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Der Krieg in der Ukraine - Analyse und Folgerungen

Der folgende Text wurde als Eingangsbeitrag bei der Eröffnungsveranstaltung des Frühjahrsratschlags 2022 vorgetragen und für diesen Blog geringfügig geändert.

Während ich diesen Beitrag schreibe, geht der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit all seiner Grausamkeit in die siebte Woche und ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht. Noch immer erreichen uns täglich schreckliche Meldungen und Bilder von diesem Krieg, von zivilen Opfern, von Menschen, die fassungslos in den Ruinen ihrer zerbombten Häuser umherirren oder die verzweifelt versuchen, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen. 

Auch wenn die Kriegsereignisse gefühlsmäßig schwer verkraftbar sind und auch bei uns zu Fassungslosigkeit und Ängsten führen, obwohl wir nicht direkt betroffen sind, will ich versuchen, den russischen Überfall auf die Ukraine etwas umfassender zu beleuchten. Bei den dafür notwendigen rationalen und analytischen Überlegungen sollten uns die imperialistischen Anmaßungen der russischen Regierung gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und das dadurch verursachte Leid bei der ukrainischen Bevölkerung aber stets bewusst sein.  

Globale Expansion der imperialistischen Zentren 

Der Ukrainekrieg findet im Kontext der zunehmenden imperialistischen Konkurrenz und Expansionsbestrebungen der drei Großmächte und ihrer Bündnisse statt. Attac unterstützt oder bevorzugt keine der imperialistischen Mächte bei ihren Bestrebungen, die globale Vormachtstellung zu erlangen oder wiederzuerlangen. Wir dürfen sie aber auch nicht ignorieren und müssen sie bei der Beurteilung des Ukrainekrieges mitdenken, auch deshalb, weil dieser Krieg sich zu einem weitaus gefährlicheren Konflikt zwischen den Atommächten Russland, den Vereinigten Staaten und zunehmend auch China ausweiten könnte. Deshalb einige Bemerkungen dazu.

EU, USA und NATO

Deren Expansionsbestrebungen der letzten dreißig Jahre kann ich hier als bekannt voraussetzen, ich verweise deshalb nur auf die militärischen Interventionen, unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, in Libyen, die Beteiligung am Syrienkrieg und die verstärkte militärische Präsenz im Südpazifik. 

Ein weiteres Beispiel der tendenziell aggressiven Geopolitik der USA ist der Iran. Mit dem Ausstieg aus dem Atomabkommen und dem Handelsembargo versuchen die USA, den Iran zu destabilisieren und einen Regime-Wechsel anzustoßen. Dies würde China erheblich treffen, weil der Iran ein wichtiger Bestandteil des Seidenstraßen Projekts ist und außerdem Öl an China liefert. 

Zur Expansion des Westens gehört die Erweiterung der Nato in Osteuropa. Dabei spielte auch das Drängen der neuen Mitgliedstaaten vor deren Aufnahme in die Nato eine Rolle, das mit der Begründung erfolgte, sich aus historischen und aktuellen Gründen von Russland bedroht zu fühlen. Andererseits fühlt sich Russland durch deren Nato-Mitgliedschaft bedroht. 

Wie auch immer, ich denke, es ist unter uns weitgehend unstrittig, dass der Westen nach 1991 nicht bereit war, mit Russland, mit den autonom gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken sowie den anderen Staaten des Warschauer Pakts ein gemeinsames Sicherheitskonzept zu entwickeln und dass dies ein fundamentaler und inzwischen auch viel kritisierter Fehler war. 

China

Von China, als Verteidiger des Prinzips nationaler Souveränität, erfolgten keine direkten militärischen Interventionen, aber die massive Unterdrückung von Minderheiten im Inneren, das aggressive Vorgehen in Honkong und die zunehmende Drohkulisse gegenüber Taiwan müssen an dieser Stelle erwähnt werden. Hauptsächlich geht es jedoch um Chinas ökonomische Expansion. Nicht erst seitdem China die USA vor acht Jahren im Welthandel überholt hat, ist das Land zur Weltmacht aufgestiegen und expandiert zunehmend. 

Dies wird deutlich durch riesige globale Infrastrukturprojekte wie die neue Seidenstraße, Schifffahrtsverbindungen durch den nördlichen Seeweg (Arktis) oder den Erwerb und den Bau von ausländischen Häfen (u.a. Piräus). Chinesische Firmen sind die größten Investoren in Afrika und Lateinamerika, und China dominiert das 2020 gegründete, weltweit größte Freihandelsabkommen namens "Regional Comprehensive Economic Partnership" (RCEP), das fast ganz Asien umfasst und 30 Prozent, beziehungsweise mit Indien 40 Prozent, des Welthandels abwickelt. Ihm gehören die zehn ASEAN-Staaten an (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam) sowie fünf Partnerländer des "Free Trade Agreements" (Australien, China, Japan, Neuseeland und die Republik Korea).

Die wirtschaftliche Expansion Chinas birgt aber auch erhebliches Konfliktpotenzial. Das Land dominiert den 2001 gegründeten Shanghai-Kooperationsrat (Shanghai Cooperation Organisation, SCO), dem Russland, Indien, Pakistan und die zentralasiatischen Republiken angehören und demnächst wohl auch der Iran und Afghanistan. Diese Organisation vertritt 40 Prozent der Weltbevölkerung. In ihr stimmen die Mitgliedsstaaten ihre Sicherheitspolitik ab und führen in diesem Rahmen auch jedes Jahr Militärmanöver durch, auch in den Gewässern des Südchinesischen Meeres, die von China als Interessengebiet beansprucht werden. Rechte auf diese Gewässer reklamieren aber auch die Anrainerstaaten Vietnam, Indonesien, die Philippinen, Malaysia, Brunei und Taiwan.

Im Südchinesischen Meer errichtet China bereits seit längerem Militärbasen, indem es Riffe und Atolle zu Inseln aufschüttet. Damit sollen die hier vermuteten Bodenschätze gesichert werden, außerdem sind dies ideale Stützpunkte zur Sicherung der Handelswege. Dass der Internationale Gerichtshof das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer verurteilt hat, ignoriert die chinesische Regierung.

Dieses Meeresgebiet kann jederzeit Ausgangspunkt eines globalen Konflikts werden, dies wurde zuletzt Ende 2020 deutlich, als US-Präsident Biden die von Trump 2017 eingeführten Manöver "Freedom of Navigation Operations" (FONOPs) im Südchinesischen Meer fortsetzte, womit Chinas Ansprüche auf dieses Seegebiet erneut in Frage gestellt wurden. 

Mit Japan hat China Auseinandersetzungen wegen der Senkaku-Inseln, außerdem gibt es immer wieder kleinere bewaffnete Konflikte mit Indien wegen der Himalaya-Grenze. 

Bemerkenswert ist Chinas bisherige Haltung zum Ukrainekrieg. Die chinesische Staatsführung hat die russische Aggression bisher zwar nicht verurteilt und auch nicht für Russlands Ausschluss aus dem UN-Menschenrechtsrat gestimmt, sich trotz der vielfältigen Verbindungen und der traditionellen Nähe zu Russland den russischen Rechtfertigungsversuchen für diesen Krieg aber auch nicht angeschlossen. Chinas Haltung ist insgesamt ambivalent und verfolgt das Ziel, sich alle Optionen offen zu halten. Dafür setzt die Führung auf einen multipolaren und im Vergleich zu Russland kooperativeren Umgang mit internationalen Beziehungen, bei gleichzeitiger Verstärkung seiner militärischen Präsenz. 

Russland

Russland versucht seit Putins erster Präsidentschaft im Jahr 2000, wieder global an Einfluss zu gewinnen, sowohl in den ehemaligen Sowjetrepubliken als auch darüber hinaus. Beispiele sind die militärischen Interventionen in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien, in Libyen und im Sahel (wo die Söldner der berüchtigten Wagner Gruppe operieren) sowie 2014 die Besetzung von Krim und Donbas und jetzt der Angriff auf die Ukraine.

Russland expandiert aber auch ökonomisch und verfolgt dabei eine langfristig angelegte politisch-militärische Strategie, um Zugang zu wichtigen Bodenschätzen und Märkten in Afrika zu erlangen. Dem dienen Waffenlieferungen, Sicherheitskooperationen, aber auch Infrastrukturleistungen, einschließlich dem Bau von Atomkraftwerken. 

Russland reaktiviert Beziehungen zu Ländern mit wichtigen Rohstoffen aus der Zeit der antikolonialen Befreiungskämpfe (Angola, Südafrika) und versucht, instabile Verhältnisse in afrikanischen Staaten zu nutzen, um dort wie beispielsweise in der zentralafrikanischen Republik 2018 mit Söldnern und Militärberatern Fuß zu fassen.

2019 fand auf Putins Einladung der Russland-Afrika Gipfel in Sotchi statt. Viele Abkommen, die dort angestoßen wurden, lassen sich unter der Überschrift "Waffen gegen Rohstoffe" zusammenfassen. Russland ist heute der größte Waffenlieferant des afrikanischen Kontinents.  

Motive und der Begründung des Kriegs in der Ukraine 

Bei der Expansion Russlands spielen die potenzielle Bedrohung durch die Nato und der internationale Bedeutungsverlust seit dem Ende der Sowjetunion sicher eine wichtige Rolle. Zumindest gleichbedeutend dürfte aber das bisherige Scheitern der von Putin versprochenen Modernisierung des Landes sein. Die russische Wirtschaft stagniert seit Jahren und ist geprägt durch eine extrem ungleiche Verteilung des Wohlstands. Der relative wirtschaftliche Niedergang im Vergleich zu China und den anderen kapitalistischen Zentren ist deutlich. 

Mit der Begründung, die Ukraine zu entnazifizieren, verdreht Putin nicht nur auf groteske Weise die geschichtlichen Fakten, er entwertet auch die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und verhöhnt dessen Opfer. 
Mit seinem Aggressionskrieg versucht er, von den sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten abzulenken. Vor allem geht es ihm aber um die Verwirklichung seiner großrussischen Vision und seiner Großmachtpläne, auf die er die Bevölkerung einschwört. Seine Begründung ist zwar nicht haltbar, aber es wäre ein Fehler, sie einfach abzutun. Putin ist ein skrupelloser Autokrat, er hat die Opposition und seine Kritiker*innen auf brutale Weise ausgeschaltet, inhaftiert und teilweise auch liquidiert. Er ist der Anführer des russischen christlichen Nationalismus und wird vom reaktionären orthodoxen Klerus unterstützt, mit dem er eng verbunden ist. 

Dieser sieht Russland traditionell als Ziel einer Verschwörung der globalen Elite, die unter dem Deckmantel der liberalen Demokratie und der Menschenrechte den christlichen Glauben und die russische Nation angreift. Dabei spielen die Dämonisierung von Homosexualität und Feminismus sowie die Überhöhung des Patriarchats eine besondere Rolle. So gesehen ist es auch nicht zufällig, wenn der Moskauer Patriarch Kyrill sagt, in der Ukraine finde der Kampf gegen die "Schwulen" statt. 

Von christlichen Nationalisten in der ganzen Welt bis in weite Teile der extremen Rechten wird Putin als globaler Anführer angesehen. Seine Ideologie basiert unter anderem auf dem autoritären und neoliberalen Großraumdenken des russischen Theoretikers Alexander Dugin und den Veröffentlichungen des von Putin verehrten antisemitischen Schriftstellers und Journalisten Alexander Prochanow, der ein eurasisches Weltreich propagiert. 

Putins Propaganda richtet sich aber nicht in erster Linie an den Westen, sondern appelliert im Inland an den christlichen Nationalismus und Chauvinismus mit seiner Ablehnung der westlichen Wertvorstellungen und den dortigen dekadenten Lebensweisen. 

Kurzer Exkurs zur Ukraine

Auch in der Ukraine gibt es verschiedene rechtsextreme Gruppierungen. Die einflussreichste ist das Asow-Bataillon, eine rechtsextreme nationalistische Milizgruppe, die aus ca. 2000 ideologisch hochmotivierten und bestens ausgebildeten Kämpfern besteht. Sie wurde vom ukrainischen Staat mit Panzern und Artillerie ausgestattet und in die Armee integriert. Bei ihrer Beteiligung an den Wahlen 2019 mit einer eigenen Partei erhielten sie und die gesamte ukrainische extreme Rechte allerdings nur zwei Prozent der Stimmen. 

Es ist richtig, Nationalismus und antirussische Ressentiments haben seit 2014 bis vor dem Krieg zugenommen. Auch Präsident Selenskyi hat sich wiederholt nationalistisch geäußert, niemals jedoch einen vergleichbaren nationalen Chauvinismus vertreten wie Putin. 

Der gemeinsame ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression hat sprachliche, religiöse und ideologische Trennungslinien in der zuvor fragmentierten ukrainischen Gesellschaft zumindest vorübergehend verringert. Nach Informationen auch von kritischen Ukrainer*innen war die ukrainische Gesellschaft noch nie so vereint wie jetzt. Vor allem die teilweise auch aggressiven Ressentiments gegen den russischsprachigen Teil der Bevölkerung scheinen durch dessen mehrheitliche Beteiligung am Kampf gegen die russischen Invasoren an Bedeutung verloren zu haben.

Auch die politische Linke, die vor dem Krieg versucht hat, deeskalierend zu wirken, und deshalb häufig als fünfte Kolonne Moskaus bezeichnet wurde, hat sich am Kampf gegen die russische Invasion beteiligt und dadurch an Akzeptanz gewonnen. Ob dies nur vorübergehende Erscheinungen sind und wie stark die rechtsextremen Strukturen nach dem Krieg sein werden, ist derzeit nicht absehbar. 

Unsere Haltung zum Krieg in der Ukraine

Die ukrainische Gesellschaft hat sich mit breiter Mehrheit und in großer Solidarität für militärischen Widerstand gegen die russischen Angreifer entschieden. Das Recht auf Selbstverteidigung ist ihr durch die UN-Charta gegeben. Dies haben wir zu akzeptieren, es steht uns nicht zu, der Ukraine diesbezüglich Ratschläge zu geben oder sie zu kritisieren. 

Für pazifistische Strategien gibt es keine gesellschaftlichen Voraussetzungen. Ziviler Ungehorsam oder passiver Widerstand kann dort praktiziert werden, wo kein militärischer Widerstand mehr möglich ist, dies ist ja teilweise auch geschehen. 

Unsere Haltung zum Ukrainekrieg haben wir in der Erklärung des Attac-Koordinierungskreises vom 11. März 2022 dargelegt. Seitdem haben einige ihre Haltung zur Ablehnung von Waffenlieferungen revidiert oder differenziert. Wir sind aber eindeutig gegen die Hochrüstungspläne von Bundesregierung und Nato und deren Finanzierung.

Es muss uns darum gehen, zu einer möglichst schnellen Beendigung des Krieges beizutragen mit dem Ziel, eine über die Ukraine hinausgehenden Friedensregelung zu erreichen. Dazu gehört es, den Druck auf Russland zur Beendigung des Krieges möglichst zu erhöhen, die Opposition in Russland wo immer möglich zu unterstützen, aber auch Geflüchtete und Deserteur*innen aus beiden Ländern bei uns uneingeschränkt aufzunehmen.

Praktische Ansätze dazu entstehen bisher nur langsam. Ich denke, wir sollten uns darum bemühen, sie zu unterstützen und uns daran zu beteiligen. 


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