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Wirtschaftsnobelpreisträger lösen nicht drängende gesellschaftliche Fragen

Wissenschaftlicher Beirat von Attac lädt zu interdisziplinärem Denken einer alternativen Ökonomie ein

In Lindau treffen sich vom 19. bis 23. August 17 Wirtschaftsnobelpreisträger und hunderte Nachwuchsökonomen bei einer Tagung. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am vergangenen Mittwoch auf dem Treffen gesprochen. Anlässlich der Tagung hat der Wissenschaftliche Beirat von Attac der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftswissenschaft nachdrücklich widersprochen und Anhaltspunkte für eine alternative Ökonomie aufgezeigt.

Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Lindau forderten Vertreter des Beirats die wirtschaftswissenschaftliche Elite auf, zu einer produktiven, dem Gegenstand entsprechenden Interdisziplinarität zurückfinden und den dominierenden Marktfundamentalismus in Frage stellen. Nur so ließen sich drängende Probleme wie Handelsungleichgewichte, soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldungen oder ökologische Krisen lösen.

Dr. Silke Ötsch von der Universität Innsbruck forderte die Wirtschaftswissenschaften auf, sich ernsthaft mit dem Problem des Wirtschaftswachstums zu befassen. "Fast jedem Laien leuchtet ein, dass eine Wirtschaft in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann und dass Beteuerungen, es handele sich um qualitatives Wachstum bei zunehmendem Umweltverbrauch wenig plausibel sind. Mit Postwachstumsökonomie beschäftigen sich dennoch hauptsächlich Außenseiter. Wir brauchen dringend eine interdisziplinäre Transformationsforschung."

"Die beherrschende Wirtschaftswissenschaft hat nicht erst in der Finanzmarktkrise versagt. Der Grundirrtum ist die Annahme, sich selbst überlassene Marktsysteme würden Wohlstand erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall. Das blindwütige Profitsystem schafft immer wieder Krisen, vertieft soziale Ungerechtigkeit und zerstört die Umwelt. Die große Mehrheit der Nobelpreisträger trägt für diesen zerstörerischen Irrglauben die Verantwortung", sagte Professor Dr. Rudolf Hickel vom Bremer Institut Arbeit und Wirtschaft. Notwendig sei eine alternative Ökonomie, die die dienende Rolle der Wirtschaft für Arbeit, Gerechtigkeit und Umwelt sicherstellt.

Auch PD Dr. Ralf Ptak vom Forschungsbereich Wirtschaftswissenschaft und Ökonomische Bildung der Universität Köln hielt der Ökonomen-Elite den Spiegel vor: "Die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft hat sich zu einer monistischen Disziplin ohne sozialwissenschaftliche Bezüge entwickelt. Sie ist zu einem realitätsfernen Problemverstärker statt zu einem Problemlöser geworden. Wir brauchen mehr Pluralität in den theoretischen und methodischen Ansätzen der Wirtschaftswissenschaft."

Bei der Pressekonferenz stellte der Attac-Beirat sein Manifest von Lindau (Kurzfassung: siehe unten) vor, mit dem er den wenigen Nobelpreisträgern zur Seite stehen will, die den entfesselten Kapitalismus kritisch analysieren. Zudem kritisierte das Gremium die seit Jahrzehnten andauernde Diskriminierung von Frauen im "Nobelpreis-Männerzirkus".

Gemeinsam mit Attac Bodensee begleitet der Attac-Beirat das Nobelpreisträgertreffen kritisch mit öffentlichen Aktivitäten. Unter anderem fand am heutigen Donnerstag eine Demonstration in Lindau statt. Heute Abend lädt Attac zu einer Podiumsdiskussion mit Rudolf Hickel, Silke Ötsch und Stephan Schulmeister vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung sowie Professor Martin Hellwig vom Max Planck Institute for Research on Collective Goods und einem der wissenschaftlichen Leiter der Laureatentagung.

Der Wissenschaftliche Beirat von Attac ist ein unabhängiges, interdisziplinäres Beratungs- und Forschungsgremium, das seine Expertise in den Dienst des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Deutschland stellt. Weit über 100 ProfessorInnen, WissenschaftlerInnen und ExpertInnen aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Fachrichtungen sind sich grundsätzlich in ihrer kritischen Haltung zur gegenwärtigen Richtung der Globalisierung einig. Dies schließt Pluralismus in Methoden, Zielen und Ergebnissen sowie differierende Positionen nicht aus.

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MANIFEST VON LINDAU

Kurzfassung der Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland anlässlich der 5. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften mit 19 Nobel-Preisträgern vom 19. bis 23. August 2014

Der Wissenschaftliche Beirat von Attac Deutschland nimmt die Lindauer "Tagung der Wirtschaftswissenschaften" zum Anlass, sich mit einem Manifest zum Zustand und den Perspektiven der Wirtschaftswissenschaft zu äußern.

Seit den 1970er Jahren haben sich die Wirtschaftswissenschaften in ihrer bestimmenden Ausrichtung nicht nur von einem bis dahin u.a. keynesianisch inspirierten aktiven wirtschaftspolitischen Handeln verabschiedet und dem neoliberalen Marktdogma geöffnet. Sie haben auch ihre sozialwissenschaftlichen Wurzeln gekappt und versuchen sich seither als Leitwissenschaft zu etablieren. Das selbst von zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern der bestimmenden Lehrmeinungen kritisch beobachtete Paradoxon liegt nun darin, dass mit der kontinuierlichen Aufwertung und Dominanz der Wirtschaftswissenschaften in der Gesellschaft deren Problemlösungskompetenzen und -fähigkeit umgekehrt proportional zu sinken scheint.

Die Disziplin tendiert in ihrer tonangebenden Ausrichtung in Wissenschaft und Politikberatung seit Jahren zu einem methodischem und theoretischen Dogmatismus, der weder grundlegende Auseinandersetzungen über die Annahmen der Ökonomik noch echte Pluralität und Vielfalt in den Ansätzen zulässt. Vor diesem Hintergrund sind die etablierten Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage, eine Debatte über die notwendigen Veränderungen der Wirtschafts- und Lebensweise anzustoßen, um der sozial und ökologisch zerstörerischen Produktions- und Lebensweise entgegenzusteuern. Dabei ist der seit Jahrzehnten diskutierte fehlende Realitätsbezug ein zentrales Problem. In Folge dessen verschwindet immer mehr die Grenze zwischen den weiterhin fiktionalen bzw. stets sehr modellspezifisch gültigen Ergebnissen der überaus komplexen, wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und der Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf das reale Leben sowie deren Relevanz für die praktischen Entwicklungen und Bedingungen wirtschaftlichen Handelns auf der Welt.

Ausgestattet mit diesem Rüstzeug wird ein Klima der Unantastbarkeit geschaffen, das mit einer klaren Botschaft verknüpft ist: Wer nicht dem methodologischen Ansatz orthodoxer Ökonomik folgen kann oder will, ist weder zur Kritik berechtigt noch überhaupt in der Lage, qualifizierte Aussagen über wirtschaftliche Phänomene und Prozesse zu treffen und sollte sich deshalb tunlichst aus den ökonomischen Debatten heraushalten. Um die moderne Ökonomik zukunftsfähig werden zu lassen, bedarf es einer bewussten und grundsätzlichen Abkehr vom engstirnigen marktwirtschaftlichen Dogmatismus neoliberaler Provenienz. Das ist schwerer als es scheint, denn trotz der großen Krise hat das neoliberale Denken in Theorie und Praxis nicht nur in seinen verschiedenen Facetten von opportunistisch-dumm über dreist-unverfroren bis zu radikal-gleichgültig überlebt. Es nimmt sogar einen neuen Anlauf, um das Rad marktradikaler "Reformen" weiter und noch schneller zu drehen, wie wir etwa in der europäischen Krisenpolitik unter deutscher Führung sehen.

Stattdessen bedarf es echter Alternativen. Wir brauchen eine kritische politische Ökonomik des guten Lebens, die aus der Sackgasse neoliberaler Politik herausführt und, um mit Karl Polanyi zu sprechen, den Boden bereitet für eine neue "Große Transformation": ökonomisch-vielfältig, sozial-gerecht, ökologisch-achtsam, demokratisch-partizipativ.