Rede von Martin Uebelacker (Attac-Rat), aus der Paulskirche vom 15.2.2020
"Guten Tag meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Peter Feldmann, liebe Freundinnen und Freunde, liebes Publikum!
Ich freue mich, heute hier in der Paulskirche zu Ihnen sprechen zu dürfen. Mein Name ist Martin Uebelacker. Seit vielen Jahren ist Attac meine politische Heimat.
Es freut mich besonders, dass wir uns heute im Rahmen der neuen Reihe zur Zivilgesellschaft mit der Podiumsdiskussion ‚Zivilgesellschaft unter Druck‘ auch Attac widmen. An diesem Wochenende feiern wir 20 Jahre Attac. Und wir feiern es im Bewusstsein, dass wir wirken, dass wir relevant sind.
Versetzen wir uns zurück ins politische Umfeld um die Jahrtausendwende. Der Machtblock des realsozialistischen Gesellschaftssystems war zehn Jahre vorher zerbrochen. Gesellschaftlicher Umbruch in vielen Ländern der Welt. Vom Ende der Geschichte war die Rede. Unser westliches kapitalistisches Gesellschaftssystem schickte sich an, den gesamten Globus zu erobern. Die neoliberale Globalisierung ist in vollem Gange.
Der Dammbruch der deutschen Außenpolitik mit dem völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz im Kosovokrieg unter einem grünen Außenminister stieß in der deutschen Zivilgesellschaft auf großen Widerstand. Die neoliberalen Reformen der Regierung Schröder brachten Hunderttausende auf die Straßen. Viele Menschen verloren Ihre politische Heimat, althergebrachte Gewissheiten stürzten ein.
In dieser unsicheren, aufgeheizten Stimmung gründete sich im Januar des Jahres 2000 das Netzwerk Attac. Vorbild war das 1998 gegründete französische Attac. Übersetzt bedeutet das Kürzel: Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger. Diese erste Forderung einer Finanztransaktionssteuer, der Tobin-Steuer, führte hier in Frankfurt zur Gründung des ‚Netzwerks zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte‘ durch etwa 100 Institutionen und Einzelpersonen. Von ver.di und der GEW über KAIROS Europa, pax christi, christliche Sozialisten, die DFG-VK bis zu Umwelt- und Entwicklungsorganisationen wie BUND, die Naturfreunde, die Informationsstelle Lateinamerika (ila) sowie medico International, um nur einige zu nennen. Alle einte das Ziel des Umdenkens und Umlenkens unserer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik: Weg vom ungezügelten neoliberalen Dogma nach Thatcher und Reagan, weg von der Ausbeutung der Länder des Südens zum Vorteil von privilegierten Gruppen in den Industrieländern, weg von der Spaltung unserer Gesellschaft durch neoliberale Verarmungspolitik, weg vom ausgeprägten Lobbyismus in der deutschen und europäischen Politik. Die internationale Vernetzung mit Attac in 40 Ländern stärkte die Bewegung. Die Forderung nach Schließung von Steueroasen, die Verhinderung von Steuerflucht und die Erhaltung der öffentlichen Daseinsvorsorge wurden Schwerpunkte unserer Arbeit. Die Abwehr von Privatisierung, ich nenne hier nur den geplanten Börsengang der Deutschen Bahn, mobilisierte Zehntausende.
Bereits im ersten Jahr kamen Tausende neuer Mitglieder hinzu. 200 Regionalgruppen entstanden. Das Bundesbüro wurde im Herzen des deutschen Finanzkapitalismus angesiedelt, hier in Frankfurt.
Bis Heute werden die Aktiven von Attac als Globalisierungsgegner verunglimpft. Wir Attacies sind jedoch keine Globalisierungsgegner, wir sind Globalisierungskritiker. Immanuel Kant sagt: 'Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.' Nicht die Abschaffung der Globalisierung überhaupt kann und darf das Ziel sein, sondern es ist die Gestaltung einer menschlichen Globalisierung, mit einer relevanten Teilhabe aller Menschen auf der Welt, sowohl im Norden wie im Süden und mit einer Durchsetzung der Menschenrechte für alle.
Attac versteht sich als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und utopischem Überschuss. Um die Welt zu verändern, muss man die Welt verstehen! Zusammenhänge müssen beleuchtet und Netzwerke gebildet werden. Hier haben wir uns in den vergangenen Jahren eine hohe Expertise erarbeitet.
Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als im Jahr 2008 die Finanzkrise mit Ihren weltweiten Verwerfungen das Finanzsystem fast zum Einsturz brachte. Nur dreistellige Milliardenbeträge aus öffentlichen Mitteln konnten das fragile Kartenhaus noch stützen. Man sah den Schrecken in den Gesichtern der weltweiten Verantwortungsträger. Kurzzeitig sah es so aus, als würden jetzt dem entfesselten Markt endlich die Grenzen aufgezeigt und strenge Regeln eingezogen. Doch schafften es die Finanzakteure im Verlauf weniger Jahre, wieder die Oberhand zu gewinnen. Unter anderem durch die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise gelang es, den schwarzen Peter anderen zuzuschieben. Austeritätspolitik und Schuldenbremse sind die Folgen.
Attac als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und utopischem Überschuss. Der Aktionscharakter von Attac zeigt sich immer dann, wenn es gilt, aktiv und kreativ, dabei aber immer friedlich, alternative Positionen zu vertreten und in die Öffentlichkeit zu bringen, Alternativen zum TINA-Syndrom (There is no Alternative), Alternativen zu einer absurden Wirtschaft und Weltordnung des ewigen exponentiellen Wachstums.
Vom G8-Gipfel in Heiligendamm bleibt mir besonders die Eröffnungsrede zum Alternativgipfel lebhaft in Erinnerung. Jean Ziegler, damals UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung hielt sie in der überfüllten Rostocker Nikolaikirche. Er begeisterte und inspirierte Alle mit seinen klaren Worten, seiner schonungslosen Beschreibung der aktuellen Lage und seiner Hoffnung. Seine Rede endete mit dem Zitat von Pablo Neruda: 'Sieh, unsere Feinde können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling brechen.'
Um seine gesteckten Ziele zu erreichen, muss man manchmal auch über den Zaun steigen. Mann und Frau muss dann die üblichen eingefahrenen Wege verlassen, muss sich über Regeln hinweg-setzen. So ein Tag war Samstag, der 18. September 2018, der 10. Jahrestag der Lehman Brothers Pleite. Vor der Frankfurter Börse kamen mehrere Hundert Attacies zu einer kreativen Aktion zusammen. Der Demozug war bunt und mitreißend, kurz gesagt, eine typische Attac-Aktion.
Über den Zaun stiegen wir nach der Aktion: Über 60 Attacies tröpfelten nach und nach als Besucher getarnt in die Paulskirche, um sich bis in diesen Saal zu begeben und dem Aufsichtspersonal zu eröffnen, dass die Paulskirche von uns besetzt sei. An dieser Stelle möchte ich nochmal dem Oberbürgermeister Peter Feldmann danken, der trotz seines damaligen Auslandsaufenthaltes in seiner klaren, besonnenen und weitreichenden Entscheidung, unsere Besetzung bis zum darauffolgenden Sonntag zu dulden, unserem Anliegen entgegenkam. Zweck der Besetzung war, Aufmerksamkeit für einen 'Diskurs um die Demokratie' zu bekommen und die Veröffentlichung der Paulskirchenerklärung, in der wir klare Aussagen im Grundgesetz in Bezug nehmen zu den aktuellen Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft. Es war eine ganz besondere Atmosphäre im Raum und für mich auch eine ganz außergewöhnliche Erfahrung, hier auf dem Podium zu übernachten, die ich nicht missen möchte. Und heute sind wir hier und diskutieren über die Zivilgesellschaft und die Demokratie.
Gerade auch nach dem kürzlichen Geschehen im Thüringer Landtag ist die Aufgabe eines entschiedenen Streitens für eine im guten Sinne freiheitliche, soziale und vor allem solidarische Gesellschaft aktueller denn je. Ein Demokratieverständnis, das Schwächere ausgrenzt, im autoritären Gewand daherkommt und auf menschenfeindliche Maßnahmen setzt, ist hochgefährlich und darf in unserer Gesellschaft keinen Raum gewinnen. Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass auch die Paulskirche bereits Ort umstrittener Ereignisse war, man denke nur an die Verleihung des Goethepreises an Ernst Jünger im Jahr 1982.
Attac als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und utopischem Überschuss. Die neoliberale Globalisierung hinterlässt die Klimakrise und soziale Verwüstungen. Doch unser utopischer Überschuss, diese kreative Kraft der Aktiven, lässt uns hoffen. Hoffen auf eine Welt des Miteinander, lässt uns neue Modelle entwickeln, Alternativen aufzeigen, Konzepte erproben und Inseln schaffen. Inseln, in denen ein anders Miteinander jenseits von Konzernlogik und kapitalis-tischer Ausbeutung Wirklichkeit wird. Wir streiten für eine sozialökologische Transformation. Kurz gesagt, hier entwickelt die Zivilgesellschaft unsere Gegenwart von Morgen. Die Regionalgruppen sind oft die Hefe, aus der weiteres zivilgesellschaftliches Engagement entsteht. Aus den Attac-Gruppen gründen sich häufig weitere Initiativen, die einzelne Themenfelder bearbeiten. Z.B. Bürgerbegehren, Forderungen nach öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, Verkehrswendeprojekte, Food-Kooperationen, Solidarische Landwirtschaft, und vieles mehr. Nicht überall, wo Attac drinsteckt, steht Attac drauf!
Attac ist relevant, Attac wirkt. Von Anfang an wurde daher versucht, unsere Aktivitäten zu behindern. So wollten wir im Jahr 2007 die Attac-Sommerakademie an der Hochschule Fulda ausrichten. Im Vorfeld der Veranstaltung bekam der damalige Präsident der Hochschule einen Wink aus Wiesbaden, er solle doch Attac seine Räume nicht zur Verfügung stellen. Kurz nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm seien Chaoten und gewaltbereite Randalierer zu erwarten. Der damalige Präsident Roland Schopf setzte sich dankenswerterweise über diesen Fingerzeig hinweg und so verbrachten über 700 Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland friedliche, spannende, inspirierende und auch unterhaltsame Tage in Fulda. Der damalige Fuldaer Oberbürgermeister Möller (CDU) sprach ein Grußwort zur Eröffnung und einer der Teilnehmer war der damals frisch bei Attac eingetretene Heiner Geissler. Die Überparteilichkeit von Attac ist eine große Stärke. So finden sich hier Attac-Mitglieder aus allen demokratischen Parteien zusammen mit vielen Menschen ohne Parteibuch, die alle an gemeinsamen Themen, Kampagnen und Zielen zur Gestaltung der Gesellschaft arbeiten.
Im Jahr 2014 wurde Attac wegen seines politischen Engagements vom Frankfurter Finanzamt die Gemeinnützigkeit aberkannt. Das Urteil des Hessischen Finanzgerichts in Kassel dazu hätte nicht eindeutiger ausfallen können: Das Gericht stellte im November 2016 fest, dass Attac sich mit seinen Aktivitäten voll und ganz im Rahmen der Abgabenordnung bewegt.
Die Richter betonten, dass politische Aktivitäten einer Gemeinnützigkeit nicht entgegenstehen, sofern sie im Gesamtkontext eines gemeinnützigen Zwecks stehen und eingebettet sind in ein umfassendes Informationsangebot. Gemeinnützige Zwecke wie Bildung, die Förderung des demokratischen Staatswesens oder Völkerverständigung seien dabei ohne Einflussnahme auf die politische Willensbildung kaum zu verfolgen. Insbesondere die gemeinnützigen Zwecke der Bildung (die auch politische Bildung umfasst) und der Förderung des demokratischen Staatswesens seien weiter zu fassen, als es das Finanzamt vertrete. Eine Revision wurde nicht zugelassen. Erst die persönliche Intervention des damaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble an das Finanzamt Frankfurt, Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einzulegen, führte dazu, dass unser Fall an den Bundesfinanzhof kam. Dieser kassierte das Kasseler Urteil und verwies den Fall dorthin zur Neuverhandlung zurück. Die nächste Verhandlung dort findet übernächste Woche, am 26. Februar statt.
Das Vorenthalten der Gemeinnützigkeit durch das Finanzamt hat erfreulicherweise auch eine große Solidaritätsbewegung ausgelöst. Dennoch bleibt es ohne diesen Status schwierig, öffentliche Räume anzumieten oder mit gemeinnützigen Stiftungen zusammenzuarbeiten.
Eine wirkliche Lösung des Problems der Gemeinnützigkeit von politischem Engagement sehen wir in einer Neufassung und Klarstellung der Abgabenordnung durch den Gesetzgeber. Um dieses Ziel zu erreichen, hat Attac mit anderen Vereinen die 'Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung' gegründet.
Und so legen wir seit 20 Jahren die Finger in die Wunden unseres Gesellschaftssystems, benennen Schwachstellen und beleuchten Machenschaften der großen Konzerne weltweit. Wir scheuen auch weiterhin nicht den Konflikt mit verantwortlichen Akteuren. Denn wir wissen: Eine andere Welt ist möglich! Vielen Dank!"
Martin Uebelacker