schuldenaudit muss geklärt werden, wie die Schulden zustande gekommen sind und wer die Besitzer der Staatsanleihen sind. Die Schulden der einen sind das Vermögen der anderen. Die Ersparnisse und Rentenansprüche der breiten Masse der Bevölkerung müssen gesichert werden, doch die Zins- und Tilgungsansprüche der Reichen, der Banken, Hedge Fonds und Konzerne müssen annulliert werden.

Vergesellschaftung der Banken

Banken, die mit öffentlichen Geldern gerettet werden, müssen vergesellschaftet werden. Banken, die „to big to fail“ sind, müssen entflochten werden.

Radikale Umverteilung von Einkommen und Vermögen

Wir benötigen eine Finanztransaktionssteuer, eine Steigerung der Steuern auf Kapitalerträge, eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine weitaus stärkere Progression in der Einkommensteuer, um zu einer nachhaltigen Finanzierung der Staatsausgaben zu gelangen, die öffentlichen Dienstleistungen auszubauen, die Sozialleistungen zu erhöhen und sozial und ökologisch notwendige öffentliche Investitionen zu ermöglichen sowie die globale Armut zu bekämpfen.

Überwindung der Massenarbeitslosigkeit

Die Massenarbeitslosigkeit, Niedriglöhne und Lohnsenkungen sind wichtige Gründe für die sinkende Lohnquote und die Entstehung von überschüssigem Kapital, das den Finanzsektor aufbläht. Schluss mit der Manipulation der Arbeitslosenstatistik. Die Massenarbeitslosigkeit kann nur durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung beseitigt werden.

Demokratisierung der Demokratie

Die Demokratie muss auf allen Ebenen, insbesondere auf der europäischen Ebene gestärkt werden. Sie muss auch den Bereich der Wirtschaft umfassen. Es kann nicht sein, dass die Demokratie an den Werkstoren und vor den Banken endet und dass eine kleine Gruppe privat über den Produktionsapparat verfügt, von dessen Entwicklung das Leben der Menschheit abhängig ist.

Der „arabische Frühling“, die Bewegung der „Empörten“ in Spanien, die zahlreichen Streiks und Demonstrationen in Griechenland sowie die von den USA ausgehende weltweite „Occupy“-Bewegung haben Mut gemacht. Es ist höchste Zeit, die Proteste zu verstärken und auch dorthin zu tragen, wo die europäische Krisenpolitik maßgeblich bestimmt wird. Der wissenschaftliche Beirat von Attac ruft daher zu den globalen dezentralen Protestaktionen am 12. Mai sowie zu den europäischen Protestaktionen, die am 17.-19. Mai 2012 in Frankfurt am Main stattfinden werden, auf.