Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde
Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass die einzelnen Themen oft recht kurz kommen. Zwar gibt es gelegentlich mehrere Texte, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Problem fokussieren, aber bei im Durchschnitt nicht einmal acht Seiten je Artikel, manche haben gar nur vier oder fünf, bleibt es dabei, dass einiges recht kurz kommt. Die Stärke des Buches, vieles anzusprechen, ist gleichzeitig seine Schwäche, vieles unvollständig zu lassen. Dieses Muster von Stärke und Schwäche zugleich wiederholt sich an anderen Punkten, ohne dass ich im einzelnen darauf zurückkommen werde, weil diese Einschätzung selbstverständlich auch eine sehr subjektive Seite in den eigenen Ansprüchen und Erwartungen hat.
Nach einem kurzen Geleitwort von Josef Schuster entfalten die Herausgeber*innen ihr schon im Titel plastisch zum Ausdruck gebrachtes Anliegen: „Während die überwiegende Mehrheit mit Solidarität und Rücksichtnahme auf besonders Gefährdete im Alltag, in der Nachbarschaft, in der Kommune oder in sozialen Netzwerken achtet, hat sich seit Beginn der Pandemie eine lautstarke Minderheit zu einer Protestbewegung entwickelt, die tägliche Regelbrüche, unsolidarisches Verhalten gegenüber Risikogruppen und überbordenden Hass auf den Staat zum Prinzip erklärt hat.“ (S. 13) „Der Schulterschluss von Esoterikerinnen aus dem grün-bürgerlichen Milieu mit Reichsbürgern und militanten Neonazis gelingt über das Feindbild „Regierung“ oder „Staat“ und im Kern antisemitische Verschwörungsnarrative.“ (S. 16)
Dabei wird sowohl durch konkrete Zahlen über entsprechend motivierte Straftaten (etwa S. 22) oder Aussagen in Umfragen als auch empirisch wie theoretisch in verschiedenen Texten herausgearbeitet, dass Antisemitismus nicht nur strukturell, sondern auch tatsächlich eine nicht unwesentliche Rolle spielt. „Dabei ist gerade der Antisemitismus das prägende gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster, das sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte zieht. „Die Juden“ sind als diejenigen markiert, derer man sich entledigen müsse, um imaginierte oder reale Problem abzuwehren.“
Diese Aussage der Autor*innen von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in München (S. 103) kann nicht ernst genug genommen werden. Im Antisemitismus verdichten sich historische Erfahrungen, bei denen nicht nur bekennende Nationalsozialisten, sondern lange vorher auch Christinnen, Arme, rebellierende Bauern, Arbeiterinnen, Gewerkschafter ganz real Juden und Jüdinnen gejagt und umgebracht haben, weil sie dachten, die seien Schuld an ihrem Elend. Auf diesem Hintergrund erhalten die Ausführungen über andere Verschwörungsmythen, die sich im zweiten Kapitel („Ideologien: Von Rassismus bis Verschwörungsglaube“) finden, eine besondere Brisanz.
Vorher waren im ersten Kapitel „Schlaglichter von Stuttgart bis Washington, D.C.“ gesetzt worden. Außer Stuttgarter „Querdenkern“, Berliner „Hygienedemonstrantinnen“ und „Wutbürgern von der B 96“ begegnen wir dort unter anderen auch US-amerikanischen QAnon-Gläubigen, deren deutsches Gegenstück im 2. Kapitel ebenfalls auftaucht. Deutlich wird, dass vielleicht subjektiv durchaus ehrlich gemeinte Versuche, Protest gegen Coronamaßnahmen als eher „linkes“ Projekt zu etablieren, von Anfang an rechte und rechtsradikale Erzählungen dominieren. An der B 96 in Bautzen steht beim wöchentlichen Protest ein Mann, der dem Reporter des Tagesspiegel sagt: „Ganz ehrlich. Das wüsste ich doch, wenn hier Rechtsradikale wären.“ Der Journalist notiert: „direkt neben ihm steht eine Handvoll Neonazis, zur anderen Seite ein Mann mit Reichskriegsflagge und Eisernem Kreuz drauf, dahinter sieht man umgedrehte Deutschlandflaggen, das AfD-Emblem, Reichsbürgersymbole.“ (S. 48) Nicht nur die Verdrängung, das bewusste Nicht-Hinschauen, die Verharmlosung rechtsextremer Symbolik und ihre Legitimation als „normale Meinungsäußerung“ funktioniert, auch die Täter-Opfer-Umkehr kommt gut voran: Sowohl der Bezug auf Sophie Scholl und die Weiße Rose (darüber Robert Andreas vom Netzwerk NSU-Watch S. 56-63) wie auf eine angebliche „friedliche Revolution 2.0“ (darüber die Ex-Punkerin Katharina Warda vom Projekt „Dunkeldeutschland“ S. 149-156) sind allgegenwärtig.
Im Dritten Kapitel, „Netzwerke“, werden und die „Akteurinnen und Akteure der neuen Allianz“ vorgestellt. Hier begegnen wir vielen alten Bekannten. Wer in der Szene der sogenannten Montagsmahnwachen durch Affinitäten nach rechtsaußen aufgefallen war, ist auch bei den Coronaleugnern wieder dabei, manchmal nochmals mit neuem Schwung versehen durch die Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015: Kilez More, Ken Jebsen und selbstverständlich Jürgen Elsässer mischen mit; die AfD ist dabei, wenn auch etwas zurückhaltend, weil auch ein Teil ihrer Klientel Angst vor dem Virus hat und Schutzmaßnahmen richtig findet; offene Neonazis von NPD, Die Rechte, III. Weg und anderen predigen den Kampf gegen das System statt nur gegen die Coronamaßnahmen, drängen aber nicht in die erste Reihe, weil ihre Positionen gehört werden; verschiedene deutsche Reiche einschließlich „König Peter I. von Deutschland“ sind involviert und aktive und ehemalige Beamte der Polizei oder anderer Sicherheitsorgane verstehen sich als aktiv für den Willen des Volkes. Aus ihren Riehen sticht besonders beklemmend Michael Fritsch heraus, der in Dortmund und Berlin gesprochen und NS-Vergleiche gezogen hat; in Berlin rief er offen zum Umsturz auf: „Nur wir, die vollziehende Gewalt, können dem Verfassungsauftrag gerecht werden und die Macht wieder in die Hände des Volkes zurückgeben.“ Er wurde suspendiert, aber vorher war er „für die Bewertung der Sicherheitsmaßnahmen einer Einrichtung der Jüdischen Gemeinde in Niedersachsen zuständig“ gewesen (S. 230).
Der Autor, der Monitorjournalist Aiko Kempen, diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Frage, was solche Verbindungen der Querdenkerszene in Polizei und Sicherheitskräfte hinein für „jene Polizistinnen und Polizisten“ bedeutet, „die Auflagen und Schutzmaßnahmen konsequent durchsetzen“ (S. 231). Vorher schon hatte Julius Geiler, freier Autor und Reporter, darauf hingewiesen, dass gelegentlich Journalist*innen „Polizeibeamte auf mutmaßliche Straftäter aufmerksam machen“ müssen (S. 219). Bei dem konkreten Vorfall ging es um einen Demonstranten, der den Polizeieinsatz störte und zu denen gehört hatte, die den Reichstag stürmen wollten. Da mag man sich zunächst freuen, dass er doch noch „erwischt“ wurde, aber was bedeutet es für zukünftige linke Versammlungen, wenn im Zusammenhang mit rechten die Polizei zu mehr Härte und mehr Eingreifen in die Demo ermuntert wird?
Auch Texte weiter hinten im Buch behandeln dasselbe Problem, ohne die von mir aufgeworfene Frage zu diskutieren. Der Geschäftsführer der Beratungsorganisation „Demokratie in Arbeit“, Stephan Anpalagan, der u. a. Für SZ, FR und ND schreibt, zeigt detailliert auf, wie die Polizei wieder und wieder rechte Demos gegen alle Auflagen verstoßen lässt, und bilanziert: „Es ist eine gefährliche Mischung aus kalkuliertem Rechtsbruch, unübersichtlichem Versammlungsgeschehen, und polizeilicher Überforderung, die sich in solchen Demonstrationen wiederholt Bahn bricht.“ (S. 311) Und Ulf Buermeyer, Vorsitzender und Legal Director der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“, schreibt: „Nichts läge dem Verfasser ferner als die Forderung, mehr polizeiliche Gewalt gegen Teilnehmende von Versammlungen einzusetzen. Indes irritiert der Eindruck, dass – jedenfalls gelegentlich – zwischen Polizeikräften einerseits und „Querdenkern“ oder gar Reichsbürgern oder Rechtsextremisten andrerseits eine Art Kumpanei herrsche.“ (S. 324)
Die „Nichts läge ferner, indes...“-Formel erscheint mir mehr als dünn für ein massives Problem. Ich selbst bin nicht nur ihm Rahmen von Blockupy in Frankfurt Objekt willkürlichen Polizeiverhaltens gegenüber Demonstrationen gewesen und bin mir sehr bewusst, dass zahlreiche massive Einschränkungen den Versammlungsrechts auf Polizeiverhalten bei Demonstrationen von Rechtsradikalen oder Fußballhooligans zurückgehen. An dieser Stelle rächt es sich, dass die Herausgeber*innen sich im Wesentlichen auf journalistische und wissenschaftliche Autor*innen beschränkt haben. Hier wäre eine Betrachtung aus aktivistischer Sicht zwingend gewesen.
Gut arbeitet indes Heike Kleffner heraus, dass es hier um eine Szene geht, deren Übergang ins terroristische Lager offen und direkt ist. Der „Terror von heute und morgen“ (S. 233-239) ist nicht zu übersehen. Auch der Blick auf „Organisatoren, Influencerinnen, Aushängeschilder“, also die Medien der „Coronakritiker und -leugner im Netz“ (Karolin Schwarz S. 201-211) ist informativ, ebanso wie der schon zitierte Artikel von Julius Geiger, der sich schwerpunktmäßig mit „verschwörungsideologischen Medien“ beschäftigt (S. 212-219). In dem Zusammenhang unbedingt zu erwähnen ist auch der Beitrag der ausgewiesenen wissenschaftlichen Fachfrauen Pia Lamberty und Katharina Nocun über „Verschwörungserzählungen während der Covid-19-Pandemie“ als „Brandbeschleuniger für die Radikalisierung“, der trotz seiner Kürze (S. 117-125) auch eine sinnvolle politische Einordnung leistet.
Im vierten Kapitel geht es um „die Angegriffenen“, die „Beleidigungen, Hetzkampagnen. Morddrohungen“ ausgesetzt sind. Hier wird zunächst eine zweite große Ausgrenzungserzählung neben dem Antisemitismus thematisiert, der Rassismus. Es wird auf „das Bild des immunen 'deutschen Volkskörpers'“ hingewiesen, „der von Parasiten, also von außen befallen und bedroht wird“, das sich als quasi natürlich „tief in den Köpfen und Institutionen“ eingenistet hat (Matthias Meisner und Carolin Wiedemann S. 246f). In einem sehr spannenden Gespräch arbeitet die MDR-Moderatorin Nhi Le mit drei asiatischstämmigen Journalistinnen heraus, wie dieser Rassismus Asiaten in besonderer Weise trifft, die einerseits regelmäßig als „Erfinder“ oder „Verursacher“ der Pandemie angegriffen werden, andererseits als besonders beherrscht, freundlich, gebildet, sozusagen „nützlich“ gelten. (S. 2549-257) Kommunalpolitiker und Journalistinnen tragen ihre Sicht von Angegriffensein in Coronazeiten in weiteren Artikeln bei.
Das letzte, fünfte, Kapitel sieht einen „großen Graben“, der „Recht, Staat und Gesellschaft in der Pandemie“ spaltet. Auch hier macht sich ein wenig Enttäuschung breit. Es hilft nicht sehr viel weiter, wenn ausgerechnet Ralf Fücks feststellt: Es sind vor allem das Generalmisstrauen in die demokratischen Institutionen, die Offenheit für Verschwörungstheorien und und das antimoderne Ressentiment, die die Corona-Protestbewegung anfällig für politische Radikalisierung machen“ (S.290), war doch gerade Fücks ein Politiker, der mit seinem Agieren am rechten Rand der Grünen dazu beigetragen hat, aus einem Hoffnungsträger eine normale bürgerliche Partei zu machen. Auch die Aussage, es sei „plausibel, diese Proteste als Bewegung strukturell der antimodernen Rechten zuzuordnen“ (Matthias Quent und Christoph Richter S. 293) bringt keine große neue Erkenntnis, auch wenn der Artikel insgesamt eine Reihe interessante Einzelfakten enthält.
Sicherlich bedeutsam ist der (sehr kurze) Text von Jost Müller-Neuhof, Mitglied des Deutschen Presserates, der auf die neuen Kommunikations- und Selbstdarstellungsformen der radikalen Rechten verweist (S. 316-319). Auch der medico-international-Aktivist Andreas Wulf stellt die vollkommen richtige Frage: Wie lässt sich also die Kritik an überbordender staatlicher Kontrolle in Pandemiezeiten anführen, ohne im Gefolge des Obskurantismus der Hobbyvirologinnen, Verschwörungstheoretiker und Impfgegner zu landen?“ (S. 327) Sein Vergleich mit der AIDS-Pandemie in den 80er-Jahren und seine Forderung nach Aufhebung des Patentsystems sind wichtig, aber vielleicht einigen schon aus früheren Veröffentlichungen bekannt.
Verlag Herder, Freiburg 2021
352 Seiten, 22,00 Euro (eBook 16,99)
ISBN: 978-3-451-39037-1 (eBook: 978-3-451-82335-0)
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