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Profite zuerst: Wie Deutschland und die EU Patente verteidigen und die Pandemie verlängern

Mit ihrer Weigerung, geistige Eigentumsrechte auszusetzen und das Produktionswissen von Pharma- und Medizinkonzernen international zu teilen, verlängert die Bundesregierung die Coronapandemie. Nachdem die USA nun einen Kurswechsel vollzogen haben und eine Aussetzung von Impfstoffpatenten in der WTO unterstützen, bleibt die EU das Haupthindernis für eine solidarische Pandemiebekämpfung. Da Deutschland der gewichtigste Player in der EU ist, braucht es jetzt öffentlichen Druck, um die Blockade durch Union und SPD zu brechen.

Weltweit wurden bisher rund 1,4 Milliarden Impfdosen gegen Covid-19 verabreicht, doch nur 0,3 Prozent davon in Niedrigeinkommensländern. Während in wohlhabenderen Staaten die Impfungen voranschreiten, gibt es in einigen ärmeren Ländern bisher noch überhaupt keine Impfungen. Nach jetzigem Stand wird daher in einem großen Teil der Welt erst ab 2023 eine ausreichende Immunität der Bevölkerung erreichbar sein, in einzelnen Ländern möglicherweise noch später.

Auf die Wartebank der Weltgemeinschaft werden vor allem Menschen in Südasien, Afrika und Lateinamerika abgeschoben. Unter den derzeitigen Bedingungen dürften daher zu den bisher über 3,2 Millionen bestätigten Corona-Toten noch weitere Millionen hinzukommen. Allein in Indien könnten nach Projektionen des amerikanischen Institute for Health Metrics and Evaluation zwischen Mai und September 2021 eine Million Menschen an Covid-19 sterben.

Politik der Verknappung

Mit ihrer politischen Blockade einer Produktionsausweitung für Impfstoffe, Tests, Medikamente und andere Güter tragen mehrere Industriestaaten zu einer Verlängerung dieses Leids bei, vorneweg die Europäische Union. Auch die Bundesregierung hat die erforderliche Kapazitätsausweitung im In- und Ausland aktiv behindert – und sie tut es noch immer, wie ihre beharrliche Weigerung der Freigabe von Impfstoffpatenten zeigt. Damit aber verschärft sie eine Mangelsituation, die es Pharmakonzernen erlaubt, ihre Preise und Profite in die Höhe zu treiben.

Zwar hat die Bundesregierung mit dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz vom März 2020 die rechtliche Möglichkeit für eine rasche Produktionsausweitung geschaffen, doch hat sie die bis heute nicht genutzt. Seither nämlich könnte das Gesundheitsministerium sogenannte Benutzungsanordnungen nach dem Patentgesetz erteilen. Mittels solcher Anordnungen dürften die Gesundheitsbehörden Unternehmen mit der Produktion von Impfstoffen, Tests, Medikamenten oder Technologie beauftragen, ohne dass die Inhaber der jeweiligen Patente dies verhindern könnten.

Eine Benutzungsanordnung bietet zudem die Möglichkeit einer weit schnelleren Produktionsausweitung als die ebenfalls im Patentgesetz vorgesehene Zwangslizenz. Die nämlich müsste ein interessiertes Unternehmen erst vor dem Bundespatentgericht erstreiten, nachdem es zuvor erfolglose Verhandlungen mit patenthaltenden Firmen geführt hat.

Staatliche Subvention privater Monopole

Doch statt ihre rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, überließ die Bundesregierung die Impfstoffproduktion gänzlich den Pharmafirmen, was die Mangelsituation verschärfte und in Deutschland wie auch im Ausland zu massiven Verzögerungen der Impfkampagnen führte. Mehr noch: Die Bundesregierung förderte die Impfstoffproduktion mit rund einer Milliarde Euro, verzichtete jedoch auf verbindliche Auflagen gegenüber den geförderten Unternehmen, ihre Technologie, ihre Daten und ihr Know-how international zu teilen.

So legte das Forschungsministerium im Juni 2020 ein Förderprogramm über 750 Millionen Euro auf, aus dem BioNTech, CureVac und IDT Biologika für die Impfstoffentwicklung und -produktion subventioniert wurden. Weitere 230 Millionen Euro mobilisierte das Forschungsministerium für die internationale öffentlich-private Partnerschaft CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations). Diese fördert ebenfalls die kommerzielle Impfstoffentwicklung, etwa die von AstraZeneca, CureVac und Moderna.

Auch CEPI verzichtet gegenüber den geförderten Unternehmen auf Auflagen zur Teilung des Know-hows, wie die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion bestätigt: „Nach Kenntnis der Bundesregierung liegen der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations-Förderung für CureVac keine Bedingungen für internationale Technologie-Transfers zugrunde“.

Ganz ähnlich verfuhr die Regierung im Juni 2020, als sie eine Kapitalbeteiligung über 300 Millionen Euro an CureVac erwarb. Obgleich sie damit zum zweitgrößten Anteilseigner aufgestiegen war, versicherte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), die Bundesregierung werde sich aus der Unternehmenspolitik heraushalten: „Wir schreiben weder vor, wie geforscht wird, noch wie die Forschungsergebnisse verwertet werden.“

Blockade in WHO und WTO

Dieser Verzicht auf Gemeinwohlauflagen ist fatal. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte bereits im Mai 2020 ihren Technologie-Pool C-TAP ins Leben gerufen, der das freiwillige Teilen eigentumsrechtlich geschützter Informationen über Impfstoffe, Medikamente, Tests und Daten über Covid-19 ermöglichen sollte. Doch die transnationalen Pharmakonzerne blockieren C-TAP ebenso wie die schwarz-rote Bundesregierung. Vergebens versuchten WHO-Mitarbeiter:innen, Pharmakonzerne wie BioNTech, Pfizer und Moderna zur Beteiligung zu bewegen.

Die Konsequenz dieses Boykotts: Bis heute unterbleibt die erforderliche Ausweitung der medizinischen Produktion. Schlimmer noch: Aufgrund des von ihnen selbst verschärften Mangels an Impfstoffen, Tests und Masken beschränkten diverse Industriestaaten zeitweilig den Export medizinischer Güter, darunter Deutschland, Frankreich und die USA.

Ihre verantwortungslose Blockadepolitik setzten Bundesregierung und EU auch dann noch fort, als Indien und Südafrika im Oktober 2020 in der Welthandelsorganisation WTO eine befristete Aussetzung der Patentregeln beantragten. Kern des Vorschlags: Für die Dauer der Pandemie sollen bestimmte Teile des TRIPS-Abkommens zum Schutz geistiger Eigentumsrechte ausgesetzt werden, um den Technologietransfer zu erleichtern und die weltweite Produktion von Impfstoffen, Medikamenten, Tests, Schutzkleidung und medizinischen Geräten anzukurbeln.

Während dieser Vorschlag mittlerweile von über 120 der 164 WTO-Mitglieder unterstützt wird, gehören die Bundesregierung und die EU-Kommission von Beginn an zu dessen vehementesten Gegnern. Zum Zeitpunkt, als Indien und Südafrika den Vorschlag unterbreiteten, gab es rund 1,2 Millionen Corona-Tote. Jetzt, über sieben Monate später, sind weitere zwei Millionen hinzugekommen.

Impfstoffnationalismus: Schwächung von Covax

Die monatelange Blockade durch Deutschland und die EU ist besonders verwerflich vor dem Hintergrund, dass sich die Industrieländer den Löwenanteil der Corona-Impfstoffe über Vorabverträge mit Pharmakonzernen zusichern ließen. Über 9,1 Milliarden Impfdosen bestehen weltweit Lieferverträge, doch auf Niedrigeinkommensländer entfallen davon nur 270 Millionen. Manche Industriestaaten haben so viele Dosen geordert, dass sie für eine mehrfache Impfung ihrer Bevölkerung reichen würden. So bestellte die EU mehr als das Doppelte ihres Bedarfs in den Vorabverträgen.

Mit ihren Hamsterkäufen verfügbarer und künftiger Impfstoffe unterminieren die Industrieländer aber zugleich den ohnehin sehr schwachen internationalen Beschaffungs- und Verteilmechanismus Covax. Dieser ist Teil des ACT-Accelerators - eine von der WHO, der EU, Konzernen und Stiftungen im April 2020 gegründete Koalition für den Zugang zu Tests, Medikamenten und Impfstoffen. Das bescheidene Ziel von Covax: In 92 ärmeren Ländern sollen lediglich 20 Prozent der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft werden.

Die ursprüngliche Idee dabei: Wohlhabendere Länder, die über Covax Impfstoffe bestellen, sollten den vollen Preis zahlen, den Covax mit den Pharmakonzernen ausgehandelt hat, die ärmeren Länder einen reduzierten. Doch die EU und andere reichere Staaten beschafften sich die Impfstoffe lieber mittels bilateraler Verträge mit Big Pharma – und untergruben damit die Marktmacht und die Verhandlungsposition von Covax. Die Europäische Kommission drängte die EU-Mitglieder sogar dazu, auf Käufe über Covax zu verzichten. Ihre Begründung: In ihren bilateralen Verhandlungen mit den Konzernen könne sie bessere Konditionen herausschlagen.

Damit bleibt Covax hoffnungslos geschwächt, unterfinanziert und unfähig, das bescheidene Impfziel zu erreichen. Bisher lieferte der Mechanismus lediglich 59 Millionen Impfdosen an die ärmeren Länder aus. Einen weiteren Rückschlag bedeutet die Entscheidung Indiens, angesichts der katastrophalen Ausbreitung der Pandemie im eigenen Land, die Impfstoffexporte zu beschränken. Denn der mit Abstand wichtigste Covax-Lieferant war bisher das indische Unternehmen Serum Institute of India (SII), der größte Impfstoffhersteller der Welt.

EU: Die Apotheke der Reichen

Unter dem Markennamen Covishield produziert das Serum Institute in Lizenz den AstraZeneca Corona-Impfstoff. Zum Zeitpunkt der Verhängung der indischen Exportbeschränkung hatte das Unternehmen rund 64 Millionen Impfdosen exportiert, 28 Millionen davon an Covax. Mit dem Ausfall indischer Exporte wird sich vor allem die Versorgung afrikanischer Länder noch weiter verzögern.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Behauptung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die EU sei „die Apotheke der Welt“, als dreiste Anmaßung. Denn die 200 Millionen Impfdosen, die von EU-Unternehmen exportiert wurden, gingen zum größten Teil an wohlhabende Länder, vorneweg Japan, Großbritannien und Kanada. EU-Hersteller wie BioNTech sind vornehmlich die Apotheke der Reichen, wo sich höhere Profite erzielen lassen.

Anders die indischen, chinesischen und russischen Impfstoffexporte: Die nämlich erhielten ganz überwiegend Schwellen- und Entwicklungsländer. Während die indischen Exporte über Covax nach Afrika gelangten, gingen 200 Millionen Impfdosen chinesischer Produzenten unter anderem nach Indonesien, Brasilien und Pakistan. Im Fall Russlands kommen diverse Lizenzen und Technologietransfers zugunsten von Firmen in zehn Ländern hinzu, darunter Indien, Brasilien, Iran und Argentinien, um ihnen die Produktion des russischen Impfstoffs Sputnik V zu ermöglichen.

Sackgasse freiwillige Lizenzen

Die Bundesregierung gehört daneben zu den folgsamsten Propagandisten der von den Pharmamultis gestreuten Behauptung, es gebe keine ausreichenden Kapazitäten, die durch Patentaussetzung und Technologietransfers in Produktion gebracht werden könnten. Mit diesem Argument legitimieren die Pharmakonzerne ihre Praxis, nur mit einigen wenigen Herstellern Lizenzverträge abzuschließen und deren Konditionen geheim zu halten.

In diesen freiwilligen Lizenzverträgen diktieren die Konzerne, was, wo, wie viel und zu welchem Preis hergestellt wird. Ihren Lizenznehmern räumen sie häufig nur sehr begrenzte Rechte ein, etwa zur Fertigung, Abfüllung und Verpackung von Vakzinen. Einen Technologietransfer, der die Lizenznehmer zu einer eigenen Produktentwicklung befähigen würde, blockieren sie dagegen. Da durch diese freiwilligen Lizenzen aber große Teile der Welt unversorgt bleiben, flüchten sich Pharmalobbys und Bundesregierung in die Schutzbehauptung von den mangelnden Kapazitäten.  

Der Verband forschender Arzneimittelhersteller etwa erklärt: „Impfstoffproduktion lässt sich nicht über Nacht auf der grünen Wiese errichten.“ Da Fachkräfte, Kühlgeräte und Technologie „nur begrenzt verfügbar“ seien, würde eine Patentaussetzung nicht dafür sorgen, „dass auch nur eine einzige Dosis Impfstoff schneller zur Verfügung steht“. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stimmt dem Lobbyverband zu: Die Impfstoffproduktion sei „so ziemlich das Komplexeste und Anspruchsvollste“, was es im Pharmabereich gebe. Die Impfstoffe ließen sich „nicht einfach per Lizenz mal irgendwo produzieren“.

Brachliegende Kapazitäten

Doch existieren international zahlreiche Firmen, die in der Lage und bereit wären, Impfstoffe und andere medizinische Güter zu produzieren, wenn sie nur die Lizenzen und den Technologie-Transfer erhielten – und zwar in Nord und Süd. Mehrere Unternehmen boten bereits an, zugelassene Impfstoffe zu produzieren, bekamen aber keine Lizenzen von den Pharmamultis, darunter Teva in Israel, Incepta in Bangladesch, Biolyse in Kanada und Bavarian Nordic in Dänemark.

„Wir haben die Produktionskapazität und sie wird nicht genutzt“, beklagte sich ein Sprecher des kanadischen Pharmaherstellers Biolyse. Der Incepta-Vorsitzende in Bangladesch erklärte, sein Unternehmen verfüge über eine Kapazität für 600 bis 800 Millionen Impfdosen pro Jahr. Doch habe man bisher vergeblich Moderna, Johnson&Johnson und Novavax kontaktiert, um Lizenzen zu erhalten.

Auch für die moderneren Impfstoffe existieren ungenutzte Kapazitäten. So meldeten sich rund 50 interessierte Firmen für ein neues WHO-Projekt, das die Einrichtung eines oder mehrerer Transferzentren für die mRNA-Technologie plant. Diese Technologie wurde in Jahrzehnten an öffentlichen Universitäten erforscht und entwickelt, darunter in Frankreich, den USA, Kanada und Polen, und liegt den Corona-Vakzinen von BioNTech/Pfizer und Moderna zugrunde. Diese Firmen verwandelten Ergebnisse öffentlicher Grundlagenforschung in marktfähige Produkte, die sie nun exklusiv vermarkten.

Dass die mRNA-Technologie aber auch in Ländern des Südens produziert werden kann, zeigt das indische Pharmaunternehmen Gennova. Vor wenigen Wochen begann es klinische Tests zu einem gemeinsam mit dem US-Unternehmen IDT Biotech entwickelten mRNA-Impfstoff. Einer der erhofften Vorteile: Anders als BioNTechs Vakzin, das eine Ultra-Tiefkühlung erfordert, soll der indisch-amerikanische Impfstoff auch bei Kühlschranktemperatur stabil bleiben.

Doch auch für Corona-Medikamente und andere Güter liegen Produktionskapazitäten brach. So boten 21 Generika-Hersteller im Rahmen des WHO-Patentpools für Medikamente ihre Fabrikanlagen an, um Covid-19-Therapeutika zu produzieren.

USA stellen Deutschland und EU bloß

Am 5. Mai 2021 aber gerieten Bundesregierung und EU erstmals unter massiven Rechtfertigungsdruck. Denn an diesem Tag vollzog die US-Regierung eine Kehrtwende und kündigte an, eine befristete Aussetzung von geistigen Eigentumsrechten auf Impfstoffe in der WTO zu unterstützen, den sogenannten TRIPS-Waiver. Diese Ankündigung ist ein klarer Fortschritt gegenüber der Blockadepolitik der Bundesregierung und der EU, die sich nun nicht mehr hinter den USA verstecken können.

Gleichwohl bleibt die Ankündigung der US-Handelsbeauftragten Katherine Tai hinter dem Vorschlag Indiens und Südafrikas zurück. Denn der sieht zum einen die Aussetzung verschiedener Formen geistiger Eigentumsrechte vor: neben Patenten auch geschützte Programme, Datenbanken, Industriedesigns und Geschäftsgeheimnisse. Zum anderen erfasst der Vorschlag nicht nur Impfstoffe, sondern sämtliche zur Pandemiebekämpfung erforderlichen Güter wie Medikamente, Masken oder Sauerstoffgeräte.

Zudem verschärft die Regierung von Joe Biden weiterhin den globalen Versorgungsmangel durch die Anwendung des Defense Production Act – ein Bundesgesetz, das US-Unternehmen zur prioritären Versorgung des Inlands zwingt. Das aber führt zu einer faktischen Exportbeschränkung für medizinische Güter und diverse Rohstoffe, die für die Impfstoffherstellung erforderlich sind. Beim indischen Serum Institute und anderen Firmen führte diese Exportbeschränkung bereits zu Produktionsausfällen.

Die Hürden des TRIPS-Abkommens

Auch wenn die USA durch ihren Kurswechsel in der WTO nicht plötzlich vom Saulus zum Paulus mutieren, könnte eine Einigung auf eine Aussetzung bestimmter Teile des TRIPS-Abkommens dennoch ein wesentliches Hindernis der Pandemiebekämpfung aus dem Weg räumen. So entfielen möglicherweise die überaus beschwerlichen Vorschriften für die Erteilung von Zwangslizenzen.

TRIPS nämlich erlaubt Zwangslizenzen nur in begrenzten Einzelfällen, ausschließlich für patentgeschützte Güter und hauptsächlich für die Versorgung des Binnenmarkts. Zusätzlich legt das TRIPS-Abkommen Zwangslizenzen, die eine Produktion speziell für den Export ermöglichen sollen, besonders hohe Hürden in den Weg. Das aber ist fatal für die große Zahl der Länder, die über keine eigenen Produktionsstätten für unentbehrliche Gesundheitsgüter verfügen.

Mit einer Aussetzung dieser beschwerlichen TRIPS-Vorschriften wäre daher der Weg geebnet für eine leichtere Aufhebung geistiger Eigentumsrechte und die Lizenzerteilung an Hersteller in aller Welt. Regierungen und Firmen in Argentinien, Indien oder Südafrika müssten weniger Repressionen fürchten, wenn sie gegen den Willen der Pharmamultis deren Vakzine oder Medikamente vor Ort produzieren lassen. Länder ohne eigene Pharmaindustrie wären ebenfalls weniger Drohungen ausgesetzt, wenn sie die durch Zwangslizenzen produzierten Generika importieren. Nicht zuletzt würden länderübergreifende Kooperationen bei der Entwicklung und Produktion erleichtert, auch solche im Rahmen des WHO Technologiepools C-TAP.

Der TRIPS-Waiver wäre eine Art Schutzschirm gegen die Repressionen, mit denen Pharmakonzerne und Industriestaaten üblicherweise jene Länder überziehen, die geistige Eigentumsrechte beschränken. Die Druckmittel der Konzerne sind dabei ebenso vielfältig wie die der Industriestaaten. So können die Konzerne die Versorgung mit unentbehrlichen Medikamenten drosseln und Klagen vor nationalen Gerichten oder internationalen Investitionstribunalen anstrengen. Das Arsenal der Industriestaaten wiederum umfasst den Entzug von Entwicklungshilfe, Handelssanktionen, Beschlagnahmen von Transitgütern sowie Streitverfahren im Rahmen ihrer bilateralen Handelsverträge oder der WTO.

Repressionen gegen Abweichler

Dass Industrieländer, die ihnen zu Gebote stehenden Instrumente auch nutzen, haben sie in der Vergangenheit bereits bewiesen. Als Brasilien im Jahr 2000 androhte, Patente auszusetzen und Zwangslizenzen zu vergeben, um preisgünstige HIV-Medikamente vor Ort produzieren zu lassen, reichten die USA 2001 eine WTO-Klage gegen das brasilianische Patentgesetz ein. Doch dank einer internationalen Solidaritätskampagne konnte Brasilien dem amerikanischen Druck standhalten, so dass die USA ihre Klage schließlich zurückzogen.

Im Jahr 2008 beschlagnahmten EU-Zollbehörden monatelang legale Generika, die in Indien für Abnehmer in Afrika und Lateinamerika produziert worden waren und niederländische und deutsche Häfen lediglich im Transit passieren sollten. Vorwand für die Beschlagnahmen war der vermeintliche Verdacht, geistige Eigentumsrechte seien verletzt worden. Doch die den Generika zugrunde liegenden Originalpräparate waren weder in Indien noch den Abnehmerländern patentgeschützt, sondern nur in der EU.  

Ein weiteres wichtiges Druckmittel sind die regelmäßigen Berichte der EU und der USA über angebliche Verletzungen geistiger Eigentumsrechte in Drittstaaten. Die Methodik dieser Berichte ist schlicht. EU und USA sammeln die Klagen von Big Pharma ein und erstellen auf dieser Grundlage schwarze Listen von Ländern, auf die sie diplomatischen und handelspolitischen Druck ausüben. Länder, die auf diesen Listen auftauchen, müssen mit teils empfindlichen Handelssanktionen rechnen.

In ihrem Bericht vom Januar 2020 etwa attackiert die EU-Kommission zahlreiche Länder, die den Verwertungsinteressen der Pharmaindustrie Steine in den Weg legen. So prangert der Bericht Ecuador, Indien, Indonesien und die Türkei an, weil sie Zwangslizenzen anhand „vager und willkürlicher Kriterien“ erteilen würden. Brasilien wird kritisiert, weil sich die dortigen Gesundheitsbehörden einfach in den Patentschutz einmischen. Daneben beklagt der Kommissionsbericht einen mangelhaften Schutz von Testdaten bei der Arzneimittelzulassung in einer ganzen Reihe von Ländern, darunter Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Malaysia und Russland.

Union und SPD: Der harte Kern der Blockierer

Mit der Forderung nach der befristeten Aussetzung von TRIPS-Regeln erhoffen sich die 120 WTO-Mitglieder, die diesen Vorschlag unterstützen, einen Schutz vor all diesen Drohungen der EU und anderer Industriestaaten. Doch trotz der Konzession der Biden-Regierung, die nun zumindest Verhandlungsbereitschaft zeigt, halten Bundesregierung und EU unbeirrt an ihrer Blockadepolitik fest.

Bei ihrem jüngsten EU-Gipfel bekräftigten die meisten europäischen Staatschefs ihre Ablehnung des TRIPS-Waivers. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte sich kompromisslos auf die Seite der Konzerne: „Ich habe hier noch einmal deutlich gemacht, dass ich nicht glaube, dass die Freigabe von Patenten die Lösung ist, um mehr Menschen Impfstoff zur Verfügung zu stellen.“ 

Auch im deutschen Bundestag bleiben die Regierungsfraktionen auf ihrem unsolidarischen Kurs. Nur einen Tag nach der US-Ankündigung lehnten Union und SPD gemeinsam mit AFD und FDP einen Antrag der Linken ab, den WTO-Vorschlag Indiens und Südafrikas für einen TRIPS-Waiver zu unterstützen. Immerhin: Die Grünen bewiesen Anstand und stimmten für den Antrag der Linken. Wenige Tage zuvor hatten Konservative, Liberale und Sozialdemokrat:innen bereits im Europaparlament einen ähnlichen Antrag zur Unterstützung des TRIPS-Waivers abgeschmettert.

Was es nun vor allem in Deutschland dringend braucht ist Solidarität mit der großen Mehrheit der WTO-Mitglieder, die den Schutz geistigen Eigentums für die Dauer der Pandemie aussetzen wollen. Dazu muss vor allem der Druck auf die Bundesregierung, auf Union und SPD, erhöht werden. Denn die Bundesregierung stellt in der EU den mächtigsten Player da. Im Jahr der Bundestagswahl könnte die Botschaft lauten: Keine Stimme den kalten Schultern! Keine Stimme denen, die die Pandemie verlängern, indem sie Profite über Menschenleben stellen! Nur durch breiten Protest der Öffentlichkeit wird sich deren Blockade aufbrechen lassen.

Das Rezept: Patente freigeben und Wissen teilen

Doch neben einer Aussetzung des TRIPS-Abkommens der WTO bedarf es selbstverständlich weiterer Schritte. Die öffentliche Förderung der Pharmaindustrie muss an die Auflage gebunden werden, ihre Technologie und ihr Know-how international zu teilen, vorzugsweise über den Technologiepool C-TAP der WHO. Auch das dank öffentlicher Förderung generierte Wissen über mRNA-Impfstoffe ist in die dafür geplanten Technologiezentren der WHO einzubringen.

Schließlich muss auch die universitäre Grundlagenforschung an die Auflage gekoppelt werden, Datentransparenz über Forschungsergebnisse herzustellen und offene Lizensierungen zu ermöglichen. Es darf nicht sein, dass Ergebnisse öffentlicher Forschung in Exklusivlizenzen einzelner Pharmakonzerne enden, die dieses Wissen monopolisieren und zur Profitmaximierung ausschlachten. Vielmehr muss das Prinzip gelten: öffentliche Gelder für öffentliche Güter!

Das Rezept ist also einfach: Wissen und Technologien müssen international geteilt werden. Erst dann lässt sich die Produktion im erforderlichen Umfang ausweiten und der globale Mangel an Impfstoffen, Medikamenten, Schutzkleidung und Sauerstoffgeräten beseitigen. Die Aufhebung des Patentschutzes, ein TRIPS-Waiver in der WTO, ist dafür eine der Voraussetzungen.


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