Neue Klassenpolitik – Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen
Bernd Riexinger hat ein Buch über „Neue Klassenpolitik“ geschrieben. Um die Essenz vorweg zu nehmen: Er konzipiert eine Strategie für die Linke, mit der er eine überzeugende und demokratische Alternative formuliert zu den Konzepten des Linkspopulismus, wie sie etwa Chantal Move vertritt. Dabei entwickelt Riexinger seine Konzepte vor dem Hintergrund reicher praktischer Erfahrungen in sozialen Auseinandersetzungen, die er nicht zuletzt als Gewerkschaftssekretär von HBV und später Verdi sammeln konnte. Seine Überlegungen sind nicht im schlechten Sinne abstrakt-theoretisch, sondern werden erläutert, veranschaulicht und exemplifiziert an konkreten Beispielen für Klassenkonflikte und -kämpfe. „Klassen,“ werden einige Fragen, „Was ist das, ist das kein überholtes Konzept?“ Riexinger betet keinen sozialistischen Katechismus. Klasse dürfe man sich nicht vorstellen, als Millionen von Schweiß bedeckt den Männern und Frauen[1] im schmutzigen Blaumann, mit gleicher Arbeits-und Lebenssituation.
Die „ Lage der arbeitenden Klassen“, die Engels beschrieb, hat sich grundlegend geändert. Die Beschäftigungsverhältnisse haben sich ausdifferenziert. Das „Normalarbeitsverhältnis“ des männlichen Familienernährers und -Oberhauptes gibt es nicht mehr. Das ist einerseits gut, Teil der Emanzipation der Frauen, andererseits bedeutet es Prekarisierung über Leiharbeit, Minijobs, scheinselbstständige Werkverträgler, Subunternehmer und unfreiwillige Teilzeit. Riexinger belässt es nicht bei abstrakten Aufzählungen, sondern berichtet anschaulich aus der Arbeitswelt oder von der Lebenssituation seiner Nachbarin, die aus Spanien immigriert ist und sich von einem unsicheren, schlecht bezahlten Job zum nächsten hangelt. Bezieht man die Lohnunterschiede ein, die zwischen Beschäftigten in Vollzeit Arbeit bestehen, stellt sich erneut die Frage nach dem Begriff „ Klasse“. Riexinger schreibt dazu: „ Selbstverständlich vertrete ich nicht die Position: geht raus und erklärt den Leuten, sie mögen doch endlich begreifen, dass sie einer Klasse angehören und als solche kämpfen sollen. Klassenbewusstsein entsteht durch Erfahrungen und deren bewusste Verarbeitung dazu können wir einen wichtigen Beitrag leisten. ... Das heißt: die Interessen der Lohnabhängigen oder auch die der Erwerbslosen und Rentner*innen müssen gegenüber anderen Klassen in der Gesellschaft durchgesetzt werden, insbesondere gegenüber der Klasse, die über die ökonomische Macht verfügt und sie trefflich zu nutzen weiß, um politische Macht auszuüben. Sobald die Menschen ihre Interessen beispielsweise für höhere Löhne, gute Arbeitsbedingungen, bezahlbaren Wohnraum oder gebührenfreien ÖPNV formulieren und sich organisieren, um sie durchzusetzen, stoßen sie auf entschiedenen Widerstand andere Klassen und Akteure. Die Kapitalseite versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Löhne steigen oder Arbeitszeit verkürzt, Arbeit umverteilt und menschengerechter organisier wird. ... Zu begreifen, wer die Verwirklichung der eigenen Interessen und Lebensvorstellungen von Lohnabhängigen verhindert, beziehungsweise mit wem sie es zu tun haben, wenn sie sich organisieren und Ansprüche stellen, ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Kämpfe und Initiativen. Es ist auch hilfreich dafür, zu erkennen, dass die Gegner nicht die Geflüchteten, die Erwerbslosen oder die prekär Beschäftigten sind. Noch besser wäre zu verstehen, dass die unterschiedlichen Klasseninteressen von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt sind, also nicht so sehr vom Willen oder dem Charakter der handelnden Akteurin abhängig sind, sondern systemische Ursachen haben.“
Die Klasse existiert nicht aufgrund einheitlicher Lebensverhältnisse, die dann auch noch unmittelbar einheitliche Interessen oder gar ein einheitliches Bewusstsein produzieren. Es gibt nicht die Einheit der 99 %, welche die Linkspopulisten flugs am Schreibtisch produzieren. Es gibt unterschiedliche Lebenslagen, unterschiedliche Interessen und natürlich eine unterschiedliche Verarbeitung dieser Faktoren im individuellen Bewusstsein. Solidarität muss sich entwickeln, praktisch produziert werden, wo die Linke an reale, die Sektoren, Milieus und Gruppen der Klasse übergreifende Probleme und Widersprüche anknüpfen kann, und es gelingt, durchaus unterschiedliche Interessen zu verbinden — etwa wenn das Interesse von Altenpflegern an einer guten Arbeit und Bezahlung mit dem von Alten und deren Angehörigen an guter Pfelge verbunden werden kann. Deshalb spricht Riexinger von „Verbindender Klassenpolitik“. Politik und Organizing stellt die Verbindung her, die keineswegs von vornhererein oder spontan entsteht und existiert. Der „Volkswille“ des Populismus[2] existiert nicht, er muss – für die Linke mühevoll – produziert werden, sich in sozialen Auseinandersetzungen und auf vielen anderen Wegen wie kulturellen Erfahrungen, Bildung usw. konstituieren. Dabei stehen das „Produziert werden“ und das „Sich konstituieren“ in einem spannungsreichen Verhältnis, denn nichts lässt sich voluntaristisch produzieren, also weil „ die Partei“ oder die Theorie es so will. Die Verhältnisse müssen die Produktion und Konstituierung erlauben, besser noch: dazu drängen. Man kann dann trotzdem fragen, ob es den Begriff der Klasse braucht, um diese Strategie zu formulieren. Riexinger verwendet ihn wohl auch, um klarzumachen, dass es ihm um die sozialen Verhältnisse, die Arbeitsbeziehungen und die reale Lebenssituation eines großen Teils der Menschen geht. Und er antwortet so auf die Feststellung, die Linken kümmere sich vorwiegend um kulturelle Minderheiten, um Sonderinteressen einer Avantgarde, nicht um die „Lage der arbeitenden Klasse“. Obwohl es sicher große kulturelle Differenzen und Gräben gibt, viele der innerlinken Diskurse und Vorschriften auf Unverständnis stoßen, stellt Riexinger die Identitätspolitik nicht der Klassenpolitik gegenüber, sondern erläutert auch am Beispiel der Zuwanderung, dass es um das Verbindende gehen muss, um eine als Solidarität verstandene Integration, die Differenzen keineswegs nivelliert. Das klingt hier abstrakt – Riexinger macht das konkret, erläutert es an Beispielen realer Arbeitskämpfe, die ohne die Solidarität der „Konsumenten“ nicht mehr auskommen. Riexinger gelingt es damit gleichzeitig Mut zu machen angesichts einer doch für die gesellschaftliche Linke vergleichsweise düsteren Situation. Und er verweist dazu nicht auf erfolgreiche Kämpfe anderswo, auf die Gelbwesten, Corbyn oder Podemos, sondern seine Hoffnung liegt bei den lohnabhängigen Menschen hier und jetzt. So sind die knapp 150 Seiten als Lektüre zu empfehlen für einen eher grauen Sonntagnachmittag.
[1] Riexinger hätte hier um Hermaphroditen, Inter- und Transsexuelle und was es sonst gibt unter der Sonne erweitert, wobei er das sprachliche Ungetüm eines* vor dem innen nutzt, um einzubeziehen, was nur in der Schriftsprache funktioniert.
[2] Vgl dazu: www.neues-deutschland.de/artikel/1107528.linkspopulismus-caesar-und-wir.html.
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